Tagtigall

Rote Milch

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
12.11.2015. Sprache ist an die Wirklichkeit gebunden und gleichzeitig führt sie ein Eigenleben. Nachdenken über den inneren Zirkus der Worte.
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I.

Dieses Jahr auf der Frankfurter Buchmesse diskutierten ukrainische Autoren über Sprache und Krieg: Wie verändert sich die ukrainische Sprache in Zeiten des Krieges? Einiges wurde in der Diskussion angerissen: das Verschwinden der Adjektive, das Eindringen von Militaria in die Alltagssprache ("Bataillone der Liebe"), das rhythmische Stakkato. Beschreibungen von Blumenwiesen und blühenden Kirschbäumen, so der ukrainische Dichter Serhij Zhadan, die sich einst mit romantischen Schäferstündchen verbanden, sind für eine ganze Generation zu Bildern tödlicher Gefahren mutiert.

Auf der Biennale in Venedig schrieb Zhadan im ukrainischen Pavillon: "Die Sprache des Krieges ist trocken und amtsstubenhaft. Die Kamera fängt die ausgebrannte Technik, die zerstörten Hausaufgänge ein. Einer kommentiert etwas, ein anderer gibt Erläuterungen. Und im Hintergrund unglaublich üppiges Grün, ein wahnsinniger östlicher Sommer. In der Luft liegt noch ganz viel Sonne, und in der Erde liegen noch immer viele Bodenschätze."

Gerne würden wir mehr darüber erfahren, denn Sprache ist an die Wirklichkeit gebunden, und gleichzeitig führt sie ein Eigenleben.


II.

Von diesem Eigenleben handelt die gestern gehaltene "Münchner Rede zur Poesie XV", in welcher der Dichter Ulf Stolterfoht von seiner ersten Lektüre des Pastior-Gedichtes "Abendlied" erzählt, das er im Gras am Rande des Stuttgarter Feuersees vor 34 Jahren las.

Abendlied
 
Der Tag legt sein Verhalten an den Flauschhund.
Ein Kleeblatt bringt den Stadtverkehr zum Schäu-
men. Kein Schlußkapitel fällt vom Baum der Ener-
gie. Fast langsam wird die Schleife sanft magne-
tisch - die Induktion schließt Daten ein, nicht aus.
Verhalten knickt der Nachbar ins Papierbett.

Kein Lüftchen legt sich an, es geht mit Dingen
zu. Leicht unhygienisch liegt ein Arm im Schließ­-
fach. Auch das Paniermehl schlingert aktenkun­-

dig; Sachzwänge bringen etliches zum Tragen, ach
wann? Die Gurkenblüte schließt ihr Machtverhält­-
nis aus. Es kehrt das heiße Fett sich nicht an

Kind und Kragen
- den Phänomenen wächst die Spu­-
le an den Kern. Postalisch wird ein schlankes

Haar gebogen; auf kleinem Fuße köchelt die Ver­-

bene. Schon naht, was sich ins Stil­-Empfinden
schickt, auf leisen Katalogen. Am Kühlturm geht
Dianas Schwester außen in die Knie. Verhalten

steigt die Induktion in Scheuerleisten
- kein Irr­-
tum legt den Mund ans Ohr. Der Tag schließt seine
Gurken an den Drehstrom. Steinzeit
- gute Nacht.

Was für ein herrlicher Spielraum! In Pastiors verkehrter Welt kommt nichts an den Tag. Das Lüftchen legt sich nicht, sondern es legt sich an, und die Verbene köchelt statt auf kleiner Flamme auf kleinem Fuße. Was auch immer das alles bedeutet, wir werden, kaum haben uns die darin durchscheinenden Redewendungen angezogen, sofort wieder ins Freie geschleudert, wo wir uns getrost zurücklehnen und alles Verstehenwollen hinter uns lassen können, denn es geht im "Abendlied" fürwahr nicht mit rechten Dingen zu, was dafür sorgt, dass es "mit Dingen" zugehen kann: mit Worten, Buchstaben, Silben, mit Flauschhunden, Gurken, Induktionen, mit Scheuerleisten und Katalogen. Vom Sinn befreit hat die gestische und rhythmische Nachahmung von gewohnten Sätzen ("Es kehrt das heiße Fett sich nicht an Kind und Kragen") uns ganz anderes zu sagen. Die vielen Zeilenbrüche mitten im Wort inszenieren uns das Versprechen, dass buchstäblich alles immer neu anfangen kann.

In seiner "Münchner Rede" berichtet Stolterfoht, dass er damals kein Wort und keinen Satz verstand und doch im selben Moment wusste, dass er genau das immer hatte lesen wollen. "Die Sensation dieser Texte, ihre unerhörte Freiheit, lag natürlich in ihrer Unverständlichkeit", schreibt er und vermutet weiter, diese Strukturen könnten es sich in uns Lesern "gemütlich" machen, irgendwo in unserem "Symmetriezentrum", und irgendwann, am Tresen oder beim Einkaufen, "ohne dass Sie es wollten, werden Sie sie benutzen, und dann ist es passiert: Sie haben das Gedicht verstanden."


III.

Von einem anderen Eigenleben der Worte handelt das neueste Akzente-Heft, das im September erschienen ist. "Es gibt Wörter, die machen mit mir, was sie wollen", so der Titel nach einem Zitat von Oskar Pastior: "Sie sind ganz anders als ich und denken anders, als sie sind." Gleich eingangs beschreiben die Herausgeber, Herta Müller und Jo Lendle, um was es ihnen geht: Um die "bezwingende Macht", die Wörter haben können, die schrecklichen wie die schönen. Wir sind ihnen ausgeliefert. Sie können uns hinreißen und uns wehrlos machen, weil wir sie nicht mehr aus dem Kopf bekommen.

Oder doch? Welche Worte sind es und welche Gewalt haben sie? Woher kommen sie und kann man sie sich auch wieder aus dem Kopf schlagen? Mit Versuchen über diese Fragen hätte man viele hundert Seiten füllen können, das Heft ist konzentrierte 100 Seiten dick. Der Exilschriftsteller Georges Arthur Goldschmidt beschreibt die erstickende Wucht von Vokabeln wie "Abschied" und "Heimweh" und berichtet von "Leuchtwörtern" , etwa über das enge Miteinander von Verlassenheit und Hoffnung in Rimbauds "Aufenthalt in der Hölle". Der Roman-Schriftsteller Thomas Lehr dichtet die Zeile "in mir gehen Menschen, deren Sprache ich erfunden habe" und Liao Yiwu lässt sich beim Schreiben von dem chinesischen Sprichwort tragen "Das Herz ist höher als der Himmel". Les Murray denkt nach über den Schwindel und Bengt Emil Johnson, der hierzulande viel zu unbekannt ist, beginnt sein Gedicht "Nachmittagsarbeit mit Schwarzspecht" mit folgenden Zeilen:

Man könnte sagen, es helfe der Menschheit nichts,
dass ich diese Zeilen zu Papier bringe,
doch wage ich zu behaupten, es sei nicht ganz unmöglich.
Die Jodpartikel aus Tschernobyl sind auch nicht sonderlich groß,
wie man weiß, und sind doch, was sie sind ...


Worte als Jodpartikel, die in der Welt weiterwirken - ein düsteres, doch treffendes Bild. - Der schönste Beitrag im Heft stammt von Herta Müller selbst. Ganz unscheinbar, kaschiert unter dem Nachdenken über Dorfworte wie "Tscharegl", "Pitanger" und "Arschkappelmuster" - drei Worte, die im Umfeld ihrer Kindheit selbstverständlich waren, außerhalb des Dorfes jedoch keine "Bedeutung" besaßen, gibt sie Auskunft über ihre eigene Poetik. Viele Wörter aus der Dorfzeit seien an ihr hängengeblieben, schreibt sie, und dort, wo sie sich angeheftet hätten, fingen sie ein Eigenleben an. Als privates und nicht so privates Wissen. Auch als Klang. So berichtet sie, dass das Wort "Pitanger", im Dorfdialekt so etwas wie ein Landstreicher, "einer der ungeniert, aber mit bösen Absichten herumirrt", wie sie es definiert, sich, als sie das Dorf verlassen hatte und in die Stadt gezogen war, an die Geheimdienstler anheftete, die überall herumlungerten.

Die Worte seien mit ihr mitgereist und auf andere Dinge übergesprungen, berichtet sie. "Ich mag ihren inneren Zirkus." Und dieser Zirkus beschränkt sich nicht auf einzelne Worte, Auch Partikel aus Sprichworten können Zirkussprünge vollbringen. Aus dem dörflichen Satz "Wenn man eine Schwalbe tötet, gibt die Kuh rote Milch", heftete sich, wie Müller erzählt, die rote Milch an sie und wurde fortan zum Bild für Angst, Gefahr, Hilflosigkeit, Willkür und Gewalt. Rote Milch. Ein Bild, das sich auch uns anheften kann - wie bereits frühere Bilder von Herta Müller, das "Herztier", die "Atemschaukel" oder "Die Nacht ist aus Tinte gemacht". Tinte, das Bild für die Dunkelheit der Nacht, in der wir zu ertrinken drohen, ist gleichzeitig das Schreibmaterial, mit dem wir unsere Nachtgespinste fixieren und weiterverraten. Was die "rote Milch" mit uns Lesern macht, jetzt, da sie sich uns "angeheftet" hat, bleibt offen, Vielleicht, dass wir sie demnächst in einem Gedicht von Serhij Zhadan antreffen.


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Zum Weiterlesen und Weiterhören

Die viersprachige Biennale-Begleitbroschüre "Blind spot" mit Gedichten von Serhij Zhadan wurde erstellt vom berliner künstlerprogramm des daad

Lesung und Gespräch mit Serhij Zhadan anlässlich seines neuen Romans Mesopotamien.

Ulf Stolterfohts Münchner Reden zur Poesie erscheint im Lyrik-Kabinett.

"Es gibt Wörter, die machen mit mir, was sie wollen", Akzente 3/ 2015, Herausgegeben von Herta Müller und Jo Lendle, Hanser Verlag 2015.