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Fiebrige Lethargie

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
29.04.2019. Benita Suchodrevs "48 Hours Blackpool" ist kein Brexit-Buch, denn es hat mit der EU wenig zu tun und ist eher der Beweis, dass der Niedergang gewisser britischer Mythen ganz aus eigenem Antrieb begann. Suchodrev wirft in kontrastreichem Schwarzweiß einen intensiven Blick auf die Verhältnisse.
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Am 26. März 2016 sprachen sich bei einer Volksbefragung 51,89 Prozent der Befragten für einen Austritt Großbritanniens aus der EU aus.

Als sich Benita Suchodrev im Sommer 2017 auf den Weg nach Blackpool macht, um die Reise eines befreundeten Künstlers mit der Kamera zu dokumentieren, liegt der 14.November 2018 - der Tag, an dem sich die EU und die Regierung Großbritanniens auf ein Austrittsabkommen einigen - noch in weiter Ferne. Es machen sich nach medialen Fake News - Wellen, Beschimpfungen, parteiinternen Niederlagen und Rücktritten Verwirrung und Erschöpfung breit, die im Grunde bis heute anhalten.

Suchodrevs Buch "48 Hours Blackpool" ist also weder vom Anlass noch vom Zeitpunkt her jenes Brexit-Buch, als das es seit seinem Erscheinen in den Medien präsentiert wurde - auch wenn die zeitliche Koinzidenz seinem Erfolg natürlich nicht geschadet hat.

In Wahrheit begann der Abschwung in Blackpool lange, bevor es das Schengen-Abkommen oder die diversen Auswirkungen der Globalisierung überhaupt gab. Anders als in Liverpool und Manchester, die sich nicht zuletzt mit EU-Subventionen wirtschaftlich neu orientieren konnten, hat es in Blackpool nie einen Plan B zum Dasein als nationale Vergnügungsmeile für Arbeiter und Angestellte gegeben, zu der der Badeort im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde. Als in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Pauschalreisen aufkamen und die traditionelle Kundschaft die sonnigen Strände Spaniens entdeckte, wo man im Gegensatz zur rauen irischen See auch baden konnte, war in Blackpool ebenso Schicht im Schacht wie wenig später im britischen Kohleabbau. Die Verhältnisse in Blackpool sind also auch nicht - wie in manchen Buchbesprechungen vorschnell behauptet - das Erbe der Ära von Margaret Thatcher, die erst 1979 Premierministerin wurde.

Wo aktuell exzessive Junggesell*innenabschiede gefeierten werden, gab es in den Siebzigern Massenschlägereien von Rockern und Mods am Strand. Zog es die Leute früher in Bingohallen, finden sie sich heute in Spielcasinos und Table Dance Bars ein. Die Rummelbuden, die Achterbahn, Fish'n'Chips und das Bier in den Pubs sind geblieben, aufgehoben im harten Schlummer der Opioide und Amphetamine - dass Blackpool mit die höchste Verschreibungsrate von Antidepressiva, die meisten Arbeitsunfähigen und die niedrigste Lebenserwartung bei Männern in Großbritannien hat, dürfte niemand überraschen.

Benita Suchdrov, 48 Hours Blackpool, Foto aus dem besprochenen Band.



Als Suchodrev in Blackpool ankommt, verfällt sie sogleich der bizarren Atmosphäre der Feiermeile, wirft sich mit ihrer Kamera ins Getümmel. Sie folgt der endlosen Prozession entlang der Strandpromenade, macht sich ihren Rhythmus zu eigen: akut, unablässig, von fiebriger Lethargie erfasst. Die kontrastreichen Schwarzweißfotos, die dabei entstehen, sind geleitet von der hoch stehenden Sonne, die an Körpern, Kinderwägen und Laternenmasten Schlagschatten wirft, und deren gleißendes Licht die Spuren der vergangenen Nacht aus den Gesichtern brennt.

Manchmal hält Suchodrev inne und wendet sich dem Rand des Geschehens zu: auf Parkbänken, neben einer Schießbude, am mit dunklen, öligen Schlieren befleckten Gehsteig - wo ein Mädchen gedankenverloren an ihrem Handy knabbert, während ihr Kajal in schwarzen Tränen die Wangen hinabrinnt, weil die heftige Verliebtheit doch nur eine schnelle Nummer war. Wo kleine Jungs in Shorts an Straßenecken lehnen und hinter einer Ray-Ban-Fake-Sonnenbrille nicht wissen, was sie mit der Tatsache anfangen sollen, dass sie bereits viel zu viel gesehen und erlebt haben, das üblicherweise nicht für die Augen von Kindern dieses Alters bestimmt ist. Wo eine Möwe von einem Mülleimer hochfliegt und plötzlich von der Präsenz der an diesem Ort beinah in Vergessenheit geratenen Natur kündet.

Vier Tage (und nicht zwei, wie oft geschrieben) gibt sich Suchodrev diesem Arbeitsrausch in Zwölfstunden-Schichten hin, der sie ebenso unverhofft getroffen hat wie die von ihr Porträtierten.

Obwohl Suchodrevs Buch in der Tradition von Bruce Gildens "Coney Island" (1969-86) - dem historischen Pendant zu Blackpool und Brighton in Brooklyn - und  Eugene Richards' "Dorchester Days" (1978) steht und sowohl medial als auch kommerziell ein veritabler Erfolg ist, stellen ihre Verwendung eines starken Kontrastes, eines extremen Weitwinkels selbst bei Nahaufnahmen und ihr impulsiver, instinkthafter Gebrauch der Kamera eine Außenseiterposition dar, die gern auf ihre Qualität als Fotoreportage reduziert wird.

Die Weihen der künstlerisch wertvollen Fotografie erhalten traditionell eher stillere, klarere Bilder wie die von Chris Killip, der 1973 das harte Leben einfacher Arbeiter auf seiner Heimatinsel "Isle of Man" in einem Buch festgehalten und 1974 die Arbeiterstadt "Huddersfield" im Hinterland von Blackpool porträtiert hat. In den Arbeiten der jüngeren Generation wird auf dem Fundament von Robert Frank bis Stephen Shore vor allem der Einfluss von Paul Graham und Alec Soth spürbar.

In Deutschland, in der die Gegenwartsfotografie immer noch mit der Erblast der stillebenhaften Standfotografie der Düsseldorfer Schule zu kämpfen hat, erschien Ende letzten Jahres mit "Kleinstadt" ein gefeiertes, neues Fotobuch der "Ostkreuz" - Legenden Ute und Werner Mahler, in dessen besten Bildern man wieder einmal die kompositorische Feinnervigkeit der Mahlers bewundern kann, deren ästhetischer Ansatz als solches jedoch in die Jahre gekommen ist und dafür bei weitem zu viel Einfluss hat.

Strandpromenade. Foto aus dem besprochenen Band.



Mehr noch als im bei Kehrer erschienenen Buch ist die Intensität von Suchodrevs Bildern auf der Ausstellung im Willy-Brandt-Haus noch bis zum 12. Mai in Berlin zu erleben. Auch wenn man Suchodrevs fotografischer Ästhetik und Erzählweise nicht unbedingt folgen will, stellt die Arbeit gerade in Deutschland einen zeitgenössischen Wurf im Genre "Street Photography" dar, den anzuschauen und zu reflektieren man sich nicht entgehen lassen sollte.

Benita Suchodrev, 48 Hours Blackpool. 160 Seiten, 30x24 cm, gebunden. Kehrer Verlag, Heidelberg 2018, 39,90 Euro. ISBN 978-3-86828-870-4. (Bestellen bei buecher.de)