Albrecht Selge

Fliegen

Roman
Cover: Fliegen
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2019
ISBN 9783737100670
Gebunden, 176 Seiten, 20,00 EUR

Klappentext

Eine Frau auf unendlicher Reise. Sie lebt im Zug, in Großraumabteilen, in ICEs. Früher hatte sie ein normales Leben: Wohnung, Beruf, Mann, beste Freundin. Jetzt hat sie eine Bahncard 100, eine Tasche mit dem Nötigsten und lebt vom Flaschensammeln. Und doch scheint diese Außenseiterin hellsichtig. Für die Komödien und Tragödien um sie herum, für ein Deutschland ohne Orientierung. Die Geschichte eines Sturzes? Eine Geschichte übers Aufstehen und Weiterfahren, über Obdach und Würde.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 26.09.2019

Rezensentin Sabine Vogel empfiehlt Albrecht Selges "kleinen großen" Roman. So unscheinbar ist, was Selge erzählt, dass Vogel es kaum beschreiben kann, und doch berührt sie die Geschichte einer Außenseiterin, die mit der BahnCard 100 durchs Land fährt, sich in Bahnhofstoiletten wäscht und Pfandflaschen sammelt, tief. Über Ausgrenzung, Verlust an Teilhabe und Verlassenheit lässt sich kaum eindrücklicher schreiben, findet Vogel. Selges Wortknappheit und die Komik so mancher Sätze beeindrucken Vogel. Handlung, Spannung und Höhepunkte braucht es da gar nicht, meint sie, und auch keine Tragödie.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 26.06.2019

Als "wunderbare Lektionen in Leichtigkeit" preist Rezensent Andrej Klahn die Romane Albrecht Selges an, auch wenn der Schriftsteller, der seine Protagonisten bisher zu Fuß oder im Fiat Panda durch die Welt schickte, deutlich an Geschwindigkeit zugelegt habe: In seinem neuen Roman "Fliegen" ist seine Protagonistin im ICE unterwegs. Weil sie sich keine Wohnung leisten kann, hat die namenlose Frau ein paar tausend Euro Flaschengeld gesammelt, um sich eine Bahncard 100 kaufen zu können, erfahren wir vom Rezensenten, nun fährt sie durch die Republik und blickt aus dem Großraumwaggon auf das bodenständige Leben der anderen. Mit fernwehen Versen von Hölderlin, Novalis und Eichendorff durchzogen, entwickele sich die Erzählung einer Verweigerung zu einer berührenden Geschichte eines beschädigten Lebens, meint der Rezensent.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 10.04.2019

Um zu fliegen, muss man nur mit der Protagonistin dieses Romans Bahn fahren, allerdings "gegen die Fahrtrichtung", empfiehlt Rezensent Paul Jandl. Er lobt nicht viel, versteht es aber, durch die Art, wie er nacherzählt, eine wirkliche Empfehlung für diesen Roman auszusprechen, der nicht nur eine Bahn-Eloge sei: Die Protagonistin kann sich von der knappen Rente keine Wohnung leisten, kauft sich stattdessen eine Bahncard 100 und steigt fast nicht mehr aus. Nur am Geld liegt das nicht, meint Jandl, sie habe wohl eher Angst, "ins Leben hineinzufallen". Und ihr tollster Trick: Wenn die Bahn Verspätung hat, lässt sie sich die ihr zustehende Entschädigung auszahlen und kann in den Speisewagen gehen. Selges Roman ist sprachlich ein bisschen altmodisch, die Protagonistin liest Eichendorff (oder auch Hera Lind, wenn das in den Bücherkisten am Bahnhof herumsteht), aber mit seiner prekär lebenden Hauptfigur auch sehr zeitgenössisch, meint Jandl. Er ist auch, wenn man dem Rezensenten glaubt, eine Meditation über stille Verweigerung - also auch gute Literatur.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 15.03.2019

Rezensent Ulrich Rüdenauer sieht in Albrecht Selges Roman über eine ICE-Vagabundin die zentrale Lebenserfahrungen unserer Zeit parabelartig verbildlicht: Das ständige Auf-dem-Weg-sein und doch-nie-Weiterkommen. Aber wie schreibt man einen Roman über den rasenden Stillstand, ohne zu langweilen? Selge ist das nach Meinung Rüdenauers gelungen, wenngleich sich die Eintönigkeit des Lebens seiner Protagonistin auch in die Lektüreerfahrung des Lesenden einschleicht. Rüdenauer betrachtet das allerdings nicht als Nachteil. Was "Fliegen" trotz Ödnis der äußeren Umstände absolut lesenswert mache, sei die faszinierende Möglichkeit, sich lesend einer Figur so sehr zu nähern, dass man sie ihre Wahrnehmungen fast am eigenen Körper spürt. Die träumerisch tappende, hüpfende, fast idiosynkratische Sprache der Zug-Nomadin führt uns laut Rüdenauer hinein in ihre Gedanken und Gefühle, die von den Versen eines romantischen Gedichtbandes durchzogen, und vom ständigen Abschied geprägt sind - eine Innenwelt, die sich immer weiter von der Außenwelt abkoppelt, sodass man ihr langsam, "beim Vergehen zuschauen" kann, so der im wahrsten Sinne des Wortes hingerissene Rezensent.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 14.03.2019

Die Protagonistin in Albrecht Selges Buch hat nichts mehr - keinen Mann, kein Heim, keinen Job -  alles ist ihr im Laufe ihres Lebens abhanden gekommen, erzählt Rezensentin Franziska Wolffheim. Heute besitzt sie nur noch ihre Erinnerungen, ein paar Bücher und eine Bahn-Card 100, mit der sie Woche für Woche im Zug durch Deutschland fährt. Tagsüber sammelt sie Flaschen ein und nachts liest sie und grübelt manchmal stundenlang über einen einzigen Vers nach, erfahren wir. Dass die Schilderungen eines solchen Lebens nicht in absolute Trostlosigkeit abgleiten, verdankt dieser Roman dem Humor seiner Protagonistin, ihrem scharfen Blick für ihre Mitfahrer und der Gabe des Erzählers, "Komik und Schwermut" zu einer wunderbaren Melange zu verbinden, so die angetane Rezensentin. Diese Mischung wird auch sprachlich deutlich, meint Wolffheim, und zwar wenn Selge Alltagsjargon mit Hochsprache zusammenfließen lässt, die der Kritikerin nur selten allzu "gestelzt" erscheint.
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