Vorworte

Leseprobe zu Margaret Laurence: "Das Glutnest"

Über Bücher, die kommen.

Zurück zu Angela Schaders "Vorwort".

==================

Am Morgen ist der Himmel wie das helle Wasserfarbenblau aus dem Malkasten. Warm-kühl, die Luft riecht nach Gras und nach dem Regen von letzter Nacht. Am Bluejay Crescent
wiegen sich die Zweige des Goldregens mit seiner gelben Blütenlast leicht im Wind, und die Blätter der dicken Kastanien sind grüne ausgestreckte Hände. Kinder, die noch nicht zur Schule gehen, sind schon im Freien, flitzen mit ihren Wägelchen und Dreirädern die Bürgersteige auf und ab. In der Ferne bilden die Berge die Mauern und Grenzen der Stadt, einige davon sogar jetzt noch schneebedeckt, als würde dieser Ort zwei Welten angehören, zwei Jahreszeiten zugleich.

"Komm, Blümchen. Wir gehen einkaufen."

Jen erwidert etwas Unartikuliertes, dann beginnt sie zu singen, nicht laut, aber erkennbar die Melodie eines Liedes, das Duncan mal von der Schule mit nach Hause gebracht hat.

"Na, das ist ja was. Wie schön du singen kannst. Wie wär's denn mal mit dem Text?"

- Ich seh's schon vor mir. Jennifer MacAindra, der einzigartige nichtsprechende Weltstar der Oper. Sehr witzig, Stacey. Und, bist du in der Zwischenzeit mit ihr bei Dr. Spender gewesen, nur vorsichtshalber? Bist du nicht. Er ist immer so beschäftigt und ich find's furchtbar, ihm mit Lappalien auf die Nerven zu gehen. Mac hält mich für verrückt, dass ich mir Gedanken mache, und wahrscheinlich bin ich's wirklich. Die Wahrheit ist, ich hab Angst davor, mit ihr zum Arzt zu gehen.

Stacey setzt Jen in den Chevy und sie fahren zum Supermarkt.

- An so einem Tag hat doch jeder gleich bessere Laune. Ich komm nicht genug aus dem Haus. Meine Grenzen sind meine eigenen vier Wände. Und, wessen Schuld ist das? Gut, meine eigene. Abends bin ich viel zu erschöpft für umfassende kulturelle Erfahrungen, was immer man darunter versteht. Dieser Feger aus Aspekte des städtischen Lebens. Das hat sie gesagt. Was wir brauchen, sind umfassende kulturelle Erfahrungen. Damals dachte ich, sie meint wahrscheinlich, dass sie nicht genug gevögelt wird. Und was mache ich? Sitze da und nicke und lächele und stimme ihr zu. Ich schwöre, das war mein allerletzter Abendkurs. Was ist noch von mir übrig? Wo bin ich hin? Ich hab's mir selber eingebrockt, ohne es zu merken. Wie hört man auf zu lügen? Wie kommt man da raus? Das ist Irrsinn. Ich sitze nicht in der Falle. Ich habe alles, was ich immer haben wollte.

"Gut festhalten, Püppchen, und lass den Kopf drin, hörst du?"

Unten in den Straßen am Strand, wo Stacey oft mit den Kindern hinfährt, stehen reihenweise hohe, alte, baufällige Holzhäuser ohne vernünftige Feuertreppen. Bewohnt von wem? Sandalentragenden Künstlern, die im Reigen mit der Unsterblichkeit in diesem Leben so eben über die Runden kommen? Zungenfertigen Dichtern, die nur ihren eigenen Predigten lauschen? Langhaarigen Halbpropheten, behangen mit Ketten aus Samen oder Glasperlen, Pseudoschmuck, aber echt genug für ihre Zwecke? Lässigen langbeinigen Mädchen, die eine neue Sprache sprechen, die lieben, wen sie Lust haben, wann sie Lust haben, ohne Reue oder Repressalien?

- Die Welt verändert sich so schnell, ich komm da nicht mehr mit. Was weiß ich davon? Nur das, was ich in der Zeitung lese. Worüber denken diese Leute nach? Woher sollte ich das wissen? Was halten sie von mir? Love-In im Park. Stand vor ein paar Jahren mal in der Zeitung. Wir wollen lieben, nicht schikanieren, sagt der Wortführer. "Wen denn lieben?", fragte der Reporter. "Alle Menschen", hieß es tapfer, wenn auch tollkühn. Warum wurde ich das ungute Gefühl nicht los, dass dieses Generelle und Großzügige genau einen Schritt vor mir haltmachen würde? Ich wollte mich erklären. Ich will es immer noch. Wartet mal, Leute! Lasst es mich erklären. Ich bin nicht das, wonach es vielleicht aussieht. Oder wenn doch, ist es mir unmerklich passiert, so wie ich die Reste von den Tellern der Kinder esse und zehn Jahre später die feste Speckrolle entdecke, die komischerweise jetzt unter meiner Haut wohnt. So war ich früher nicht. Ich war mal ganz anders.

Stacey reist mit leichtem Gepäck, sie hat keine Angst in der Sonne, sie schwimmt weit hinaus, als wäre der Ozean seicht und vertraut, sie trinkt ohne Demut, liebt verschwenderisch in den Tagen, als Fleisch und Liebe unzerstörbar waren.

"So, Blümchen, da wären wir. Hoffen wir mal, dass es nicht zu voll ist."

- Wie wird es sein, wenn Jen erstmal zur Schule geht? Dann werde ich aufpassen müssen, sonst fange ich eines Tages noch an, Selbstgespräche zu führen, wenn ich allein bin unter den Schoko-Frosties und Honig-Flops, und die jungen Muttis (verdammt - mir scheint, sie werden von Jahr zu Jahr jünger) werden ihre prallgefüllten Einkaufswagen voller Lebensmittel und Babys an mir vorbeischieben und befangen lächeln und so tun, als hätten sie nichts bemerkt.

Die langen Gänge des Tempels. Seitenkapellen aus silberblitzendem Chrom, wo Fischleichen zwischen eisigen Erdbeeren liegen. Die Berge der Opfergaben, gelbe Grapefruitplaneten, Dschungel aus Gartensalat, Fühler von Frühlingszwiebeln, arktische Ausdünstungen mit Himbeer- und Orangengeschmack, tausend bärengesichtige, mausgeschichtige, raumbeschiffte, plastikbeschenkte, seltsam verwandelte Hafer- und Weizenfelderkeime. Unsichtbare Chöre hymnen vor sich hin.

I'll be seeing you
In all the old familiar places

Diamond Lake, fünfzig Meilen nördlich von Manawaka. Nachts schwiegen die Fichten inständig still, dunkel und unwandelbar wie alte Indianergötter, und stützten den sternenschweren Himmel. Der Pfad des Mondes erhellte den schwarzen See. Die Fische tanzten und die tieffliegenden Nachtvögel drehten Pirouetten, huldigten dem sinkenden Licht, den Fetzen des Himmels. Und dort unter dem lilagrünen Neonsternenlicht der Wapakata-Tanzbar tanzte Stacey Cameron mit dem Flieger aus Montreal. Er hielt sie fest im Arm, presste sich an sie mit seinem Geschlecht. Dann meilenweit den Strand entlang, der Sand noch warm vom Tage unter ihren nackten Füßen, bis sie den laubbedeckten Berghang erreichten. Das schweigende Einvernehmen des Waldes für die unausgesprochenen Pläne spürend. Stacey, ängstlich zwar, aber allzu begierig aufs Loslassen. Unerwartet wuchs sie ihm entgegen, ohne eine Ahnung gehabt zu haben, dass es so zu sein hatte, alles konzentriert auf den Kreuzungspunkt ihrer Verschmelzung. Ein Aufschrei von beiden, und dann schlummerten sie und erwachten empfindlich, und es war fast Morgen dort auf dem krausen gelbgrünen Moos des fichtenbeschirmten Berghangs mit dem Plätschern des Sees in ihren Köpfen.

- Was ist wohl aus ihm geworden? Wie ist es ihm ergangen? Tot über Deutschland? Die Lokalzeitung druckte immer nur die Listen der Gefallenen aus der eigenen Provinz. Betreibt er ein Schuhgeschäft in Montreal? Eine Bar in Antigonish? Eine Ranch im Cariboo? Fragen über Fragen.

Auf einmal geht Stacey auf, was los ist. Letzte Woche lief Popmusik, ebenso die Woche davor. Ein neuer Filialleiter vielleicht, jemand, der das Alter der Frauen kennt, die hier das meiste Geld lassen.

- Reingelegt, mal wieder. Gezwungen, mich zu erinnern. Jetzt bin ich mir nicht mal sicher, ob diese Musik nicht schon seit Wochen oder Monaten läuft. Wie lange schon erinnere ich mich, ohne es zu merken? Al, war das wirklich über zwanzig Jahre her? Al Duschesne, halb Franzose, halb Engländer, erklärte, gleich doppelt Außenseiter zu sein. Eine halbe Nacht lang gehörtest du in meinen Körper. Ich weiß noch alles über dich. Deine goldenen Härchen auf dem Bauch und an den Unterarmen im Licht des nahen Morgens. Dein Geschlecht. Alles. Ich wünschte, ich könnte dich wiedersehen. Nein, stimmt nicht. Ich würde nicht wollen, dass du mich so siehst, in meiner jetzigen Form. Klar, auch du wirst dich verändert haben. Aber nicht so sehr. Frauen leben länger, mag schon sein, doch sie altern schneller. Gott hat einen kranken Humor, wenn du mich fragst.

Jen sitzt vorne im Einkaufswagen, baumelt mit den kurzen Beinchen und fängt an zu singen, ein Summen, aber mit Melodie. Ihr schmales, zartes Gesicht sucht das von Stacey, und ihre Augen sind wachsam, zögerlich vor Hoffnung. Stacey lächelt rasch.

"Hey, du machst Fortschritte, Blümchen. Prima."

- Stacey, wie kannst du es wagen, dich über irgendetwas zu beklagen? Hör zu, lieber Gott, ich wollte das nicht. Lass nur keinem von ihnen etwas zustoßen, ja? Ich hab alles bekommen, was ich mir gewünscht habe, ich hab einen Mann geheiratet, den ich liebe, und ich hab meine Kinder bekommen. Ich weiß, dass alles in Ordnung ist. Ich wollte mich nicht beklagen. Ich tu's nie wieder. Versprochen.

Duncan und Ian, letzten Sommer am Strand, raufend und spaßend, die dünnen braunen Beine und Arme, die flammenden Haarschöpfe, die Haut nach Sand und Salzwasser duftend. Meereskinder. Fehlte nur, dass sie Kronen aus Seetang tragen und auf Delfinen reiten.

- Bitte. Lass es ihnen gutgehen, ihr Leben lang, allen vier Kindern. Lass mich sterben, bevor sie es tun. Aber nicht, bevor sie erwachsen sind, was würde sonst aus ihnen werden?

Mit freundlicher Genehmigung des Eisle Verlags