Vorgeblättert

Marie Luise Knott: Dazwischenzeiten - Leseprobe Teil 1

28.08.2017.
3. Den Mut barbarisieren

Bertolt Brechts Zeit der Lehrstücke

Nur dadurch lebt der Mensch, daß er so gründlich vergessen kann, daß er ein Mensch doch ist.
Bertolt Brecht, Dreigroschenfinale


Den Fragen auf den Fersen

Im Jahr 1930 experimentierte Bertolt Brecht an allen Fronten: im Radio, im Kino, in der Oper, im Theater; er führte einen Urheber-Rechtsstreit mit der Filmindustrie (Dreigroschenoper), verfasste eine Postille in eigener Sache mit dem Titel Versuche, veröffentlichte erste Keuner-Geschichten und plante, wie nebenbei, die Gründung einer Zeitschrift; erster Arbeitstitel: Die Begrüßung der Krise. Für ihn war die Welt eine Baustelle, genauer: eine Produktionsstätte. Allen voran die Kultur. Und diese Produktion musste in Krisenzeiten dringend, davon war er überzeugt, einerseits umgebaut, andererseits angekurbelt werden. Schließlich werden in Zeiten des Zusammenbruchs Dinge freigesetzt, die man bis dato womöglich nicht gesehen oder gern, ja allzu bereitwillig übersehen hat. Also darf man sich nicht an die gewohnten Denkwege halten; man darf sich auch nicht in irgendwelche Phantasiewelten flüchten, sondern muss sich der Verwirrung stellen, alle vorhandenen Motoren anwerfen, Ideen bewegen und Kräfte bündeln, um das Drama der Ratlosigkeit in alle Bereiche seines Wirkens hinein zu übersetzen. Als Herr Keuner, der Denkende, gefragt wird: "Woran arbeiten Sie?", antwortet er: "Ich habe viel Mühe, ich bereite meinen nächsten Irrtum vor." Permanente Selbstwidersprüche und Wiederholungen, Variationen und Gesinnungswandel sind Essenzen eines solchen Denkens, das auf der Suche nach Wahrheit den Irrtum nicht scheut.

Das größte Geheimnis ist der Mensch sich selbst, las man einst bei Novalis, und Brechts ganzes Schaffen steht im Licht dieses Geheimnisses: Woher kommen wir, wer sind wir, wohin gehen wir? Und: Wie viel wäre gewonnen, wenn sich einer fände, der wie ein Mensch leben kann? Zeitlebens hat Brecht über die Bestimmung des Menschen und die Bedingtheit des Daseins ei- nen intensiven Dialog gepflegt, mit sich, mit seinen Weggenossen und mit allen anderen. Mit den Lebenden und den Toten, mit der Öffentlichkeit und (nicht zuletzt im Gedicht) mit so manchem eigenen Kämmerlein. Er dachte in anderen Köpfen und andere Köpfe dachten in seinem. "Man needs help from every creature born", konterte er einmal auf die Frage, warum seine Stücke in Sezuan oder Chicago spielten. Und warum er François Villon, Kirchenchoräle, Rudyard Kipling, Konfuzius und die Bibel zitiert. "Nehm jeder sich heraus, was er grad braucht! / Ich selber hab mir was herausgenommen ..."

Sein ganzes Schreiben und Tun ist darauf ausgerichtet, das einsame Geschäft des Denkens als ein je Augenblickliches in seiner Unabgeschlossenheit und Fragwürdigkeit zur Sprache zu bringen und im Gespräch zu halten. Man muss, will man seiner Zeit ins Auge blicken, die Dramatik des Augenblicks in ein Bild setzen. Kunst gibt gerade nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar. Anders als Piscator, der davon überzeugt war, dass die Verhältnisse "tausendmal stärker" waren als die Menschen, baute Brecht, vor nichts zurückschreckend, ver- suchsweise in seinem Werk darauf, dass der Mensch der Stär- kere ist oder zumindest sein kann, vorausgesetzt, dass er sich die Wirklichkeit neu durchbuchstabiert und den Einzelnen wider alle vorhandenen Vergesellschaftungstendenzen neu in sein Recht denkt. Wozu sonst das ganze Theater?

Der Mensch, er ist bekanntlich aus optimistischem Material gemacht: Seine Zellen erneuern sich bis ins hohe Alter und er lebt in der Sprache, die er mit anderen teilt, ja, die er in der gemeinsamen Sorge um die Welt immer neu formen kann. Das musste man verteidigen, einerlei, wie angreifbar man sich machte. Und wenn man es nicht verteidigen konnte, musste man zumindest den Fragen auf den Fersen bleiben.


... und dann kommt die Moral

Das verstörendste und empörendste Experiment aus Brechts unermüdlich ratternder Produktionsstätte ist das Lehrstück Die Maßnahme. Darin singt der Chor das Lob der Partei: "Wer aber ist die Partei?" - "Du und ich und wir", lautet die Antwort. Gute zehn Jahre lang hatte Brecht in seinen Theaterstücken mit wachsendem Erfolg die Absurditäten seiner Zeit durchleuchtet. Sein episch unterbrochenes Theater hatte die Menschen angesprochen und die Massen angezogen, es hatte Stimmung erzeugt, Fragen gestellt - und: es hatte verführt. Wieder und wieder. Oh show us the way to the next whisky bar. Und der Haifisch, der hat Zähne. Seine Balladen und Songs wur- den auf den Brettern wie auf den Straßen gesungen; die Grenzen zwischen Leben und Theater verwischten sich: "Denn für dieses Leben / Ist der Mensch nicht gut genug / Darum haut ihn eben / Ruhig auf den Hut."

Gerade mit seiner Poetisierung des ganz Alltäglichen, seinem Witz, seinem "plumpen" Denken und seinen spielerisch wechselnden Rhythmen hatte Brecht den Leuten aufs Maul geschaut und aus einem Teil ihrer Seele gesprochen. Der Mensch, er war, wie er war: fehlerhaft, gewalttätig, arm, schlecht, kaltschnäuzig, fast immer liebenswert und dabei umso lebens- wirklicher. Ein wahres Vergnügen, das Leben! Ein wahres Vergnügen, die Sprache, ein wahres Vergnügen, das Theater. So jedenfalls sollte es sein. So hätte es sein sollen, wäre es nach ihm gegangen. Seine Hooligans, Huren und Verbrecher - Baal, Fatzer und die Seeräuber-Jenny - sie alle sprechen dem Publikum ja aus der Seele, gerade weil ihr Leben nicht aufgeht. Jenseits von Gut wie von Böse:

Mensch, es wohnen dir zwei Seelen
In der Brust!

Such nicht eine auszuwählen

Da du beide haben mußt.
Bleibe stets mit dir im Streite!
Bleib der Eine, stets Entzweite!
Halte die hohe, halte die niedere,
Halte die rohe, halte die biedere
Halte sie beide!

Landauf, landab wurden seine Stücke gespielt, seine Songs gesungen. "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral", trällerte es damals bis in die guten Stuben hinein. Doch plötzlich zeigte sich im Spiel der tödliche Ernst der Lage: Die Not, sie macht unmoralisch, sie zerstört die Solidarität. Erst kommt das Fressen. Und man sang ganz öffentlich, dass die neuen Herren, der Hunger, die Angst und das Elend, keine Moral kannten. Die Zeit war zum Zerspringen geladen und Walter Benjamin fasste die Stimmung ernst-spöttisch in die Frage, wie sich wohl ein Leben gestalten würde, "das in einem entscheidenden Augenblick sich gerade durch den letzten beliebtesten Gassenhauer bestimmen ließe".


Das Theater unkonsumierbar machen

Seit antiken Zeiten hatte das Theater den menschlichen Leidenschaften - Macht, Liebe, Angst, Gier, Trauer, Verführung und Wut - Raum und Rahmen bereitgestellt. Denn dort, auf die Bühne gebannt, können unsere im Alltag meist nieder- gehaltenen Gedanken und Emotionen stellvertretend toben, ohne uns zu vernichten. Tragödien und Komödien begleiten die Menschen in ihre zwei Seelen und manchmal auch in ihre Mördergruben, denn niemand steigt gern allein und ungeleitet in die Abgründe seines Selbst. Wozu schließlich Theater?

Das traditionelle Theater - jene vier Wände, in denen die Menschen, ihre Vorstellungen und Gefühle schweifen las- send, ins (rettende) Grübeln, Sinnen und Spielen geraten sollten - diene längst nur noch dem "Erlebertum", so formulierte Brecht die Kritik der Modernen, der Piscators, Reinhardts, Meyerholds seiner Zeit. Fortan wurden die Stoffe episch zerlegt. Das tat not, der Krieg hatte schließlich zu viele Erzählungen und Gewissheiten zersprengt. Auch die Klassiker mussten, so Brecht, aus ihrer Funktion als "geistigem Mobiliar" eines wohlsituierten Bürgertums befreit werden.

Klang, Raum, Bewegung und Stimme separierten sich. Gespielt wurde nicht länger dramatisch, sondern gestisch, also nicht aus dem Erlebnis, wie es Brecht formulierte, sondern aus dem Gedächtnis, aus der Erinnerung an Erlebtes. Wie antiquiert war die Idee des Menschen, des Individuums im fortschreitenden Industriezeitalter? Doch auch mit den epischen und gestischen Mitteln von Revue, Zitat und Unterbrechung blieben die Zuschauer Konsumenten, also Erleber, die noch dem Sieg der größten Ganoven tosend applaudierten. Das Bedürfnis des Zuschauers unserer Zeit nach Ablenkung vom täglichen Krieg streite mit dem Bedürfnis, das eigene Schicksal lenken zu können, so Brecht. Zwei Seelen lagen mit sich im Streite. Das war das Dickicht der Zeit.

Auch das epische Theater drang um 1930 nicht mehr durch. Wie Sokrates - der seinen Mitbürgern gerade dort, wo diese sich allzu bequem eingerichtet hatten, im Ohr lag - wollte Brecht das träge Ross der Zeit stechen und durch seine Kunst zu geistiger Bewegung reizen. Er wollte das Theater unkonsumierbar und inkommensurabel machen. Es so radikalisieren, dass es auf die Menschen losging, sie angriff, anging. Schließlich stand die ganze Gegenwart auf dem Spiel.

Leseprobe Teil 2