Vorgeblättert

Leseprobe zu Sayaka Murata: Zeremonie des Lebens

Wir aßen gerade in einem leeren Konferenzraum zu Mittag, als eine der jüngeren Kolleginnen ihre Stäbchen beiseitelegte und mich ansah.

»Übrigens ist Herr Nakao aus der Verwaltung gestorben.«

»Was? Wirklich?«

Alle jungen Frauen aus Nakaos Abteilung hoben gleichzeitig die Köpfe.

»Es soll ein Schlaganfall gewesen sein.«

Ich sah den attraktiven, immer freundlichen Herrn Nakao mit dem grau melierten Haar vor mir. Er war kultiviert gewesen und hatte exzellente Manieren besessen. Oft hatte er die Süßigkeiten, die Klienten ihm schenkten, mit uns geteilt. Sein Eintritt in den Ruhestand lag erst wenige Jahre zurück.

»Dabei war er noch gar nicht so alt.«

»Stimmt. Wann ist er denn gestorben?«

»Vorgestern, glaube ich. Die Firma wurde heute Morgen benachrichtigt. Heute Abend findet die Zeremonie statt. Alle sollen kommen, das hätte er sich gewünscht.« »Gut, dann lasst uns lieber nicht zu viel zu Mittag essen und auf den Nachtisch verzichten.«

Eine Kollegin aus meinem Jahrgang und ich packten unsere Puddingbecher ungeöffnet in die Supermarkttüten zurück, während eine ältere noch einen Bissen von dem Fleisch-und-Kartoffel-Eintopf nahm.

»Herr Nakao ist bestimmt recht schmackhaft.«

»Er könnte vielleicht etwas zäh sein? So schlank und drahtig, wie er war.«

»Ich habe schon mal einen Mann mit einer ähnlichen Statur gegessen. Der schmeckte recht gut. Ein bisschen sehnig, aber angenehm auf der Zunge.«

»Es heißt ja immer, Männer ergäben eine bessere Brühe als Frauen.«

Die Kollegin legte ihre Tüte mit dem Pudding beiseite und wandte sich mir zu.

»Sie kommen doch auch, Frau Iketani? Zur Lebenszeremonie?«

»Ich weiß noch nicht«, sagte ich unverbindlich, während ich in dem Nori-Bento stocherte, das ich in einem Konbini in der Nähe gekauft hatte.

»Warum denn nicht? Gehören Sie etwa zu denen, die kein Menschenfleisch essen, Frau Iketani?«

»Nein, nein, durchaus nicht. Ich fühle mich nur in letzter Zeit ein wenig unwohl. Außerdem habe ich meine Tage.«

»Ach, na ja, dann …«

Die jüngere Kollegin nickte verständnisvoll.

»Allerdings könnten Sie trotzdem schwanger werden. Kommen Sie doch mit. Vielleicht werden Sie ja befruchtet.«

Ich rang mir ein falsches Lächeln ab und spülte den vor zu viel Soße triefenden frittierten Fisch mit einem Schluck Tee aus der Plastikflasche hinunter.

In meiner Kindheit war der Verzehr von Menschenfleisch nicht erlaubt gewesen, dessen war ich mir ziemlich sicher.

Doch mittlerweile hatte sich diese Sitte so stark eingebürgert, dass meine Überzeugung hin und wieder ins Wanken geriet. Vor dreißig Jahren, als ich in die Vorschule ging, hatte es so was nicht gegeben – da war ich mir ganz sicher. Denn aus der Zeit hatte sich ein Vorfall mir unauslöschlich eingeprägt.

Wenn uns damals im Schulbus langweilig wurde, spielten wir »Wortkette«. Einmal ging es um Dinge, mit denen wir uns gegenseitig füttern wollten. »Du kriegst Spinne! Weich und lecker«, sagte ein Kind, worauf ein anderes mit »Wasserläufer! Mhm, die sind süß« konterte, und ein drittes mit »Elefant, der macht satt« antwortete. So ging es weiter.

Ein kleiner Vielfraß entschied sich für »Giraffe«, dann kam das Wort »Affe«. Als ich an der Reihe war, rief ich, ohne viel zu überlegen, »Mensch!«, womit ich witzig an den »Affen« anknüpfen wollte.

Doch mein Vorschlag löste einen regelrechten Tumult im Bus aus.

»Iiih!«

»Das ist ja krank!«

Selbst das Mädchen neben mir, das »Affe« gesagt hatte, war entsetzt. »Maho, wie kannst du so was Schreckliches sagen?«, stieß sie schluchzend hervor.

Es kam zu einer Art Kettenreaktion, und ein Kind nach dem anderen im Bus heulte los. Es herrschte eine Riesenaufregung.

Unsere Lehrerin wurde sehr böse. »Maho, das ist ganz und gar nicht lustig. Mit so was treibt man keinen Scherz. Das wird ein Nachspiel haben«, schimpfte sie. Ich war am Boden zerstört. Dennoch war es mir unverständlich, wieso Affe okay war, Mensch aber nicht.

Bis heute erinnere ich mich überdeutlich an die Entrüstung meiner sonst so lieben Lehrerin, die ich noch nie so verärgert gesehen hatte, an meine weinenden Freundinnen und an den missbilligenden Blick des Busfahrers. Was bist du denn für ein Gör?, schien er zu sagen. Der ganze Bus fiel mit derartiger Empörung über mich her, dass ich kein Wort herausbrachte und nur zu Boden stieren konnte.

Ich kriegte kaum noch Luft und wurde blass, so sehr schämte ich mich. Ich war so erstarrt, dass ich beim geringsten weiteren Anlass vor Angst und Scham in Stücke gesprungen wäre.

Doch seither hatte sich vieles verändert.

Die Angst, die Menschheit könnte aufgrund der rapide abnehmenden Bevölkerungszahl aussterben, rief zunehmend das Gefühl hervor, zur Fortpflanzung verpflichtet zu sein.

So war es in den vergangenen dreißig Jahren in vielen Bereichen schrittweise zu einem Wandel gekommen. Nur noch wenige Menschen verwendeten das Wort »Sex«, stattdessen hatte sich der Begriff »Befruchtung« durchgesetzt. Kopulation zum Zweck der Empfängnis war zur Norm geworden.

Wenn jemand starb, war es mittlerweile üblich, anstelle einer Trauerfeier eine sogenannte »Lebenszeremonie« zu veranstalten. Und obwohl es noch Menschen gab, die eine traditionelle Totenwache oder Beerdigung abhielten, entschieden sich die meisten für die vom Staat geförderte, wesentlich kostengünstigere Lebenszeremonie. Bei solchen Anlässen wurden die Verstorbenen verzehrt, während die anwesenden Gäste zugleich Ausschau nach einem Befruchtungspartner hielten. Sobald sich zwei gefunden hatten, verließen sie die Zeremonie und vollzogen die Befruchtung. Die dieser Zeremonie zugrunde liegende Vorstellung, dass neues Leben aus dem Tod geboren wird, fügte sich perfekt in die allgemeine, wenngleich unbewusste Fixierung auf die Fortpflanzung ein.

Es kam mir vor, als glichen die Menschen sich neuerdings in ihrem Verhalten den Kakerlaken an, von denen es heißt, dass sie die Kadaver ihrer Artgenossen gemeinsam verspeisen. Angeblich produzieren sterbende Kakerlaken außerdem eine große Anzahl von Eiern. Abgesehen davon hatte es wohl immer Stämme gegeben, die ihre Toten betrauerten, indem sie sie verzehrten, so dass es sich gar nicht um eine plötzlich aufgekommene Sitte handelte.

Yamamoto zündete sich eine Ein-Milligramm-AmericanSpirit an.

»Du hältst also weiter an dieser Kindheitserinnerung fest?«

Der Raucherbereich war durch eine Glaswand vom allgemeinen Aufenthaltsraum im Untergeschoss der Firma abgetrennt, in dem ansonsten nur ein paar Automaten und Stühle herumstanden. Hier war ich zum ersten Mal mit Yamamoto ins Gespräch gekommen.

Er war ein kleiner, untersetzter Mann von neununddreißig, also drei Jahre älter als ich. Er war ein umgänglicher Mensch, der lächelte, egal, was ich sagte, aber nicht um es abzutun, und ich fühlte mich so wohl und akzeptiert in seiner Gegenwart, dass ich ihm Dinge erzählte, die ich sonst niemandem anvertraut hätte.

Mürrisch kaute ich auf dem Filter meiner Hi-Lite Menthol herum.

»Es ist nicht so, dass ich unbedingt an etwas festhalten will. Ich komme nur nicht mit all diesen Veränderungen mit. Vor dreißig Jahren galten ja völlig andere Werte. Irgendwie fühle ich mich hintergangen.«

Yamamoto blinzelte mit seinen runden, lang bewimperten Augen.

»Keine Ahnung, aber wenn ich es mir recht überlege, war es auch in meiner Kindergartenzeit nicht erlaubt, Menschenfleisch zu essen.«

»Siehst du! So war es nämlich! Und jetzt tun alle, als wäre es etwas besonders Tolles. Ich kann das echt nicht nachvollziehen.«

»Und was machst du heute Abend? Gehst du zu Nakaos Lebenszeremonie?«

»Und du?«

Yamamoto hatte nach eigener Aussage nichts gegen Menschenfleisch, aber einen Freund wollte er nicht essen, deshalb beruhigte es mich, ihn bei mir zu haben. Obwohl der Verzehr von Menschenfleisch zur gängigen Praxis geworden war, gab es noch immer ausgemachte Gegner, die ihn für unethisch erklärten. Yamamotos und meine Bedenken waren jedoch nicht ethischer Natur.

Yamamoto hatte sich eine Lebensmittelvergiftung zugezogen, als er als Sechstklässler bei der Lebenszeremonie seines Großvaters Fleisch gegessen hatte, das nicht ganz durch war. Auch ich hielt es nicht grundsätzlich für falsch, Menschenfleisch zu verzehren, schließlich hatte ich als Kind selbst darüber gescherzt. Ich fragte mich nur erbittert, wo denn die ethischen Grundsätze geblieben waren, auf deren Basis man mich damals so gescholten hatte. Yamamoto kratzte sich im Nacken.

»Wir sollten hingehen«, sagte er. »Ich hätte Lust auf eine Befruchtung.«

»Na gut, dann komme ich mit.«

Mir waren die Zigaretten ausgegangen, also rauchte ich eine American Spirit aus Yamamotos Schachtel.

»Schmecken die dir? Je leichter, desto mehr raucht man, desto mehr Geld gibt man aus, und desto schlechter ist es letztendlich für die Gesundheit, oder?«

»Egal. Mir schmecken sie.«

Yamamoto blies genüsslich den Rauch aus.

Es gab nicht mehr allzu viele Raucher, und wir hatten den verglasten Raucherbereich für uns allein. Er umfasste kaum zwei Quadratmeter, und wenn ich durch das Glas schaute, kam ich mir vor wie ein Goldfisch im Aquarium. Ich stieß den Rauch der Zigarette aus, die ich von Yamamoto geschnorrt hatte. Während wir über Belanglosigkeiten plauderten, blickten wir durch die weißen Schwaden hinaus in die klare Luft außerhalb des Glaskastens. Am Abend gingen Yamamoto und ich dann zu Herrn Nakaos Lebenszeremonie. Da es ihr Ziel war, neues Leben hervorzubringen, wurde freizügige und auffällige Kleidung begrüßt. Ich hatte noch mein graues Businesskostüm an, doch Yamamoto kam in rot kariertem Hemd und weißer Hose.

»Bei einer Lebenszeremonie sollte man ein wenig extravagant auftreten«, erklärte er gut gelaunt, aber seine Aufmachung stand ihm nicht besonders, er war einfach nicht der Typ dafür.

Die Nakaos wohnten in einem nobleren Viertel in Setagaya. Jetzt gegen Abend duftete es überall nach Essen. Vielleicht sogar nach den aus Nakao zubereiteten Gerichten.

»Hier ist es.«

Yamamoto blieb stehen, den Blick auf den Stadtplan auf seinem Mobiltelefon gerichtet. Aus dem großen alten Haus wehte der Geruch von Miso.

»Es gibt bestimmt Suppe mit weißem Miso. Mhm, riecht das gut.« Yamamoto schnupperte erwartungsvoll.

An der Tür klebte ein pinkfarbener Zettel mit der Aufschrift »Lebenszeremonie für Katsu Nakao«.

Mit einem lauten »Guten Abend« betraten wir das Haus, worauf wir sogleich von einer vornehm wirkenden weißhaarigen Dame in einer Schürze begrüßt wurden, offenkundig Nakaos Gattin.

»Bitte, bitte, kommen Sie nur herein. Es geht gleich los.«

Sie führte uns in das mit jahreszeitlichen Blumen geschmückte Wohnzimmer, wo bereits zwei Keramikschalen auf dem Tisch standen. Herr Nakao hatte sie wohl gern benutzt, denn sie wiesen deutliche Gebrauchsspuren auf.

Menschenfleisch hat einen leichten Hautgout, weshalb es sich nicht für einfache, nur mit Salz und Pfeffer gewürzte Gerichte eignet. Meist wird es, nachdem es gründlich durchgegart wurde, noch einmal in einer dicken Misosoße gekocht, ein Vorgang, der in der Regel von besonderem Fachpersonal durchgeführt wird. Auch bei den Nakaos gingen mehrere solcher Männer in Arbeitskleidung mit taktvoll gesenkten Köpfen einher.

Um den Tisch saßen festlich gekleidete Männer und Frauen, die miteinander flirteten. Anscheinend war dieser Teil der Zeremonie bereits im Gange.

»Ich begrüße Sie alle zur Lebenszeremonie meines Mannes. Bitte greifen Sie herzhaft zu, meine Damen und Herren, und schaffen Sie neues Leben«, sagte die Hausherrin, während sie die Deckel der Schalen anhob, in denen man Herrn Nakao mit dem Chinakohl und den Enoki-Pilzen zubereitet hatte.

Alle wünschten sich mit zusammengelegten Händen guten Appetit und machten sich daran, Nakao-san zu verspeisen.

»Mhm, köstlich, Frau Nakao, Ihr Gatte schmeckt ganz exquisit.« Sein fein geschnittenes Fleisch wurde einhellig gelobt.

»Es ist wirklich eine hervorragende Sitte, sich Leben einzuverleiben und zugleich Leben zu schaffen …«, erklärte ein weißhaariger älterer Herr wohlwollend, während er sich bediente.

Bei seinen Worten tupfte Frau Nakao sich mit einem Taschentuch die Augen.

»Wie recht Sie haben. Mein Mann würde sich sehr freuen.«


Mit freundlicher Genehmigung der Aufbau Verlage

Informationen zu Buch und Autor hier