Vorworte

Leseprobe zu Adania Shibli: Eine Nebensache

Über Bücher, die kommen.

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Fahles Morgenlicht legte sich über die Hügel rund um das Lager, wo sich die gerade aufgestandenen Soldaten bewegten. Manche kamen aus ihren Zelten, andere verschwanden wieder darin und wieder andere reihten sich in die Schlange am Wassertank ein, ein Handtuch über der Schulter oder um den Nacken, und warteten darauf, den Wasserhahn benutzen zu können. Als er durch das Haupttor kam und die Wartenden passierte, nahmen sie Haltung an, legten zum Gruß rasch die rechte Hand an die Stirn und blickten dabei starr ins Leere.

Eine warme Dunkelheit kauerte in seiner Hütte. Er schloss die Tür hinter sich, ging zum Tisch, löste den Munitionsbeutel und legte ihn darauf ab, dann zu seinem Bett, lehnte das Gewehr rechts von sich an die Wand und setzte sich hin. Eine Zeitlang verharrte er reglos, während die Dunkelheit sich nach und nach verflüchtigte und Einzelheiten im Raum erkennbar wurden. Die Krämpfe erfassten inzwischen seinen gesamten Körper. Vorsichtig beugte er sich zu seinen Füßen vor und zog die Stiefel aus, die der Sandstaub von braun zu blassgelb umgefärbt hatte. Er fasste sie mit beiden Händen, erhob sich mühsam und mit schmerzverzerrtem Gesicht, lief zur Tür, öffnete sie, stellte sich in den Eingang der Hütte und schlug die Stiefel aneinander, was eine Aureole aus Staub aufsteigen ließ. Dann ging er wieder hinein, schob die Stiefel unter den Stuhl, zog Hemd und Hose aus und legte beides auf die Lehne, setzte sich auf die Bettkante und betrachtete den Verband über der Bisswunde an seinem linken Oberschenkel. Die gelbe Salbe war durch den weißen Mull gesickert. Er hob den Kopf und ließ seinen Blick langsam durch den Raum wandern, wobei er den durch die Ritzen gleißenden Strahlen der Morgensonne auswich. Nach der Inspektion des Raumes streckte er sich vorsichtig auf der Matratze aus. Prompt tanzten ihm schwarze Flecken vor den Augen, zu denen sich Möbelstücke und Gegenstände gesellten: erst der Tisch, dann der darauf liegende Munitionsbeutel, dann die Truhe, die Schüssel, die Nägel in der Wand, seine Kleidung auf dem Stuhl, die Stiefel darunter, die Lichtkleckse an Decke und Tür, schließlich das Lager, die dunklen Dünen, der Abhang und der rutschende Sand, der Mond, der finstere Horizont, seine Kleidung auf dem Stuhl, die Nägel in der Wand und der Verband, den er sich vom Bein wickelte … Er sprang vom Bett auf und setzte sich wieder hin. Der Verband war noch an Ort und Stelle. Nach einer Weile streckte er die Hand danach aus und wickelte ihn langsam ab. Eine Hand nahm der anderen die Mullbinde nach jedem Halbkreis ab, und das Gelb der Salbe erschien immer wieder an derselben Stelle, in immer dunklerer Tönung, bis der Verband ganz ab war. Als sein Blick auf die Bissstelle fiel, sprang er mit gerecktem Kopf vom Bett auf und schluckte mehrfach schnell hintereinander. Dann besah er sich den Verband, der von seiner rechten Hand baumelte. Nicht nur erstreckten sich die gelben Salbenflecke über seine ganze Länge, sondern das Gewebe war an mehreren Stellen verzogen. Er ging zum Tisch, legte den Verband neben den Munitionsbeutel, senkte den Kopf und betrachtete erneut die Schwellung auf seinem Oberschenkel. In der Mitte war sie voller Eiter und eingefasst von einem roten Ring, dann einem blauen und einem schwarzen.

Er verbrauchte die Hälfte des noch im Kanister befindlichen Wassers, um sich zu waschen, nahm frische Kleidung aus seiner Tasche und aus der Truhe daneben einen neuen Verband, etwas Watte, Desinfektionsmittel und die Salbe. Er ließ Antiseptikum auf die Watte tropfen und reinigte vorsichtig die geschwollene Stelle, dann tippte er mit dem Zeigefinger in die Dose mit der Salbe und verrieb etwas davon auf der Bissstelle. Die Prozedur wiederholte er ein zweites, drittes und viertes Mal, bis die Salbe die Schwellung fast überdeckte. Nachdem er den frischen Verband angelegt hatte, zog er die saubere Kleidung und die Stiefel an, setzte sich auf den Bettrand und überließ seine Sinne den von außen kommenden Lauten inmitten der brüchigen Düsternis seines Zimmers.

Das Lager war nun regelrecht erfüllt von dem Lärm der Soldaten, der für gewöhnlich am Morgen und am Abend einsetzte, wenn die Temperaturen es ihnen erlaubten, ihre Kampfübungen zu absolvieren und im Lager umherzulaufen. Plötzlich sprang er von der Bettkante auf und eilte in Richtung einer der Zimmerecken. Er öffnete die Augen so weit, wie seine verschwollenen Lider es zuließen, und starrte in die Ecke, wo Wand und Decke aufeinandertrafen. Kurz darauf lief er zur Tür und stieß sie auf. Gleißendes Licht fiel auf die Schwelle, ohne das Innere der Hütte auszuleuchten, und man hörte die Stimmen der Soldaten von den Zelten her. Dann ging er zurück zu der Ecke, die er inspiziert hatte, und reckte sein Gesicht so nahe wie möglich hin, um besser zu sehen. Lange hielt er nicht durch, schon nach wenigen Augenblicken senkte er den Kopf und massierte sich heftig blinzelnd den Nacken. Er ging wieder zur Zimmerecke bei der Tür, ließ sich in die Hocke nieder und sah unverwandt auf eine Stelle. Dann wanderte sein Blick zu dem Haufen mit seinen Sachen, und er kroch auf ihn zu. An der Truhe angekommen, zog er sie zu sich und blickte dahinter. An der Rückseite kauerte eine langbeinige Spinne. Er zerdrückte sie mit der rechten Hand und kroch weiter Richtung Bett. Darunter saßen weitere, kleinere Spinnen, in ihren feingesponnenen Netzen hing ein toter grauer Käfer. Er zog das Getier hervor und zertrat es mit dem Stiefel. Dann bückte er sich wieder und hielt den Kopf knapp über dem Boden, um ihn sorgfältig abzusuchen. Dann sprang er quer durch den Raum und zertrampelte herumkrabbelndes kleines Ungeziefer.

Nun kreiste er erneut durchs Zimmer und suchte in aller Ruhe mit den Augen die Wände ab. Zwei Spinnen und ein Falter. Er beseitigte sie, dann stieg er auf den Tisch und nahm sich die Decke vor, wobei er die ursprüngliche Ecke besonders genau betrachtete, bis vor seinen Augen dunkle Flecke und Linien tanzten, alles schwarz wurde und er das Gleichgewicht verlor. Mit einem schnellen Sprung vom Tisch verhinderte er einen Sturz. Er zog den Stuhl heran, ließ sich darauf fallen, legte den Kopf auf die Tischkante und kniff die geröteten Lider zusammen.

Unterdessen krabbelte ein kleines Insekt über den Boden in Richtung Wand, schlüpfte durch einen Spalt darunter und entkam.

Nach einer Weile öffnete er blinzelnd die Augen. Er hob den Kopf und presste sich mit düsterem Gesicht die Handflächen auf die Schläfen. In diesem Augenblick drangen Kamelgebrüll und Hundegebell in die Hütte, aber die Stimmen trainierender und durch das Camp laufender Soldaten überlagerten diese Geräusche gleich wieder. Er schloss die Augen. Umgeben von der Schallkulisse, in der mal diese, mal jene Töne lauter, schriller oder näher klangen, blieb er auf seinem Stuhl sitzen. Es war der Morgen des 12. August 1949.



Bald darauf stieg er mit zwei Feldwebeln und drei Soldaten ins Auto. Sein Blick folgte seinem rechten Fuß, der zuerst auf das Trittbrett stieg und sich dann unter den Vordersitz schob, in den sein Körper fiel. Links sah er den Schaltknüppel und fünf Anzeigen, deren Zeiger nervös zitterten, bevor die schwarzen Flecke wieder auftauchten und ihm die Sicht nahmen, zuerst nur für einen Moment, dann längere Zeit.

Diesmal fuhren sie los, ohne wie sonst, wenn sie zu ihren Einsätzen aufbrachen, zunächst die Karten zu studieren. Stattdessen bedeutete er dem Fahrer, in eine bestimmte Richtung zu fahren: "Zu diesem Hügel da", sagte er knapp und zeigte mit der Hand auf eine Erhebung am Horizont.

Und während sich die Reifen durch den Sand fraßen, ihn aufwirbelten und in lange Wolken verwandelten, die wie üblich hinter dem Fahrzeug in der Luft hängen blieben, betrachteten die Insassen die Hügelketten, die einander beidseits der Piste geduldig ablösten. Aber kaum hatten sie die Erhebung erreicht, die das Ziel der Fahrt gewesen war, zeigte er schon auf eine weitere, direkt vor ihnen am Horizont. Und so setzten sie ihre Patrouille fort, fuhren von einer Anhöhe zur nächsten, bis sie endlich an einer der Böschungen anhielten, um Spuren im Sand zu untersuchen.

Sobald der Motor verstummt war und sie ausgestiegen waren, herrschte, abgesehen von den Geräuschen ihrer Schritte im Sand, fast vollkommene Stille. Nach der Suchaktion tranken alle etwas Wasser, kehrten zum Auto zurück und machten Anstalten, zu einem weiteren Hügel "da hinten" aufzubrechen, auf den er vom Beifahrersitz aus mit der Hand deutete, bevor er so tief einatmete, dass er die Augen schließen musste. Als er sie wieder öffnete, versteckte sich der besagte Hügel hinter schwarzen Flecken, die ihm vor den Augen herumtanzten wie aufgeschreckte Insekten, und er riss eine Hand ausgestreckt in die Luft, was die Soldaten umgehend zum Schweigen brachte. Kurz darauf bedeutete er dem Fahrer, den Motor zu starten, doch bevor dieser den Zündknopf betätigte, war das Bellen eines Hundes zu hören.
 


In der Ferne tauchten einige Schirmakazien und Mastixbäume auf, davor Schilf und eine kleine Quelle, die durch dünnes Geäst schimmerte. Das Auto hatte kaum angehalten, da sprang er aus seinem Sitz und rannte auf die Bäume zu, sanft angeschoben von einem sandigen Abhang, während der Rest des Trupps ihm folgte. Er sah sich nicht nach ihnen um, seine Augen waren unverwandt auf die Baumgruppe vor ihm gerichtet, hinter der zusätzlich zum Gebell des Hundes Kamele röhrten. Am Fuß des Hanges angelangt, ging er weiter auf die Vegetation zu und durchdrang das Geäst, hinter dem eine Gruppe von Arabern zum Vorschein kam, die wie angewurzelt um die Quelle herumstanden. Sein Blick traf auf ihre Blicke, und ihre Augen waren so weit aufgerissen wie die ihrer aufgeschreckten Kamele, die aufsprangen und einige Schritte davontrabten, während der Hund aufheulte. Es folgte das Geräusch von heftigem Gewehrfeuer.



Endlich war der Hund still, und es herrschte annähernd Ruhe. Zu hören waren nur noch das unterdrückte Schluchzen eines Mädchens, das, eingerollt in seine schwarzen Kleider, wie ein Käfer am Boden kauerte, sowie das Rascheln der Akazienblätter und des Schilfs, während die Soldaten diesen grünen Flecken inmitten endloser kahler Sanddünen nach Waffen absuchten und er etwas Dung begutachtete. Dann lief er um die Kamele herum, die auf dem Boden lagen und wie kleine, mit trockenem Gras bewachsene Erhebungen aussahen. Es waren sechs Tiere. Und obwohl sie tot waren und der Sand gleichmütig ihr Blut aufsaugte, bewegten sich bei manchen noch leicht einzelne Glieder. Sein Blick blieb an einem Büschel von dürrem Gras hängen, das neben dem Maul eines der Kamele lag. Es war frisch aus dem Boden gerissen, Sandkörner hingen noch an den Wurzeln.

Sie fanden keinerlei Waffen, obwohl die beiden Feldwebel und die übrigen Soldaten mehrfach alles absuchten. Schließlich wandte er sich dem noch immer wimmernden schwarzen Bündel zu, stürzte sich darauf, packte das Mädchen mit beiden Händen und schüttelte es heftig. Nun kläffte der Hund wieder, und sie jammerte immer lauter, so dass beide Stimmen sich vermischten, während er ihren Kopf zu Boden drückte, wobei er ihr den Mund mit der rechten Hand zuhielt, an der Speichel, Rotz und Tränen haften blieben. Ihr Geruch strömte ihm in die Nase und zwang ihn, sein Gesicht wegzudrehen. Doch schon kurz darauf wandte er sich ihr wieder zu, hielt sich den Zeigefinger seiner anderen Hand an die Lippen und schaute ihr dabei direkt in die Augen.

Mit freundlicher Genehmigung des Berenberg Verlags