Vorgeblättert

Werner Vordtriede: Das verlassene Haus, Teil 2

Mt. Pleasant, 7. Februar 1945
Ein verdrießliches Wochenende in Houghton Lake verbracht, als Gast im dortigen Pfarrhaus, da ich am Sonntag in der Kirche über Europa sprechen sollte.
Der dortige Pfarrer ist einer meiner Studenten. Als er mich bat, an seiner Statt die Predigt zu übernehmen, fragte ich ratlos, worüber ich denn von der Kanzel sprechen könnte. Er antwortete: »Sagen Sie doch der Gemeinde, wie wichtig es ist, fremde Sprachen zu erlernen, damit die Menschen sich besser verstehn und damit es keine Kriege mehr gibt.« Ich sagte: »Aber das stimmt doch garnicht. Kriege haben mit der Kenntnis oder Unkenntnis von Fremdsprachen absolut nichts zu tun.« Daraufhin sagte er nur freundlich: »Dann reden Sie eben darüber.« Natürlich wollte ich nicht, aber Miss Loughridge meinte, es gehöre hier eben doch zu den Pflichten der College-Lehrer, solche Einladungen anzunehmen, das werde von einem erwartet.
Am Samstag abend fuhren wir in seinem Auto durch die sehr kalte Winternacht recht lange, es müssen mehr als 70 km sein. Da zwei alte Damen mitfuhren, wagte ich während der ganzen Fahrt nicht zu rauchen. Am Ortseingang von Houghton Lake (das, an einem See gelegen, eine Art Sommerfrische ist) steht ein riesiges Schild mit der Aufschrift »This town is restricted«, das heißt: hier dürfen Juden keinen Grundbesitz erwerben und demzufolge auch nicht wohnen. Ich nahm mir gleich vor, in meiner Predigt über dieses Schild zu sprechen. Als wir endlich in dem großen düstren Pfarrhaus ankamen, wollte ich mir die langentbehrte Zigarette anzünden, aber der Pfarrer erschrak und bat mich, nicht zu rauchen. Ich schlug vor, das in einem dunklen Zimmer zu tun, sodaß niemand es von außen sieht. Aber auch das durfte ich nicht. Dann müßte ich eben vors Haus gehn, sagte ich. Ja, aber nicht vor das Haus, hinten vorm Kücheneingang könne es niemand sehn. Also stand ich im tiefen Schnee, frierend, und rauchte lustlos meine Zigarette. Als ich ganz durchgefroren hereinkam, war es dem Pfarrer peinlich, und er erklärte mir, daß Rauchen, Trinken und ins Kino gehn in der Gemeinde für unsittlich und unchristlich gelte. Ich fragte den Pfarrer, ob er denn wirklich glaube, daß seinem Gott ein Antisemit wohlgefälliger sei als einer, der eine Zigarette raucht, und sprach von dem unchristlichen Schild am Ortseingang und daß ich darüber morgen predigen würde. Da wurde er ganz kleinlaut, gab mir völlig recht, bat mich aber inständig, vor der Gemeinde nichts über das Schild zu sagen. Die Handelskammer habe es aufgestellt, er fände es ja auch nicht richtig, aber müsse sehr vorsichtig sein mit dem, was er sage, um nicht das Mißfallen dieser Rechtschaffnen zu erregen. Da Staat und Kirche getrennt sind, haben es die Gläubigen in ihrer Macht, einen ihnen mißliebigen Pfarrer davonzujagen. Er sagte wörtlich: »Sie müssen wissen, daß es in diesem Lande für einen Pfarrer in kleinen Gemeinden schwer ist, das zu sagen, was er wirklich denkt.« Darum also hat man die Demokratie, damit der Seelsorger nicht mehr sagen darf, was er will und was er muß.
Am Sonntag morgen begann ich meine Predigt, von der Kanzel herab, passend genug mit einem Paradox über den Turmbau zu Babel. Dort seien die fremden Sprachen als Strafe Gottes verhängt worden, damit die Menschen keine zu starken Machtverbände errichten könnten. Allerdings, das gab ich zu, sei dann im Pfingstwunder durch die Ausgießung des Heiligen Geistes einigen Menschen die Fähigkeit erteilt worden, in Zungen zu sprechen, um Gottes Wort überall verkünden zu können. Ich bemerkte, wie man mir mit Wohlgefallen zuhörte. Dann aber sagte ich, daß Kriege garnichts mit der Kenntnis der Fremdsprachen zu tun hätten, das sei ein populäres Mißverständnis; Kaiser Wilhelm und Eduard VII. hätten beide sehr gut Deutsch gesprochen, Slaven und Lateinamerikaner verstünden sich sehr wohl untereinander und gerieten sich doch immer wieder in die Haare. Viel wichtiger, als Fremdsprachen zu erlernen, sei es, daß man die Ursachen von Kriegen, die Macht- und Besitzgier, erkenne etc. etc. Hinterher kamen vor allem die Frauen der andächtig lauschenden Gemeinde zu mir, dankten mir und sagten, wie wichtig es doch sei, daß ich den Menschen mitteile, daß man fremde Sprachen lernen müsse, damit es keine Kriege mehr gäbe. Sie hatten alle nur das gehört, was sie schon wußten und was der Pfarrer ihnen als Thema meiner Predigt angegeben hatte.


Mt. Pleasant, 8. Mai 1945
Heute wurde offiziell der europäische Waffenstillstand verkündet. Abends veranstaltete das College eine Siegesfeier, die mir langweilig schien, mit nichtssagenden Reden. Erst im Augenblick, da sie zu Ende war, wurde mir klar, wie gutmütig das alles gesagt wurde, mit welch nüchternem Anstand, in dem keine Trunkenheit war und nichts von Revanche oder Haß verlautete. Da merkte ich erst, mit welcher Erregung und Angst ich in die Feier gegangen war, gefaßt auf Jubel gegen die Hunnen.
In einem raschgebietenden Impuls ging ich daher hinterher zum Präsidenten Anspach (dem ich eigentlich seine leere, mit business-Rhetorik angefüllte Rede übelnehmen wollte) und bekannte ihm, unselig stammelnd und den Tränen nahe, meine Dankbarkeit. Er sah mich aus seinen kleinen Augen an, verstand nichts und sagte nur: »Well, that?s the way we do things over here.«
Er gab mir also eine (wohlverdiente) Lektion. Ich muß ihm wie ein aus dem Gleichgewicht geratner Schwärmer vorgekommen sein. Ich muß lernen, fremden Menschen nicht mein Herz anzutragen.


Ranzo - S. Abbondio, 27. August 1947
Gestern überschwänglicher Tag, angefüllt, anstrengend. Gefühle der Unersättlichkeit. Vor zehn Uhr morgens mit den Rädern aufgebrochen. Unsre Seeseite herauf. Jedes Dorf, jeder Weinberg, das holperige Pflaster der Dorfstraßen, die vorne offnen Heuschober mit großgeschwungner Steinarchitektur, bemerkt und begrüßt. Dann oben hinter Magadino zur andern Seeseite, über den breiten Ticino. Erinnerungen wurden rege auf der Straße am Fuße der reichen Weinhänge und hohen Berge. Lieblich, üppig, alles im Einklang, mir verständlich. Gordola erinnerlich. In Minusio zu Georges Grab. In Locarno gegessen. Reiche Heiterkeit des offenen Platzes am Park. Amaretti und Expresso, jene Amaretti, deren Name ich plötzlich wieder wußte, wie auch den des Panettone, als ichs sah und den säuerlichen Geschmack erinnerte. Von dort Kerenyi angerufen, fand nur Frau K. zuhaus (in Tegna). Verabredung für abends, bei einem Vortrag Martin Bubers in Ascona (Eranos-Tagung). -
Alle Namen, von Dörfern, Bergen, werden Zauberworte. Will so viele wie möglich wissen. - Auf dem Locarnoer (Locarneser??) Markt kühle, ganz reife frische Feigen gekauft. Geruchsinn aufs höchste gesteigert: Heu (nachts auf dem Heimweg), wilde aromatische Kräuter. Von Locarno über Losone nach Arcegno, dem winkligen Granitnest hoch oben im Walde. Dort wollte ich ein Haus kaufen. Ging gleich zum Maler Metz, an den ich mich noch erinnerte. Erfuhr, daß die leeren Häuser aufgekauft seien. Aber er schickt mich zu den Patriziern Bertini, die einen Granitpalast aus Steinplatten mit winzigen Fenstern bewohnen. Der Weg zu ihm ein natürlicher, durch Gehen abgerundeter Felsblock. Sprachen, ergebnislos, mit dem eben aus Amerika heimgekehrten einen Bruder. Schläue, Zurückhaltung. Werden an jemand andern verwiesen. Dort nur die alte Schwester, eine ganz ruhige alte Frau, die durch die Gasse schreitet, langsam und schön ihr Kopftuch bindet, um uns ein Haus zu zeigen, dessen Dach und Hinterwand eingestürzt sind. Eigentlich nur ein Loch mit Fassade. Zu streng, unheimlich und verfallen. Sie führt uns noch weiter zum »Grotto«, einer kleinen Dependance des Wirtshauses. Ich verstehe ihr Italienisch, kann aber kaum mit ihr sprechen (Gerhard war der Dolmetscher) und lächle sie immer vertrauter an. Wieder zu Metz. Der kennt ein ganz in Wäldern und Wiesen abgelegnes Grundstück eines armen Zugewanderten, der es gerne verkaufen möchte. Führt uns hin. Ganz versteckt, aber mit Sicht auf den hohen Monte Bre, mit einer winzigen, halb in den Hang hereingebauten Steinbrücke. Unten am Grundstück ein schneller ganz klarer Bergbach. Derselbe, in den ich beim Aufstieg, vor Arcegno, voll Lust hineingesprungen war, nackt und wollüstig. Schon schöne Hoffnungen. Aber bei späterem Anruf (von Ascona aus) erfuhr ich, daß man das Land (wohl wegen Verschuldung) nicht vor drei Jahren kaufen kann. Werde heute weitersuchen. Die sehr steile, sich windende Bergstraße (langer anstrengender Aufstieg) auf dem Rad herunter. In Locarno nach Ascona abgebogen. Dort am Seeufer gegessen. Allerlei eingekauft: Barbera in der schönen Strohflasche, Amaretti, Panettone.
Um halb neun zum Kolloquium von Martin Buber. Ganz voller kleiner Saal. Buber wie ein Weihnachtsmann gebraucht ein erstaunliches Regiekunststück: plaudert erst ganz bequem, vertraulich, formlos. Er wolle nicht vortragen, sondern nur Gespräch führen. Man solle Fragen stellen, irgendwelche Fragen. Und dann, als viele sich wohl schon vertrauensvoll rüsteten, bemerkte er, nur eine ganz kurze Sache müsse er noch erwähnen: Es dürften natürlich nur »wirkliche Fragen« gestellt werden, keine aus Eitelkeit, Neugier, anekdotischem Interesse für seine Art der Antwort etc., sondern nur solche, die einen nachts nicht schlafen ließen, die einen immer peinigen und verfolgen. - Betretenes Schweigen. Schulkinder vorm Alten vom Berge, dem großen zuspruchmächtigen Rabbi. Wirkte nicht als Poseur, aber sonderbar schien er Schläue und Weisheit zu mischen. Ein junger Mann (Deutscher, Jude, aus London) fragte schließlich: »Soll ich Europa den Rücken kehren? Ich will, meine Eltern sind dagegen.« Buber: »Eine gegebene Situation so lange nicht aufgeben wie möglich. Seinen Mann stellen.« Eine dumme Person fragt, sich zierend, nach Bubers Auffassung von der Rechtfertigung des Bösen. Buber läßt sich kaum anmerken, wie wenig dies eine »richtige Frage« war, aber straft die Pute durch ganz unverständliche Antworten metaphysischer Art, bis er, sich selbst unterbrechend, liebenswürdig sagt: »Sie sehen, von dieser Seite, d. h. vom Schöpfungsplan aus, kommen wir nicht weiter. Wir können also nur fragen: ?Was fange ich selber mit dem Bösen in mir an?? Das Böse ist Kraft ohne Richtung, Leidenschaft. Das Gute ist die Richtung auf Gott zu. Um das Gute zu tun, muß es mit Leidenschaft getan werden, d. h. der richtungslose Wirbel des Bösen muß in die Richtung miteinbegriffen werden.« Dann kam die Frage der Rechtfertigung des jüdischen Terrors in Palästina. Da wußte ich, daß der Abend festgelegt war und ging bald. Konnte Frau Kerenyi (mit der ich nur ein Begrüßungswort gewechsel hatte) nur zunicken. -
Rückfahrt bei hoher Nacht. Bedeckt. Plötzlich Platzregen. Unterstehen, Weiterfahren. Sehr erschöpft, durchnäßt (aber immer glücklich, da eben diese Art Unternehmen etwas so exemplarisch Jugendlich-Unvernünftiges und Kraftforderndes ist). Kurz nach ein Uhr zuhause. -
Bis neun geschlafen. Sitze nun in der heißen Sonne auf der kleinen Terrasse vorm Haus, ein Glas Barbera auf dem Tisch, mit dem Blick auf Ronco und Brissago, Hänge und See und schreibe dies. Bin wieder jung geworden.

abends
Um zwei Uhr (Sonne) mit den Rädern fort, um in den letzten hoch- und weitentlegenen Dörfern an der italienischen Grenze ein Haus oder einen Stall zum Kaufen zu finden. Scajano, hoch und schwer zugänglich, ist noch schöner, winkelreicher, urtümlicher als Arcegno, mit herrlichem Blick über den See. Sprachen mit einem alten Tessiner, della Giacoma (so heißt das halbe Dorf), der mir aber eines seiner verschiednen, sehr schönen Stallhäuser nicht ohne Befragen der Söhne verkaufen wollte, an deren Zustimmung er ohnehin zweifelte. Wurde recht niedergeschlagen, da mir Scajano einer der schönsten Flecken der Erde scheint. In Caviano, direkt daneben, gab es auch nichts. Also gingen wir, mühselig durch die Schlucht, die zwanzig Minuten nach S. Abbondio und Calgiano, wo ich schon vorgestern die beiden Ställe gesehen hatte. Wurde handelseinig. Gelangte auf 1000 Franken (235, 30 $). Es sind im ganzen 225 qm Land. Der große Stall zweistöckig und gut gebaut, hat auch elektrisches Licht. Vom obern Zimmer schöner Blick auf den See und die Inseln von Brissago. Gefielen mir dieses Mal noch besser. Ein riesiger, vollbeladner Weinstock rankt an einem Baum hoch und gehört zum Grund. Nun kommt noch alles Notarielle und das Grundbuch etc. Wahrscheinlich morgen in Locarno. Werde also Calgianese sein. Calgiano, Ranzo und S. Abbondio gehören alle zur Gemeinde S. Abbondio mit Grundbuch in Locarno. In der Grotte in S. Abbondio Virano getrunken, süßen dunklen Traubensaft aus Vira, das auch hier, bei Magadino ist. Auf dem Heimweg bei E. Merz und ihm berichtet. Als ehemaliger Sindaco weiß er etwas Bescheid. Eben im Paddelboot auf dem See. - In der kleinen Kirche von Scajano hängt eine rührend-schöne, kleine Verkündigung an der Wand. Die herrliche Kirche von S. Abbondio seh ich, wenn ich von meinem Land um die Ecke biege. Das ist eine herrliche Tollheit, die ich noch garnicht recht begreife.

Mit freundlicher Genehmigung des Libelle Verlags.

Informationen zu Buch und Autor finden Sie hier.