Vorgeblättert

Patrick Hamilton: Hangover Square. Teil 2

31.01.2005.
Die Sache mit Netta zog sich schon zu lange hin. Wann sollte er sie töten? Bald, auf jeden Fall noch in diesem Jahr. Am besten sofort, sobald er wieder in London war - morgen, am zweiten Weihnachtstag, fuhr er zurück. Aber so etwas wollte gründlich geplant sein: Er hatte so viele Pläne, zu viele. Das Ganze war so unglaublich, lächerlich einfach. Deshalb war es so schwierig, den richtigen Plan zu fassen. Man mußte ihr nur von hinten den Schädel einschlagen. Man mußte sie nur auffordern, sich umzudrehen, weil man eine Überraschung für sie habe, und sie dann niederschlagen. Man mußte sie nur ans Fenster locken, damit sie sich unten etwas ansähe, und sie hinauswerfen. Man mußte ihr nur neckisch ein Tuch um den Hals schlingen, mit Hingabe daran herumnesteln und sie erdrosseln. Man mußte sie nur in der Badewanne überwältigen - die Beine nach oben halten und den Kopf nach unten drücken. Alles so einfach: alles so still. Allerdings würde sich die Polizei einmischen - "Fragen stellen" -, das mußte mit bedacht werden. Einmischung oder Fragen waren unerwünscht. Aber die Polizei würde ihn in Maidenhead natürlich auch nicht finden oder zumindest nicht belangen. Nein, da gab es überhaupt kein Problem: Es war "todsicher", wie man so schön sagt. Dennoch mußte man es planen, und zwar jetzt. Es zog sich schon zu lange hin.

Wann also sollte es soweit sein? Morgen, am zweiten Weihnachtstag, sobald sie sich wiedersahen. Wenn er sie allein zu fassen bekam - warum nicht? Nein, irgend etwas stimmte damit nicht. Was? Was um alles in der Welt war es? ... Ja, natürlich: die zehn Pfund. Seine Tante hatte ihm zehn Pfund gegeben. Heute morgen hatte sie ihm zu Weihnachten einen Scheck geschenkt. Er mußte warten, bis er das Geld ausgegeben hatte, mußte die zehn Pfund auskosten, bevor er Netta tötete. Das lag doch auf der Hand. Dann also vielleicht zu Neujahr - am ersten Januar? Eine gute Idee, das neue Jahr - 1939 - so zu beginnen. Das neue Jahr, der Jahreswechsel, da war auch der Frühling nicht mehr weit. Da wäre es wärmer, Maidenhead wäre wärmer. Er wollte nicht nach Maidenhead, wenn es so kalt war. Er wollte auf den Fluß. Dann mußte es bis zum Frühling warten. Es war noch zu kalt, um Netta zu töten. Das klang albern, aber es stimmte.

Oder war das bloß Zauderei? Schob er es schon wieder auf? Immer wieder schob er es auf. Irgendwie, unversehens, schien es ihm zu entfallen, und das Ganze zog sich schon zu lange hin. Vielleicht sollte er sich einen Ruck geben und sie noch in der kalten Jahreszeit töten. Vielleicht sollte er nicht mal warten, bis er die zehn Pfund ausgegeben hatte. Er hatte es schon so lange aufgeschoben, und wenn er so weitermachte, wurde es dann überhaupt noch mal was?

Inzwischen hatte er den städtischen Golfplatz erreicht, machte kehrt und ging auf demselben Weg zurück. Eine leichte Brise wehte ihm ins Gesicht und rauschte ihm in den Ohren, er blickte in die schwache Sonne, in den perlmuttglänzenden Himmel tief hinter der kargen kleinen Winterresidenz einer Tante, die ausgesorgt hatte. Seltsame Tanten, seltsames Hunstanton! Wie hielten sie es bloß aus? Er hatte drei Tage hinter sich, und er würde durchdrehen müssen, führe er nicht morgen zurück. Und doch meinte Tante Mary es gut, gab sich Mühe, ihrer Aufgabe als nächste Verwandte gerecht zu werden, "modern" zu sein, "mitzuhalten ", wie sie es nannte, und trotz ihrer fast siebzig Jahre so zu tun, als trinke sie gern Cocktails. Meine Güte, "Cocktails ", wenn sie wüßte! Aber sie meinte es gut. Beim Abendessen würde sie vergnügt sein, und später, wenn sie merkte, daß er nicht reden wollte, ihn in Ruhe in seinem Sessel Clarence Mulfords Hopalong Cassidy greift zum Colt lesen lassen. Aber natürlich würde er gar nicht lesen, sondern an Netta denken, sich zurechtlegen, wie und wann er sie töten würde.

Die Weihnachtskinder spielten noch immer mit ihren Weihnachtspistolen am Weihnachtsschuppen. Das feuchte Gras glänzte im diffusen Licht des Nachmittags. Der kleine Pier ragte verlassen ins Meer hinaus, seine Silhouette hob sich zittrig vor den grauen Wellen ab, als friere er, gedenke aber, auszuharren, um Standhaftigkeit zu beweisen. Zur Linken ließ er die Jungenschule hinter sich und danach die Reihe von Pensionen mit ihren verrückten Namen; zur Rechten den Puttingkurs und die Tennisplätze. Doch keine Jungen, keine Gäste, keine Putter und keine Tennisspieler im Seebad seiner Tante am ersten Weihnachtstag.

Er wandte sich nach links, ging hinauf und fort vom Meer - dem Wash, in dem King John seine Juwelen verloren hatte - in die Straße mit der Doppelhaushälfte, in der (um acht vor dem elektrischen Kamin) das Abendbrot mit Napfkuchen und kaltem Truthahn auf ihn wartete.

2

Klick!...

Hallo, hallo - hier sind wir! Wir sind wieder da!

Er war im Bahnhof von Hunstanton, und es war wieder passiert. Klick, ratsch, plop - was auch immer -, und alles strömte wieder auf ihn ein!

Der Ton war urplötzlich wieder eingeschaltet; der strenge, trübe, unerklärliche Stummfilm war ganz und gar verschwunden, und alles um ihn her war hell, deutlich, lebhaft, klar, bunt und einleuchtend, während er um drei Uhr nachmittags am zweiten Weihnachtstag mit seinem Koffer den Bahnsteig des kleinen Küstenbahnhofs hinunterging.

Es war an der Bahnsteigsperre passiert, als er dem Mann seine Fahrkarte zum Knipsen gereicht hatte. Man hätte meinen können, das Klicken der Zange, mit der der Mann den Fahrschein knipste, sei der Klick in seinem Kopf gewesen, doch der hatte sich einen Sekundenbruchteil später ereignet den Bruchteil eines Bruchteils einer Sekunde, denn der Mann hielt noch immer den Fahrschein, und er sah dem Mann noch immer in die grauen Augen, als er hörte, wie die Klappe in seinem Kopf hochfuhr und alles wieder auf ihn einströmte.

Es war, als platzte man nach langem, schwerem Schwimmen in stillen grünen Tiefen heraus an die frische Luft. Seine erste Wahrnehmung war das gewaltige, dauerhafte Zischen der Lok, die ihn nach London zurückbringen würde. Während er noch immer dem Mann in die grauen Augen blickte, hörte er dieses Geräusch. Er wußte nur zu gut, daß es schon die ganze Zeit dagewesen war - seit er den Bahnhof betreten hatte, während er die Fahrkarte kaufte und seinen Koffer zur Sperre trug. Doch erst jetzt, jetzt, da sein Gehirn wieder befreit war, drang es erstmals zu ihm durch, ebenso wie alle anderen Geräusche, die schon vorher dagewesen waren - das Rollen eines Gepäckwagens, das Klappern von Milchkannen, das Schlagen von Abteiltüren. Und das alles in dem kurzen Moment, da er dem Mann, der seine Fahrkarte knipste, in die Augen blickte. Vielleicht hatte er ihm vor lauter Erstaunen zu lange in die Augen geschaut. Vielleicht hatte der Mann nur seinen Blick aufgefangen und ihn angesehen, weil er sich unbewußt fragte, weshalb dieser Fahrgast nicht "in Gang kam". Wie auch immer, er hatte sich nur für den Bruchteil einer Sekunde verraten, und nun ging er den Bahnsteig hinunter.

Was für einen Krach diese Lok machte! Doch er fand ihn berauschend. Jedes Mal erlebte er einige Augenblicke der Hochstimmung, wenn sein Gehirn "geblinzelt" hatte und er plötzlich wieder hören und sehen konnte. Nach dem ersten gewaltigen Ansturm von Geräuschen und Zusammenhängen - gleich der brausenden Klärung, wenn nach vierundzwanzig Stunden zwei schmalzige Wattebäuschchen aus beiden Ohren gezupft werden - hörte und sah er alles um ihn her mit schlichter gesteigerter Freude.

Und dann die Freude darüber, genau zu wissen, was er tat. Er wußte, wo er sich befand, und er wußte, was er tat. Es war der zweite Weihnachtstag, und er nahm den Zug zurück nach London. Er hatte die Weihnachtstage bei seiner Tante verbracht, die ihm zehn Pfund geschenkt hatte. Dies war ein Bahnhof - der Bahnhof von Hunstanton -, an dem er angekommen war. Bloß war er spätabends angekommen. Jetzt nahm er den Zug um 3.04 Uhr. Er mußte sich ein Dritte-Klasse-Abteil suchen. Die Lok stieß Dampf aus, wie Loks es immer tun, wohl tun müssen, bevor sie anfahren. Hier ein Gepäckträger, dessen Aufgabe darin bestand, das Gepäck zu tragen, und der dafür Trinkgeld bekam. Dort das Meer. Dies war ein Seebad an der Ostküste. Gut: Sein Kopf war wieder ganz klar.

Was also war kurz zuvor in seinem Kopf passiert - und in den vielen Stunden davor? Was? ... Ach, einerlei jetzt. Es gab genügend Zeit, darüber nachzudenken, wenn er ein Abteil gefunden hatte. Er mußte ein leeres Abteil finden, damit er allein war. Wenn er Glück hatte, war er bis London allein, am zweiten Weihnachtstag sollten nicht allzu viele Menschen unterwegs sein.

Er ging zum Ende des Zuges vor und suchte sich ein leeres Abteil. Als er die Klinke drückte, hielt die Lok abrupt inne. Der Bahnhof schien in der jähen Stille zu wanken, und dann, wenige Augenblicke später, nahm sie ihre Aktivitäten gedämpfter, geradezu verstohlen wieder auf. Genau so, dachte er, passierte es in seinem Kopf - genauer gesagt, in seinem Kopf, wenn er anders tickte, falsch herum lief, vernebelt war, tot. Er tickte jetzt wieder richtig, und das Leben hatte ihn wieder.

Er legte den Koffer ins Gepäcknetz, öffnete ihn und stellte sich auf den Sitz, um nachzuschauen, ob er den gelb eingebundenen Hopalong Cassidy eingepackt hatte. Ja, er lag obenauf. Wunderbar, wie er Dinge tat, ohne zu wissen, was er tat. (Oder wußte er doch irgendwie, was er tat? Es hatte den Anschein.) Jedenfalls war Hopalong Cassidy da. Er ließ die Schlösser zuschnappen, setzte sich, warf sich den Mantel über die Knie, legte das Buch in den Schoß und sah aus dem Fenster.


Mit freundlicher Genehmigung des Dörlemann Verlages

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