Vorgeblättert

Néhémy Pierre-Dahomey: Die Zurückgekehrten - Leseprobe Teil 2

04.09.2018.
3

Die Tage gingen über Rapatriés hinweg, das nichts als eine asymmetrische Ortschaft aus sechzig windschiefen Dächern war. Eine Art dörfliche Vorstadt von Les-Miracles, selbst Vorstadt von Cité Soleil, weil es immer noch etwas gibt, das kleiner ist als man selbst. Von oben betrachtet ergaben diese sprießenden Häuschen eine müde Oase inmitten einer Art Salzwüste mit stachligem, von einem grauen Schleier bedecktem Grünzeug. Am Tag trieb der Staub sein Unwesen, in der Nacht lösten ihn die Mücken ab. Um beide zu verjagen, half nur der Regen. Bloß dass die Pisse Gottes bekanntermaßen zwar die Insekten und die Sandkörner für drei oder vier Tage vertreibt, sie aber in alle Ewigkeit vermehrt. Also schlugen sich die Bewohner durch, wie sie eben konnten, schütteten eimerweise Wasser vor ihre Türen und auf die improvisierten Wege und verbrannten abends getrocknetes Zitronengras.
     Im täglichen Kampf gegen Kleinstwesen wurde Belli wieder schwanger. Diesbezüglich war auf Monsieur Sobner Saint-Juste stets Verlass gewesen. Als Zuchthahn erster Güte verpasste er keine Gelegenheit. Es fiel ihm schwer, eine Geliebte zu haben, ohne dass es früher oder später herauskam. Soeur Mireille erinnerte ihn oft daran, dass der Ewige nicht ihn allein meinte, wenn er befahl, zu wachsen und die Erde zu mehren und zu bevölkern. Er hörte nicht auf sie, er konnte nicht anders. Seine Natur erlegte ihm eine außergewöhnliche Gabe auf: Er hätte eine Mauleselin schwängern können. Zum Beispiel Riflane, die Hausangestellte und Mutter von John und Johnky, bei der er mitten ins Schwarze getroffen hatte. Es war sein Meisterwerk gewesen: Mit einer Frau Zwillinge zu zeugen, die alle Normalsterblichen für unfruchtbar gehalten hatten. Nicht, dass andere es nicht probiert hatten: Seit sie als junges Mädchen zu den Saint-Justes nach Les-Miracles gekommen war, hatte Riflane drei Generationen junger Männer über sich ziehen sehen. Bei ihrer Ankunft war Riflane fünfzehn Jahre alt gewesen und Nènè erst drei.
     Die erste Generation hatte sich kurz nach ihrem Eintreffen formiert. Sie bestand - Ehre, wem Ehre gebührt - aus dem Prediger Arol Saint-Juste, Soeur Mireilles Mann, der die Verkündigung der frohen Botschaft Gottes so ernst nahm, dass seine morgendlichen Gebete bei Sonnenaufgang im ganzen Viertel und darüber hinaus den Takt vorgaben; aus Maître Macédoine Beauprintemps, der damals Privatunterricht bei den Saint-Justes gab und seine Zeiten mit Bedacht wählte, um dem jungen Mädchen mit der lückenhaften Bildung seine Lektionen stets dann zu erteilen, wenn alle außer Haus waren; aus Onkel Georges, jünger als die anderen beiden Herren, aber nicht jung genug, um zur zweiten Generation zu gehören. Er gehörte ohne Frage zur ersten, mit Jean-François Claudel-Pierre, seinem ewigen Rivalen, der seine Besuche bei Riflane auch dann nicht aufgegeben hatte, als er Bürgermeister der sonnigen Gemeinde geworden war. Frère Fanon, der Seemann und Einzelgänger, Schützling seiner Geister und der Familie Louissaint, stand quasi allein für die zweite Generation. Er war vor aller Augen, also gewissermaßen offiziell, für sechs Jahre Riflanes Mann. Frère Fanon hätte Riflane geheiratet, wenn Soeur Mireille nicht ihr Einverständnis verweigert hätte. Diese wollte ihr Dienstmädchen und Mitglied ihrer christlichen Familie nicht einem Mann überlassen, der nie ein Voodoo-Treffen in Ronalds Péristyle verpasste. Dieses formale Hindernis kam Riflane entgegen, die eigentlich gar niemanden heiraten wollte. 
      Riflane, die kleine Bengel sehr mochte, hatte immer ein paar, die unter ihren Blicken beziehungsweise Händen heranwuchsen und reiften und sich ihrem massiven, wie aus schwarzem Marmor gehauenen Körper, ihren ausladenden Hüften und ihren sich wie eine Drohung hervorreckenden Brüsten nicht entziehen konnten. Diese Jungs drückten sich auf den letzten Rängen der zweiten Generation herum, während Frère Fanon den Solisten gab und Nènè sich beeilte, älter zu werden, um die Bühne der freigiebigen Sinnlichkeit zu besteigen.
     Letzterer wollte also um keinen Preis seinen Einsatz verpassen. Und so hatte Riflane zwei auf einen Streich in die Welt gesetzt, und alle taten so, als wüssten sie nicht, wer der Vater sei. Das Dienstmädchen hätte in Schmach und Schande leben müssen, wenn Belliqueuse Louissaint, die ihren Mann mit eiserner Hand hielt, nicht vor dem Pranger der blutrünstigen Meute die Nachkommenschaft des Vaters ihrer Kinder für sich beansprucht hätte. Seit diesem Moment verknüpfte ein intimes Band die Leben von Belli und Riflane, sie waren Schwestern im Herzen und kämpften in derselben Liga, wenn um Felle gefeilscht, sprich Doppelpunkt Anführungsstriche unten, dem Prahler Sobner Saint-Juste seine Schandtaten heimgezahlt werden mussten, Anführungsstriche oben. Aber auch, um seine jämmerlichen Männermanöver zu überwachen und ihn wie ein Kind vor sich selbst zu schützen. Aus demselben solidarischen Elan hatte Fedner John und Johnky beim Fußball gern in seiner Mannschaft, wenn sie gegen ernsthafte Gegner antraten.

Die Zwillinge wohnten für die Dauer eines Schuljahres in Rapatriés, gingen dann wieder und wurden von Marline ersetzt, die bei ihrer Großmutter Soeur Mireille geblieben war. Wie geplant hatte Nènè sie gleich am Tag nach ihrer Ankunft abholen wollen, aber Belli hatte mit vier Kindern genug und sagte, sie wolle den versprochenen Ausbau der Hütte abwarten.
     So verging ein Jahr, in dem Bellis Ausflüge, wenn es nicht gerade um die Kramwaren ging, die sie seit sechs Monaten verkaufte, alle nach Les-Miracles führten. So kam es, dass sie fast keine ihrer Nachbarinnen beim Namen kannte und das schnelle Wachstum des Viertels durch die Überlebenden irgendeines Unglücks oder durch die Kundschaft irgendeines Strohmanns von Jean-François Claudel-Pierre, der sich als Privatier versuchte, kaum bemerkte.
     Der Auszug der Zwillinge erweiterte den Horizont des neuen Viertels für Fechner. In dieser Zeit entwickelte er eine beunruhigende Leidenschaft für Fußball. Ohne dass jemand wusste, wovon er sich ernährte, blieb er oft von morgens bis abends auf einem der umliegenden Plätze, die die Spieler nach jeder Regenzeit unter Mithilfe der Sonne wieder herrichteten. Es wurde wieder Sommer. Und so war der junge Mann der Erste, der im regen Austausch mit der Nachbarschaft stand, bevor Belli ihm folgte. Zunächst krallte er sich den Sohn von Diogène Désilus, einem Nachbarn, der zwanzig Meter entfernt wohnte und erst mit Verspätung erfahren hatte, dass Rapatriés auf diesen Namen getauft worden war, weil man dort Flüchtlinge, Boat People und die Überlebenden mehrerer Schiffbrüche seit dem Jahr siebenundachtzig untergebracht hatte. Er selbst hatte nie ein Boot bestiegen, lebte aber trotzdem dort, mit dem kleinen Robert, genannt Bob Désilus, seinem Sohn. Als die beiden jungen Leute sich in weniger als einer Woche so sehr anfreundeten, dass sie die Tage abwechselnd beieinander verbrachten, öffnete sich Bellis Haus der Nachbarschaft, und die Welt bestand langsam nicht mehr nur aus Les- Miracles.

Was Marline anging, verband sie seit der Ankunft in Rapatriés eine starke Zuneigung mit ihrer kleinen Schwester, 26 die zwei Jahre alt geworden war, ohne einen Namen zu bekommen. Marline fand heraus, dass die Kleine einige auffällige Besonderheiten hatte. Sie guckte nicht einfach, sondern sezierte alles mit den Augen. Sie hatte einen außergewöhnlichen Sinn für Rituale. Unter ihrer Matratze sammelte sie Hemdknöpfe, Flicken, flache Steine aus der Umgebung und verschiedenartige winzige Dinge, sortierte sie nach Größe und Farbe und grenzte hinter dem Haus kleine, saubere Bereiche ab, um ihre Beute auszubreiten. All das mit großem Sinn für Genauigkeit und Ordnung. Mit Interesse und Durchhaltevermögen. Sie war ein künstlerisches Kind. Geheimnisvoll.
     Marline, zehn Jahre alt, hatte die Aufgabe übernommen, einen Vornamen für ihre Schwester zu finden, die alle nur »Bellis Jüngste« nannten. An einem Sonntagmorgen, als sie alleine zu Hause waren, nahm sie die Kleine auf den Schoß, sagte ihr, dass sie sie taufen würde, und forderte sie auf, aus allen Namen, die sie aufzählen würde, einen auszuwählen. Die Kleine antwortete nicht. Marline begann: Marie, Bea, Berline, Natascha, Magdala, Françoise, Carole. Die Unbenannte reagierte auf keinen. Marline gab auf.
     Als Belli zurück war, erteilte Marline ihr den Befehl, einen Namen für ihre kleine Schwester zu finden. Belli wunderte sich über ihre Dickköpfigkeit, denn selbst die Katholischsten unter den Katholiken störten sich nicht daran und hatten sich daran gewöhnt, das Kind bei seinem Spitznamen »Bellis Jüngste« zu nennen. Dieser Sonntag verging wie viele andere, ohne dass die Jüngste einen eigenen Vornamen erhielt. Aber in der Familie wurde das Problem immer dringlicher. Leise fragte man sich, wie das hatte passieren können, und wurde sich der Absurdität dieser Provinzposse bewusst, die in diesem aufgeklärten Zeitalter nichts zu suchen hatte. Dann machte die Jüngste Schluss mit den wirren 27 Vermutungen und abergläubischen Hypothesen und taufte sich selbst.
     Sie war gerade zwei Jahre alt geworden. Sie spielte mit Marline hinterm Haus, als Diogène Désilus des Weges kam. Um sich zu beteiligen, fragte er nach dem Namen des Kindes. Es antwortete sehr ruhig, klar und deutlich: »Belial.«
      Mehr brauchte es nicht, dass Marline vor Freude in die Luft sprang und allen, die es hören wollten, erzählte, dass die Jüngste sich selbst Bellia genannt hatte, nach ihrer Mutter. Als alle versammelt waren, fragte man die Kleine noch einmal nach ihrem Namen. Wieder sagte sie sehr deutlich: »Belial.«
     Nènè, der wegen des unerklärlichen Versäumnisses, seiner eigenen Tochter einen Namen zu geben, schon in Sorge war, sah darin keinen Grund zur Beruhigung oder gar zur Freude. Das Rätsel dieses Kindes, das, der schützenden Hülle eines Namens beraubt, ohnehin schon die Bürde des Geheimnisvollen trug, hatte sich durch die Wahl von ausgerechnet diesem Namen und keinem anderen soeben verdoppelt. Auch wenn Nènè in Wirklichkeit nicht Punkt für Punkt erklären konnte, warum und weshalb dieser Vorname in ihm etwas wachrief, das in den Mäandern seiner Einbildung und überlieferten Ängste verborgen lag. Für die schwierige Aufgabe der Analyse seltener Namen, sozusagen für die anthroponymitische Tiefenbohrung, zog er es vor, sich gebildeteren Menschen anzuvertrauen, Macédoine Beauprintemps, der in dieser Sache leider kein bisschen effizienter war als sein Auftraggeber.
      Nicht effizienter, aber stets bemüht entschied Macédoine, sich bei Maître Pierre Durose zu erkundigen, seinem alten Schulkameraden, mittlerweile Rosenkreuzer und Anwalt, der auch den Grundstückskauf für Rapatriés über die Bühne gebracht hatte. Dieser bestätigte seinen Verdacht: Der Vorname war nicht unproblematisch. Dann brachte er eine solche Fülle von verschlüsselten, poetischen, historischen und pikanten Details vor, dass dem verblüfften Macédoine schwindelig wurde. Nach dieser außerordentlich übersinnlichen Unterredung kamen die beiden Herren überein, über diese aufregende Geschichte zu schweigen, um den Schaden zu bemessen und eine exorzistische Strategie zu finden.
     Belial war unbekümmert, was den Wirbel um ihre Autonomenklatur anging, und hörte nicht auf, täglich von Neuem zu überraschen und zu strahlen. Sie legte einen großen Sinn für Zuneigung an den Tag, als ob sie alles verstünde, was um sie geschah. Belli, der ihre Schwangerschaft zu schaffen machte, ließ sich nur von ihrem Blick trösten. Ein Blick, der in die Tiefe ging, sanft und besänftigend. Belli trug weiterhin jeden Tag die Schüssel mit den Kramwaren auf dem Kopf zum Marché Radotage, dem Geschwätz-Markt. Manchmal nahm sie noch zwei Dutzend kleine Kuchen mit, die sie auf dem linken Arm balancierte, weil die sich schneller verkauften als der Krimskrams.
     Just in diesem Moment zeigte Marline erste Symptome einer Tuberkulose. Jeder Abend brachte neue Fieberschübe mit sich. Sie aß bloß noch zwei kleine Kuchen am Tag. Nichts blieb unversucht, um sie zum Essen zu bewegen: Druck, Zärtlichkeiten, das Versprechen, im Dezember zum Champ-de-Mars zu gehen, Schläge, bis schließlich auffiel, dass sie Blut spuckte, was hieß, dass sie sehr krank war. Nun hatte Belial zwei Personen, die ihre Zuwendung brauchten, was sie mit einer methodischen Andächtigkeit erledigte. Wenn Belli vom Markt heimkehrte, ob Nènè da war oder nicht, gehörte der erste Augenblick der Entspannung, der mit dem Rockzipfel begann und mit dem Streicheln der Haare endete, ihr. Belial bestand außerdem darauf, die Schüssel, die Mandelseife und das Handtuch auf die rechte Seite des Hauses zur Waschstelle zu bringen, um ihrer Mutter die Arbeit abzunehmen.
     Wenn Marline abends von ihrem täglichen Fieberschub heimgesucht wurde, war Belial immer zur Stelle, um die Kompresse zu befeuchten und ihr auf die Stirn zu legen. Die Jüngste war Nènès Vorbild, und sie ahnte nicht, wie sehr er sie liebte. Für einige Wochen wurde selbst Nènè geradezu häuslich. Fast wäre aus ihm ein Familienvater geworden, der zur Arbeit in seine Werkstatt ging und mit neuen Geschichten, Bonbons für die Kinder und ein wenig Geld nach Hause zurückkehrte. Er ließ Marline von einem Médecin-feuille untersuchen, den Frère Fanon empfohlen hatte, und legte den Weg von Les-Miracles nach Rapatriés oft gemeinsam mit dem Heiler zurück. Dieser nannte sich Frère Jean Saint-Jean und genoss einen exzellenten Ruf. Aus gutem Grund: Kein Patient hatte es je gewagt, in seiner Obhut zu sterben. Er hatte so gängige und hinterhältige Übel wie Tuberkulose, Malaria, Gelbfieber und Unterernährung behandelt.

Als ob er den familiären Schwierigkeiten, die winkten und vor kommendem Unglück warnten, etwas entgegensetzen wollte, steckte Nènè all seine Mittel und all seine Energie in den Umbau des Hauses. Auch Leidenschaft und Phantasie investierte er. Er brachte zwei Maurerkollegen mit: Louinel Dieupuissant und Gueule, Fresse, der nur unter diesem Namen bekannt war. Die Herren begannen mit einem Vorbau aus Beton, einer Art Veranda, die sie an zwei Seiten mit Mauern von einem Meter Höhe einfassten. Nach vorne hin ein Zaun in Beige aus fünfundvierzig einheitlich zugeschnittenen Brettern, verziert mit künstlichen Lorbeerzweigen und Gardenien. Auf der linken Seite, wo sich unter freiem Himmel die Waschstelle befand, zogen sie lotrechte Wände ein, die an die Fassade des Hauses anschlossen und so ein perfektes Quadrat von zwei Metern Breite bildeten. Nènè selbst fertigte die Tür des neuen Badezimmers: ein origineller Rahmen, wie es seine Spezialität war, aus massivem schwarzen Ebenholz. Die Tür war schön anzuschauen.
     Hinter dem Haus jäteten sie das Unkraut und ebneten eine Fläche von acht Metern Länge mal die sechs Meter Breite, die das erste Zimmer
 maß. So schufen sie ein weiteres Zimmer und verbanden beide durch einen breiten, eleganten Durchgang in Pilzform. Sie trugen auf alle Wände sehr feinen Putz auf. Sie überdachten das Ganze mit neuem Wellblech auf einem leichten Dachstuhl, den Nènè errichtet hatte. Als Krönung ihrer Kunst, als Hingucker mit Seltenheitswert, zogen sie eine Zwischendecke aus Mahagoni ein. Das leere Haus war nicht wiederzuerkennen. Auf der Veranda richteten sie eine Küchenecke ein.
     Nènè bedankte sich bei Gueule und Dieupuissant und erklärte die Innenausstattung zu seiner Aufgabe. Jedes Möbelstück kam aus seiner Schreinerei: der Tisch aus Eichenholz, die vier Stühle, der neue Geschirrschrank, die drei Betten, der Beistelltisch und die beiden Regalschränke, Garderobe und Dokumentenschrank. Alles passte zusammen, mit handgemalten Motiven vom Meister persönlich. Er trieb es so weit, für das neue Zimmer einen Bettvorleger auszusuchen.
     Belliqueuse Louissaint lebte, unter Schmerzen und Mangel, in einem wahren Kunstwerk. Es war der sechste Monat ihrer Schwangerschaft.

Mit freundlicher Genehmigung der Edition Nautilus

Informationen zu Buch und Autor hier.