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Die Wichtigkeit biometrischer Daten

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
20.05.2019. Louisa Clement, die gerade im Sprengel Museum ausgestellt wird, gehört zu den exzeptionellen jüngeren Fotograf*innen in Deutschland. Sie arrangiert Puppen und reflektiert mit ihnen die voranschreitende Anthropotechnik, manchmal mit etwas zu viel Geschmack.
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Während namhafte Foto-Institutionen in Hamburg oder Berlin mit gefälligen Themenausstellungen über Essen, Wohlstand (hier) oder die Berliner Clubszene der neunziger Jahre auf Nummer (hier) sicher gehen und dabei konstant an Saturiertheit zulegen, müssen Fotoliebhaber*innen für die relevanten  Ausstellungen einer Saison - etwa im Juni die Retrospektiven von Sally Mann in Paris und von Sophie Calle in Winterthur - wieder nicht selten ins Ausland reisen. (Fotolot wird selbstverständlich in beiden Fällen vor Ort sein und berichten.)

Während man sich an dieses Dilemma gewöhnt hat und es bestenfalls mit einer angenehmen Kurzreise nach London oder Paris verbinden kann, ist man doch überrascht, dass es beim fotografischen Nachwuchs nicht viel anders ist - selbst beim deutschen nicht.

Das meiste, das sich bei den abschließenden Ausstellungen von Absolvent*innen der Folkwang Uni Essen, der Ostkreuzschule Berlin oder der HGB Leipzig finden lässt, ist qualitativ anspruchsvoll und interessant - aber meist ohne nachhaltige Bedeutung für die Gegenwartskunst. (Den mannigfaltigen Gründen dafür müsste man einen eigenen, ausführlichen Fotolot-Beitrag widmen.) Die Ausnahmetalente muss man ebenso mit der Lupe suchen wie die Gelegenheiten, zu denen sie ausgestellt werden.

Eines dieser raren Talente ist noch bis zum 10. Juni im Sprengel Museum in Hannover zu besichtigen: Die 1987 in Bonn geborene Foto- und Medienkünstlerin Louisa Clement zeigt dort ihre Ausstellung "Remote Control". (Obwohl im Zusammenhang von Clement noch von einem 'Talent' zu sprechen genauso sinnlos ist wie bei Stephanie Mooshammer, die letztes Jahr nichtsdestotrotz den "C/O Berlin Talent Award" bekam.)

Clements Arbeit dreht sich seit einiger Zeit um wesentliche Aspekte der voranschreitenden Anthropotechnik: Virtual Reality, künstliche Intelligenz, digitaler Raum und Entkörperlichung an der Schnittstelle von Mensch und Maschine.

2014 tauchen in der Serie "Fracture" erstmals Fotografien von Gliederpuppen auf, wie sie in Schaufenstern verwendet werden. Daraus hervorgehend entstehen in rascher Folge die Serien "Heads" (2014/15), "Avatar" (2016) und "Gliedermensch" (2017).

In "Heads" - polierte Puppenköpfe ohne Gesicht, konturlose Oberflächen ohne Individualität - paraphrasiert Clement die Wichtigkeit biometrischer Daten sowohl bei Überwachungstechnologien im öffentlichen Raum als auch bei der Feststellung der juristischen Identität einer Person (Personalausweis, Führerschein) bei parallel rasch voranschreitender Digitalisierung.

Louisa Clement, Head. Ausstellung Sprengel Museum



Bei "Avatar" - das künstliche Abbild eines Menschen in der virtuellen Welt - gruppiert Clement in zarten Pastelltönen gehaltene, schaufensterpuppenartige Figuren aus Fiberglas und fotografiert sie so, dass nur Ausschnitte davon zu sehen sind, in denen die Oberkörper der Figuren einander teilweise verdecken und. Einzig die willkürliche Farbgebung lässt eine Unterscheidung überhaupt sinnvoll erscheinen.

Die Aufnahmen sind mit dem Smartphone gemacht. Mittels komplexer Lichtregie und intensiver Bildbearbeitung ergibt sich eine weich zeichnende, geradezu malerische Optik wie in der Werbung, eine Ästhetik, die Clement dazu dient, den Menschen als durch Seinesgleichen auszubeutendes Objekt zu inszenieren - von den ökonomisch und politisch relevanten Spuren, die er im Internet hinterlässt, über seine Arbeitskraft bis hin zu seinem Status als lukrative, mobile Organbank. 

In "Gliedermensch" wird der Einfluss von Oskar Schlemmers Gliederpuppen und ihrer ästhetischen Konzeption als Substitute des Menschen deutlich. Wenn die Puppen ihre schwarz glänzenden Glieder umeinander legen, bekommt man eine Ahnung von der maschinellen Erotik künftiger Sexroboter, deren Entwicklung gerade intensiv vorangetrieben wird.

Louisa Clement. Avatar. Ausstellung Sprengel Museum.


In Clements begehbarer, auf Beuys anspielende Installation "Schmerzraum" (2018) kann man mit künstlichem, der menschlichen Haut nachempfundenem Gewebe auf Tuchfühlung gehen. Der dreieinhalb Meter hohe und vier Meter lange Raum ist vollständig mit dem High Tech - Gewebe "E-dermis" verkleidet ist, das die Besucher*nnen berühren können, wobei sie einen elektronischen, für sie selbst nicht spürbaren elektronischen Impuls verursachen - die "E-dermis" wurde dazu entwickelt, um Prothesenträger*innen eine Art von Tastsinn zu ermöglichen und Berühren sowohl haptisch als auch psychisch erfahren zu lassen.

Wie bei allen subtilen Inszenierungen Clements haftet dem Künstlichen (noch) etwas Fremdes, manchmal Unheimliches an; gleichzeitig setzen die meist bewusst sanft inszenierten Oberflächen die große Verführungskraft der digitalen Welt im Zeichen der Schönheitschirurgie in Szene: das Glatte, Perfekte, ohne sichtbare Zeichen menschlicher Schwäche und körperlichen Verfalls  - das pygmalische Menschheitsprojekt schlechthin.

Wenn man einmal eine unter 35 wie Clement gefunden hat, die a) nicht in irgendeiner Weise im Fahrwasser von Wolfgang Tillmans oder Paul Graham schwimmt, und b) auch nicht aktuellen Losungen von Kurator*innen und Medien zuarbeitet (Flüchtlinge, Migration, Female Gaze und so weiter), sondern c) eine ganz eigene Linie verfolgt, sollte man dankbar sein und sich mit Kritik zurückhalten.

Dennoch gibt es meines Erachtens zwei Punkte, die Clements Entwicklung über das rein Ästhetische und den Raum der Kunst hinaus im Weg stehen.

Da ist auf der einen Seite das allzu Geschmackvolle ihrer Inszenierungen. Es stimmt eben gerade nicht, was Jana Baumann im Katalog zur Ausstellung schreibt: dass "das Werk von Clement die schonungslose Konfrontation mit der menschlichen Seinsfrage (...)" sucht. Förmlich an den Haaren herbeigezogen ist, was Anne Marie Bonnet über die Serie "Gliedermensch" schreibt: "Gestalten, entmenschlicht, wie von Ruß geschwärzt, verfolgt, vom Schicksal gekennzeichnet, verletzt." Das mag vielleicht für die ausgebeuteten chinesischen Arbeiter*innen des aufgrund seines sozialen Engagements wahrscheinlich ermordeten Fotografen Lu Guang (mehr hier) zutreffen, aber sicher nicht für Clements im Vergleich doch dezente Puppen.

Schon im Alter von fünfundzwanzig Jahren, als Clement das Max-Ernst-Stipendium erhält, ist ihr Hang zum stilsicheren Arrangement evident: Eine Matratze, die auf einem schönen Parkettboden an einem ebenso schönen, alten Sofa lehnt; der melancholische Vintage-Charme von Staubrändern abgehängter Bilder an einer Wand - hach...!

Erschwerend kommt wohl hinzu, dass Clement jahrelang Schülerin von Andreas Gursky an der Düsseldorf Akademie war, der seiner kräftig zahlenden, internationalen Kundschaft meines Wissens nie ein allzu heftiges, kontroverses oder kritisches Bild zugemutet hat.

Ein anderer Punkt betrifft das, worüber Yuval Harari unter anderem in seinem Buch "Homo Deus - Eine kurze Geschichte von Morgen" schreibt: die zukünftige Existenz eines großen Prekariats, dem bewusst nicht alle Fortschritte perfektibler Anthropotechnik zur Verfügung gestellt werden (womit wir wieder bei Lu Guang wären). Ein Vorgang, den man angesichts der Entwicklung einer Zweiklassenmedizin in weiten Teilen der Welt mit verfolgen kann, und den Künstler*innen auf ihrem Weg, das Phänomen der voranschreitenden Verschmelzung von Mensch und Maschine künstlerisch darzustellen, beachten müssen.

Kriegt Clement die beiden von mir genannten Aspekte in den Griff, hat man es - auf der Basis ihrer gestalterischen Intelligenz und handwerklichen Fähigkeiten - potenziell mit einer Künstlerin zu tun, der innerhalb des von ihr gewählten Feldes kaum Grenzen gesetzt sind.

Um mit denselben Worten zu schließen wie Andreas Beitin im gleichnamigen, bei Hatje Cantz erschienenen Buch zur Ausstellung: Man darf gespannt sein, wie es weitergeht.

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de


Louisa Clement, Remote Control. 160 Seiten, 20 x 30 cm, Softcover. Hatje Cantz Verlag,  Berlin 2019, 38 Euro. ISBN-13: 978-3775745314 (Bestellen bei buecher.de)