Wo wir nicht sind

Der Bauplan des Großen Zimmermanns

Eine Kolumne zur Weltliteratur. Von Thekla Dannenberg
09.12.2021. Maria José Ferrada erzählt in ihrem Roman "Kramp" vom Leben im Chile des Augusto Pinochet aus der Sicht einer Achtjährigen. Die feinsinnige Parabel liest sich wie das Gegenstück zu der krachenden Revolte, die das Land im Oktober 2019 erfasst hat.
In María José Ferradas Roman "Kramp" muss sich M., die achtjährige Ich-Erzählerin, ihre eigene Welt zurechtzimmern: Ihre schöne Mutter ist in Traurigkeit versunken, ihr Vater ein Vertreter für Eisenwaren eben jener Marke Kramp, die Solidität verheißt: Ein Haus, das auf Kramp baut, sei erdbebensicher, lernt M., während sie mit ihrem Vater über die Dörfer tingelt, um Hämmer, Schrauben und Fuchsschwänze zu verkaufen. D. ist auf seine Art ein freundlicher Vater, aber ein ungewöhnlicher Lehrmeister. Er lässt M. rauchen, in Cafés sitzen und die Schule schwänzen. Seine Ratschläge sollen fürs Leben taugen: Mit Entschlusskraft und dem richtigen Anzug ist alles möglich, erklärt er seiner Tochter, vielleicht gehöre auch noch ein bisschen Glück dazu. Geh immer ins beliebtestes Café.

Die kluge M. leistet ihrem Vater auf den Verkaufstouren hervorragende Dienste: Sie lernt, die Sympathien auf sich zu lenken, sie kann je nach Bedarf ihr Gesicht verziehen, melancholisch, verzweifelt, niedlich. Vor allem aber begreift sie schnell, was die Welt zusammenhält: Das Große und das Kleine müssen zusammenwirken, denn auch ein gigantisches Gerüst ist eine Konstruktion aus lauter Einzelteilen. "Eine einzige Schraube, die nicht festsitzt, kann das Ende der Welt herbeiführen."

Der Bauplan des Großen Zimmermanns leuchtet ihr ein, doch alles durchblickt sie nicht: Wer ihre Arbeitszeit so festlegt, dass sie abends punkt neun zu Hause sein müssen, welche Gespenster der Fotograf E. sucht, den sie manchmal in ihrem Auto mitnehmen. Und ob die stets blankgeputzten Schuhe des Vaters vielleicht davon ablenken sollen, dass er eben nicht den richtigen Anzug trägt.

Sehr kunstvoll, sehr poetisch und sehr dezent erzählt die 1977 geborene Maria José Ferrada aus dem Chile des Augusto Pinochet. Nicht alles ist leicht zu deuten. Ganz vage nur bekommt M. mit, dass Militärpatrouillen die Straßen säumen, Ausgangssperren das Leben reglementieren, Menschen verschwinden und getötet werden. In die von einem Mordkommando hinterlassenen Einschusslöchern fantasiert sich das Mädchen Schicksalskäfer, die sich an den Stellen niederlassen, an denen das Leben eine andere Richtung nimmt. Deutlicher sind Anklänge an Peter Bogdanovichs tragikomisches road movie "Paper Moon", aber auch an Harper Lees Roman "Wer die Nachtigall stört", beides Werke, die in den siebziger Jahren prägend waren, auch wenn sie mittlerweile vielleicht ein bisschen aus der Zeit fallen. Im Falle von "Kramp" wird sich allerdings die Mutter als die politische Kämpferin erweisen.

Die von Peter Kultzen mit zartem Witz ins Deutsche übertragene Parabel ist ein schönes Gegenstück etwa zu Robert Bolaños autobiografischer Erzählung "Cowboygräber", die im vorigen Jahr aus dem Nachlass des chilenisch-mexikanischen Großautors herausgegeben wurde. Die Erzählung ist nur eine Skizze, doch Bolaño schildert darin, wie er 1973 als junger Mann von Mexiko nach Valparaíso reiste, um sich der chilenischen Revolution unter Salvador Allende anzuschließen. Aber er kam zu spät: Ihm bleibt nur, im Widerstand gegen die Putschisten eine klägliche Figur abzugeben. So unfertig der Text auch erscheinen mag, Bolaños literarische Potenz ist voll entfaltet, sein Drive, seine Ironie und diese unübertroffene Fähigkeit, das große Welttheater aufzuspannen, indem er seine Helden nach Liebe und Lyrik suchen lässt.

Aber Ferradas stiller Roman ist auch ein Gegenstück zu der krachenden Revolte, die das brave Land hinter den Anden erschüttert hat. Im chilenischen Original ist "Kramp" 2017 erschienen, man merkt ihm die Samthandschuhe an, mit denen er alle heikle Themen berührt. Was für ein Unterschied zu den Eruptionen von Wut und Kreativität, die von Santiago ausgingen, etwa zu der Performance "El violador eres tú", mit der junge Feministinnen auf Chiles Plätzen gegen sexuelle Gewalt protestieren: "Das Patriarchat ist ein Richter, der uns dafür verurteilt, als Frau geboren zu sein", singen sie: "Unsere Strafe ist die Gewalt, die niemand sieht." Hier stehen Kombattantinnen auf dem Platz!

El estallido, der große Knall vom Oktober 2019, hat das Land umgewälzt. Die Proteste hatten sich ebenso an der Preiserhöhung für Metrotickets zu Stoßzeiten entzündet wie an der Äußerung des Wirtschaftsministers, dann sollen die Leute halt früher aufstehen, wenn sie sich die teureren Fahrten nicht leisten können. So viel Marie-Antoinette-haftigkeit war selbst den Chileninnen und Chilenen zu viel, die seit Jahrzehnten die Privatisierung von Bildung, Gesundheit, Renten und Wasserversorgung dulden - seit Augusto Pinochet während seiner Militärdiktatur den Neoliberalismus mit einer auf sein System zugeschnittenen Verfassung im Jahr 1980 zementierte. Seither können Gesetze, die grundlegende Besitzverhältnisse betreffen, mit einer Zweidrittel-Mehrheit geändert werden.

Eine hervorragende  Reportage über das heutige "Chile auf den Barrikaden" ist im New Yorker zu lesen. Daniel Alarcón schildert darin, wie sich der aufgestaute Unmut über soziale Ungerechtigkeit und Überschuldung - Chile ist innerhalb der OECD das Land mit der zweitgrößten Ungleichheit - in Zorn und Militanz Bahn brach. Bei den Demonstrationen wurden ganze U-Bahnhöfe in Schutt und Asche gelegt. Alarcón schildert aber auch surreal-komische Szenen wie aus einem Buñuel-Film: "Eines Abends saß ich in einem Straßencafé, als ein Polizeiwagen mit Blaulicht heranrollte. Augenblicklich ließen alle Gäste in meinem Lokal und auch in dem nebenan, Messer und Gabel, Bier und Servietten fallen und warfen den Polizisten Vulgaritäten an den Kopf. Es ging ganz schnell, eine reflexhafte, automatische Reaktion: '¡Fuera paco culiao! Verzieht Euch, Ihr Scheißbullen!' Dann nahmen alle wieder ihre Gespräche auf, als ob nichts geschehen wäre." 

Sehr bewegend schrieb auch der 1973 ins Exil gegangene Dramatiker Ariel Dorfman in der New York Review of Books über die Ereignisse: Seine "Aufzeichnungen von einer Revolte" kreisen um die Plaza Baquedano, die von den Demonstranten in Plaza de la Dignidad umbenannt wurde. Dabei erwies sich der Platz im Zentrum Santiagos immer wieder als der Ort, an dem der Widerstand kulminierte: "Irgendwann ging mir auf, dass General Baquedano auf die ärmeren Viertel Santiagos blickte, als wollte er sich den Horden entgegenstellen, die eines Tages in Versuchung geraten könnten, die Linie zu überqueren, die die Reichen von den weniger Begünstigten trennte, ein Abgrund, der die Geschichte des Landes durchzieht, seit die spanischen Konquistadoren die indigenen Einwohner von ihrem angestammten Land vertrieben und ein semifeudales System errichteten, das Tagelöhner, Land und Minen ausbeutete."

Dorfman ist in Chile aufgewachsen, er hat erlebt, wie die Unidad Pupoplar unter dem Sozialistischen Präsidenten Salvador Allende an die Macht kam und wie drei Jahre später das Militär unter Augusto Pinochet mithilfe der CIA putschte. Die Junta schaffte die Demokratie ab, verwandelte Santiagos Fußballstadion in ein riesiges Gefangenenlager und das Land in ein Labor des Neoliberalismus. Patricio Guzmáns dreiteilige Dokumentation "Die Schlacht um Chile" (hier, hier und hier) , eine epische Chronik des Putsches als Konterrevolution der Bourgeoisie, die der chilenische Filmemacher unter Lebengefahr aus dem Land schmuggeln musste, gehört noch immer zu dem Meilensteinen des revolutionären Kinos.

Dorfman blickt nicht unkritisch auf die Proteste und ist weit davon entfernt, seine eigene Vergangenheit zu glorifizieren. Aber natürlich reißen auch ihn die Dynamik und Aufbruchstimmunng mit, die das linke Lateinamerika elektrisiert haben, von deren Energie sich nur wenig über den Atlantik getragen hat. Selbst Víktor Jaras  sanfte Widerstandshymne "El derecho de vivir en paz" schallte wieder über die Plaza de la Dignidad. In seinem Text warnte Dorfman vor einer Selbstüberschätzung der Protestbewegung, die sich angesichts ihrer Stärke in den sozialen Medien in falschen Gewissheit wiegen könnte.

Tatsächlich gingen nur die ersten beiden Runden an die Linke: Sie hat das Referendum für eine neue Verfassung durchgesetzt und die Mehrheit im Verfassungskonvent erzielt. Anfangs hatten auch weite Teile der Konservativen den Reformprozess unterstützt, doch der ultrarechte Politiker José Antonio Kast, ein Pendant zu Jair Bolsonaro, hat diese moderaten Kräfte mit einer schrillen Gegenkampagne zur Seite gefegt. Er steht bei den Präsidentschaftswahlen am 18. Dezember in der Stichwahl gegen den früheren linken Studentenführer Gabriel Boric. Den Umfragen zufolge liegt Kast vorn. Es ist laut geworden in Chile.

Maria Jose Ferrada: Kramp. Roman. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Berenberg Verlag, Berlin 2021, 129 Seite, 22 Euro. (Bestellen)