Vorgeblättert

Melanie Arns: Heul doch! Teil 1

20.07.2004.
Mittwochs Sex: Vater pfeift, Mutter springt, er stöhnt, ich kotze. Donnerstags: Mutters Predigt. Tu was ... wir haben es auch nicht leicht ... Omas Hüftgelenk, dein Auge ... früher war alles ganz anders ... wir sind nicht besoffen ... die Menschen sterben nun mal.
Mein Bruder ist tot. Er starb als Kind, falls das jemand interessiert. Erstickt.
Freitags, samstags, sonntags: Vater und Mutter saufen sich zu Tode, alles andere würde sie umbringen. 
Montags bin ich drei Jahre alt. Es wird gehätschelt und getätschelt. Oma legt mir ein Stückchen Schokolade auf die Zunge, Mutter legt mir den Kopf an die Brust, Vater steckt mir einen 10er ins Höschen. 
Alles andere ist gelogen. Ich lüge, ich bin verrückt, das sage ich lieber gleich. 
Manchmal umarme ich meine Mutter. Ich umarme sie, wie das eine Tochter tut mit ihrer Mutter. Und jetzt sehe ich sie an und jetzt merke ich es erst, sie lächelt! Sie und Oma und ich und einfach jeder in diesem Raum, in unserem Wohnzimmer, lächelt, weil wir so glücklich sind und weil alles gut ist, irgendwie. Heute ist Dienstag, glaube ich.
Oma hat Namenstag. Ein Grund zum Feiern. Mutter stellt die Flaschen auf den Tisch, schenkt ein, PROST! setzt an, schluckt. Mein Blick beißt sich in ihr Gesicht wie ein Insekt.
      "Nun guck mal nicht so! Ich trink ein Gläschen und du rastest gleich wieder aus." Ich habe aufgehört, meine Mutter zu schlagen.
Ich tanze. Ja, tatsächlich, ich hüpfe, ich springe, ich tobe, ich fliege, höher, immer höher. Davon gibt es nicht genug! Musik. Eine Stimme jault mir das Blut aus den Adern. "I wish I was special!" Ich dreh auf, ich dreh ab, ich dreh durch. 
Ein Knall, wie aus der Pistole geschossen! Für eine Sekunde übertönt er jedes Geräusch, jeden Krach, jeden Schrei, würgt den Ton der Lautsprecherboxen ab, danach: Stille. Stille, die meine Taubheit ignoriert, ich höre wieder ... aufs Wort. Die Musik verliert ihre Melodie, ich den Mut - der Vater ist da. Mit ihm schreitet hart erarbeiteter Verdienst zu Tische. Wir rollen den Teppich aus, wir stehen Spalier, wir fallen auf die Knie. Herbeigelogene Harmonie bekommt den letzten Schliff: das große Fressen.
Mutter tischt auf; Vater schlägt zu, Oma keucht auf mein Essen; ich starre auf den Boden. So hat jeder etwas davon. Schmeckt's? - Hervorragend! Einmalig! Richtig lecker! - Und für Mutter ist der Tag gerettet.
Meine Eltern: ein Herz und eine Seele. Sie streiten nie.
Ein unauffällig prüfender Blick nach links. Mutter: stocknüchtern. Heute mal keine verdreckten Geschirrberge, heute mal keine Rotweinflecken auf der Tischdecke, keine Zigarettenkippen auf dem Fußboden, keine verlaufene Wimperntusche in ihrem Gesicht, kein verschmierter Lippenstift. Heut mal kein klebriger Kuss, kein Gestank aus ihrem Mund und kein "Du bist unser einziges Kind!" Heute mal Zimmerlautstärke. Nicht zu fassen. Vor mir: meine Oma. Sie zieht ein Gesicht, als wären wir die besten Freunde. Rechts: die Dunkelheit. Das ist das beste. Das mit dem Glasauge, meine ich. Solange ich sämtliche Versuche unterlasse, mit meinem nicht vorhandenen Auge zu sehen, stört es mich nicht weiter. Im Gegenteil, eigentlich ist mir dieses süße, kleine, unaufdringliche Glasauge sogar recht. Man kann eine Menge Dinge tun, die mit beiden Augen nur schwer möglich wären.
Zum Beispiel kann ich mich beim Überqueren einer Straße von einem Auto überfahren lassen, einfach so, ohne dass ich damit gerechnet hätte. Im Ernst, ich finde das ganz praktisch, ich finde es geradezu beruhigend, dieses Kunstauge. So nenne ich es. Kunstauge.
Es ist das einzige, was bleibt. Immer. Ich bin mit hundert Sachen in einen LKW geknallt, wenn Sie's genau wissen wollen.

Ich bin dankbar. Dem Notarzt, Chirurgen, den Schwestern. Und Gott natürlich. Ich bete, tatsächlich. 
Und dabei fällt mir nicht mehr ein als: "danke". 
Danke, dass ich diesen Unfall hatte und danke, dass ich ihn überlebt habe.
Was jetzt folgt, ist die Krönung, ist einfach nur noch peinlich: Ich heule. Mit geschlossenen Händen das Gesicht zusammenhaltend, verbergend, mit den Fingerspitzen die Augen reibend, schluchze ich mich unter den Tisch. I wish I was special! Von allen Seiten prasselt es auf mich nieder:
"Kalt kochen kann ich noch nicht!"
"Wie kann man denn auch nur so schlingen!"
"Schnell, Kind, trink wat Kaltes."
Mein Wimmern - ein lautloses Geräusch. Weiter nichts! Der Sinn des Lebens: Das Weißbrot zu essen, bevor es verschimmelt; die Blumen zu gießen, bevor sie verwelken; zu erfahren, ob jemand gestorben ist, bevor es die anderen wissen. Am besten noch, bevor es derjenige selbst weiß. Das ist die Voraussetzung für unser friedliches Seelenleben, dass jemand stirbt, meine ich. Keiner aus der Familie, viel lieber einer aus der Straße oder zumindest aus dem Dorf. Jemand, den wir zwar kennen, mit dem wir aber nichts zu tun haben, irgendjemand einfach, soll doch endlich sterben. Das wäre die Erlösung, wenn die Nachbarin angerannt käme und tratschmäulig zum Besten gäbe, dass der alte - ich weiß nicht wer - tot sei. Einfach nur, damit wir etwas zu reden haben, damit das hier nicht noch peinlicher wird, als es sowieso schon ist.
Aber es bewegt sich nichts, es passiert einfach nichts, weit und breit keine Nachbarin, nichts. Wir sitzen einfach da. An einem Tisch. In einem Boot, sozusagen. 
Ich springe über Bord. 

Draußen. Ich sehe nach draußen. Ich starre. Das Fenster zur Nachbarschaft - eine Blumenpracht. Gebt euch keine Mühe, harkt und mäht und pflanzt, solange und soviel ihr wollt, es wird euch nichts bringen, wir und unser Garten sind in keiner Weise zu übertreffen. Wir sind ganz einfach perfekt. Das Bild verschwimmt. Ich sehe in die Zukunft - bis zum Ende der Woche. Ich sehe Sonntage. An Sonntagen wird der Tisch mit einer blütenreingepflegten Decke überzogen, alles strahlt und funkelt, vom Geschirr bis zum Zahnersatz. An Sonntagen wird die Flasche zum Fläschchen, das Glas zum Gläschen, der Tropfen zum Tröpfchen, Prost zum Prösterchen, ich werde zum Mäuschen. An Sonntagen wird aus dem Speckläppchen ein Filet, der Tisch wird zur Tafel, jedes röhrende Rülpsen zum dezenten Aufstoßen. Es ist alles in feinster Ordnung. Trotzdem tritt Vater gegen den Fernsehtisch. Weil er die vierte Heimniederlage in Folge zu verkraften hat. Wir danken Gott an Sonntagen, an denen die zweite Bundesliga spielfrei hat, und wir beten, dass Tommy Haas seinen Matchball verwandelt. Aber es könnte schlimmer sein. Mittlerweile muss Oma nicht mehr mit ansehen, wie Vater und Mutter mit dem guten Essen herumsabbern, wie sie mit der Stirn im Bohnensalat liegen und wie die Frühkartoffeln vom Teller rutschen. Sonntage sind keine Schweinerei mehr, die Gabel findet ihren Weg zum Mund, Kristallgeschirr übersteht Mutters Hürdenlauf von Küche bis Esszimmer. Trotz Tunnelblick! Übung macht den Meister. An Sonntagen zeigt meine Stereoanlage, was sie kann.
Die Eltern sind ziemlich cool drauf. Kein "Mach die Musik leiser!". Kein "Räum dein Zimmer auf". Kein "Hast du deine Hausaufgaben fertig?" - und wenn ich nach Hause komme, war ich gar nicht weg.
Ich habe Aids. Es fällt mir nicht leicht, das zu erzählen, aber ich möchte es jetzt mal rauslassen, wenn das erlaubt ist. Keine Ahnung, bei wem ich mich angesteckt habe. Ich hatte eben, was meinen Hüftbereich angeht, eine Menge zu tun. Was soll ich machen, es ist nun mal so, ich kann es nicht ändern. Tatsächlich, ich bin todkrank. Panik ist allerdings nicht angebracht, immerhin hab ich noch ein paar Jahre, man sieht mir nichts an. Und ich lasse mir auch nichts anmerken, ich meine, ich heule nicht rum oder so, ich sage es niemandem, solange, bis es zu Ende ist. Aber ich werde garantiert nicht warten, bis mein Körper zerfällt, nein danke. Es wird mir auch wohl niemand übel nehmen.
Für meine Mutter wird das bestimmt eine Qual. Noch weiß sie von nichts, aber irgendwann werde ich es ihr nicht mehr verheimlichen können.

Zurück zur Tagesordnung! Oma leidet, von der Küche zum Wohnzimmer, zur Tür herein. Ein schluffender Schritt übertrumpft den nächsten, ein Stoßgebet folgt dem anderen. Dein Reich komme, gesegnet sei der Herr, voll der Gnaden. Amen. Auf meiner Jeans landet eine Fliege. Darunter ein eingetrockneter Marmeladenfleck.
"Ik kann nie mehr!"
Erdbeer glaub ich.
"No gon´k dor sette en dü nex mehr!"
Brötchen mit Erdbeermarmelade, heute morgen.
"Nex!" 
Ist mir gar nicht aufgefallen, dass ich da gekleckert hab. Na, wenigstens die Fliege hat ihren Spaß. Krabbelt hektisch auf meiner Hose herum. Hier und da ein kurzer Zwischenstopp. Tastet mit ihrem kleinen Rüssel jeden Quadratmillimeter meiner Beine ab.
"Dorst heb ik."
Ja, saug mich aus!
"Ik heb Dorst."
Ich sehe zu, geduldig, gleichgültig.
"Ich hab Durst und hier oben is gar kein Wasser mehr."
Dann hebt sie ab. Summ, summ, unruhige, abgehackte Flugbahnen. Ich versuche ihr zu folgen.
"Oder is da noch wat? Im Keller is bestimmt noch wat."
Hoch, runter, rechts, links! Wo will sie hin?
"Geh ma gucken!"
Verdammt, jetzt hab ich sie verloren! Wo ist sie hin?
"Hörste?!" 
Sie ist weg. Sie muss doch irgendwo sein. Ja, ich hör sie summen. Die ist ganz nah, das Summen wird lauter. Dann finde ich sie wieder, dann segelt sie mir um den Kopf und ich halt sie fest mit meinen Blicken, immer im Kreis. Immer, immer im Kreis, mir wird schwindlig.
"Gej sit en komisch Dern!"
Dann im Sturzflug zurück auf meine Jeans, mitten auf den Fleck. Ich schlage zu, mit voller Wucht. Treffer! Die ist erledigt. Auf meiner Hose: ein süßer Fleck, übertüncht mit einer zermatschten Fliegenleiche. Morgen werde ich sie in einem Marmeladenmeer begraben.

Teil 2