Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Yun Heunggil: Der Mann, der neun Paar Schuhe hinterließ. Teil 1

06.10.2005.
Eines Tages

Eines Tages erhielt Professor Song, ein tugendhafter Bürger, der von sich behauptete, stets die Gerechtigkeit geliebt und ein redliches, fast keusches Leben geführt zu haben, einen seltsamen Anruf. Es war eine Drohung. Am Morgen des darauf folgenden Tages klingelte wieder das Telefon, und der Anrufer teilte ihm mit, dass er ihn persönlich aufsuchen werde, um die Sache mit ihm zu besprechen. Es war wirklich alles sehr rätselhaft. Zunächst dachte Professor Song, es sei ein Telefonstreich von einem guten Freund, und wollte dem keine Bedeutung beimessen. Wenn das aber nicht stimmen sollte, konnte man sich nur in der Person geirrt haben. So wollte der Professor den Vorfall mit einem Lachen abtun. Wer es auch ist, er kratzt dummerweise am falschen Bein, sagte er sich. Als sich jedoch dieselbe Stimme zweimal mit demselben Anliegen bei ihm meldete, wurde die Geschichte allmählich ernst. Wenn er die Sache auf die leichte Schulter nahm, könnte der Schaden zu groß werden, schoss es ihm durch den Kopf. Da begann der tugendhafte Bürger Professor Song langsam in den Sumpf ernsthaften Kummers zu versinken.
     Einige Zeit später, nachdem er den zweiten Anruf erhalten hatte, begann Song seine chaotischen Gedanken zu ordnen. Zwar genoss er als berühmter Professor einer der besten Universitäten des Landes ein hohes Ansehen, aber in Wahrheit war er nur ein armer Lohnempfänger, nicht anders als die Arbeiter, die als Packer oder Dreher eingestellt waren, weswegen es ihm verdächtig vorkam, dass man von ihm Geld verlangte. Falls es wirklich ums Geld gehen sollte, dann hatte sich der Mann ohne Zweifel den Falschen ausgesucht. Wie kommt er dazu, die unzähligen Unternehmer des Landes beiseite zu lassen und einem armen Professor wie mir die Hand entgegenzustrecken? Für einen Erpresser ist er bemerkenswert unbedarft, so dass er eigentlich nur den Verstand verloren haben kann, dachte sich Song. Aus diesen Überlegungen folgerte er, dass es sich wahrscheinlich um einen Freund von ihm handelte, der es liebte, anderen einen Streich zu spielen, und begann zu grübeln, wer dafür in Frage kam. Bereits einmal hatte er diesen Verdacht gehabt, aber damals streifte ihn dieser Gedanke nur flüchtig, diesmal allerdings durchforstete er seinen ganzen Freundeskreis. Doch wollte ihm partout keiner einfallen, der dazu fähig wäre. Mit jemandem, der zu solch einem gemeinen und albernen Streich imstande war, hätte er von Anfang an keine Freundschaft geschlossen. Seine Freunde, mit denen er sich ab und an traf, um Ba-duk zu spielen, Berge zu besteigen und wissenschaftliche Fragen zu diskutieren, waren ausnahmslos friedfertige Männer von Charakter und Anstand. Auf die gleiche Weise wie er ihnen vertraute und sie wertschätzte, vertrauten sie ihm und schätzten ihn als Freund. Professor Song bereute sogleich den Fehler, seine lieben Freunde verdächtigt zu haben, wenn auch nur für kurze Zeit. Daher änderte er seinen Blickwinkel und begann gründlich darüber nachzudenken, wer ihm feindlich gesonnen sein könnte, denn solche Fälle passieren doch häufig, wenn jemand sich rächen will. Aber ihm fiel nichts und niemand ein. Nein, da gab es definitiv niemanden. Bis zu seinem 50. Lebensjahr hatte er sich nie mit jemandem gestritten, war selbstverständlich nie handgreiflich geworden, er konnte sich nicht einmal erinnern, je etwas Böses zu irgendjemandem gesagt zu haben. Seine Freunde meinten gelegentlich im Scherz, er sei einer von drei Leuten, die auch ohne Gesetz leben könnten und von denen nicht mal ein Staubkorn abfallen würde, selbst wenn man sie kräftig schüttelte. Die anderen zwei wären Jesus und die Jungfrau Maria, was den Professor mehr als verlegen machte. Solch ein Scherz kann vielleicht nicht als unwiderlegbarer Beweis gelten, aber dadurch wurde ihm bestätigt, noch nie gegen ein Gesetz verstoßen zu haben, mochte der Erpresser auch alles versuchen, ihm dies zu unterstellen.
     Da er keinen Anhaltspunkt finden konnte, obwohl er gründlich danach suchte, wollte er all die wirren Gedanken, die durch das unvermutete Telefonat ausgelöst worden waren, wieder in der Versenkung verschwinden lassen, so wie man eine Schublade wieder zuschließt, und schüttelte kräftig seinen Kopf. Doch ausgerechnet in diesem Moment bekam er plötzlich das Gefühl, das Knäuel entwirren zu können, denn ein Gesicht tauchte deutlich vor seinem geistigen Auge auf. Es war Professor Tschö. Während er sich die freche Visage von Tschö vorstellte, ärgerte sich Song, nicht eher an ihn gedacht zu haben. Dieser Tschö war jemand, dem der Professor solch ein flegelhaftes Benehmen mehr als zutraute. Vermutlich hatte Tschö es nicht gewagt, in seiner Stellung selbst in Aktion zu treten, und deshalb jemanden beauftragt. Auf einmal kamen dem Professor viele Details verdächtig vor, und er war sich nun ziemlich sicher, dass es sich um die Tat eines Amateurs handelte.
     Über Kriminelle hatte der Professor so seine Meinung. Die Kriminalromane und Comic-Hefte, die er als Jugendlicher gelesen hatte, oder auch die Serien, die heutzutage oft über die Bildschirme flimmern, hatten darauf möglicherweise einen subtilen Einfluss ausgeübt. Demnach müssen Typen, die von Erpressungen leben, auf jeden Fall ein finsteres und furchterregendes Gesicht haben. Sie müssen mit einer möglichst tiefen Stimme abgedroschene Phrasen von sich geben und überhaupt vulgär reden können. Tu, was ich dir sage, wenn du deinen nächsten Geburtstag erleben willst, oder: Ich mache dich kalt, wenn du die Bullen benachrichtigst. So in etwa. Wenn sie dazu noch haarsträubend lachen könnten, wären sie perfekte Erpresser. Dies waren ungefähr die grundlegenden Voraussetzungen, die Kriminelle nach Ansicht des Professors erfüllen mussten. Der Mann, der angerufen hatte, entsprach jedoch kein bisschen dem Bild, das der Professor hatte oder das im allgemeinen verbreitet war. So höflich und seriös wie er redete und sein Anliegen sachlich darlegte, konnte er nur ein äußerst miserabler Erpresser sein. Auch war es ungewöhnlich, dass er nur einen lächerlichen Betrag von 100.000 Won verlangte. Damit wollte der Professor nicht sagen, dass diese Summe für einen, der von einem monatlichen Gehalt lebt, eine Kleinigkeit ist, sondern dass sie im Vergleich zu den Fällen, von denen er gehört hatte, viel zu mickrig war. Da er einmal angefangen hatte, seinen Kollegen zu verdächtigen, konnte er sich nicht mehr bremsen. Vieles sprach dafür, dass Professor Tschö hinter dem Ganzen steckte. Dieser Tschö war einer, der persönliche Differenzen auf diese Art erledigen würde. Er hatte einen erbärmlichen Charakter, und Song fühlte sich fast beleidigt, mit so einem zusammen in dieselbe Schublade gesteckt und Professor genannt zu werden. Obwohl er ihn immer tolerant behandelt hatte, bekam er als Quittung nichts als Spott, grundlose Verleumdungen und Intrigen. Daher hatte er sich vorgenommen, alles auf seine mangelhafte Tugend zurückzuführen und diesen Tschö nicht weiter ernst zu nehmen. Höfliches Desinteresse und trügerische Unbefangenheit bestimmten seitdem ihren Umgangston. Nun schien dieser Flegel jedoch etwas ausgeheckt zu haben, um den Professor zu ärgern. Song bekam langsam Lust, Detektiv zu spielen, weil sein Kopf in einer Sache, die nichts mit seinem Fach zu tun hatte, überraschend gut funktionierte. Er kam sich vor wie ein versierter Ermittler und suchte nach weiteren Beweisen, die seinen Verdacht, den er gegenüber seinem Kollegen hegte, untermauern könnten. Da er den Fall fast gelöst glaubte, fühlte er sich sehr erleichtert.
     Bald stand er jedoch erneut vor einer Mauer, die ihm den Weg versperrte, den er heiter entlanggelaufen kam. Wieder tappte er im Dunkeln, denn falls Professor Tschö wirklich der Täter sein sollte, müsste nach den Anrufen Schluss sein. Selbst wenn er jemanden beauftragt hätte, dürfte das Ergebnis nicht anders lauten. Tschö war nicht so dumm, als dass er sich in die Gefahr begäbe, entlarvt zu werden und sich zu blamieren, indem er Song persönlich aufsuchte. Auch gab es zwischen ihnen nichts, was ihn dazu veranlasst hätte, sich derart bei ihm zu rächen. Wer aber trieb mit ihm solch einen Schabernack? Wer spielte ihm diesen üblen Streich und aus welchem Grund? Wer tat so etwas und warum, wer verfolgte welchen Zweck, wer um Himmels willen und weswegen...
     Sein Schädel begann schmerzhaft zu pochen. Es war ihm, als müsste er sein Hirn noch mehr anstrengen als damals, als er über seiner Dissertation gesessen hatte. Professor Song fasste schließlich den Entschluss, sich nicht mehr darum zu kümmern. Das war das einzig Vernünftige. Von Anfang an hätte er die Sache ignorieren sollen, nicht anders, als wenn ihm jemand gänzlich Fremdes in einem vollen Bus auf den Fuß getreten wäre. Selbst wenn er damit später übel auf die Nase fallen sollte, im Moment wollte er sich nicht beunruhigen lassen. Nicht, dass er gar nicht an die Polizei gedacht hätte. Er wollte sie benachrichtigen und für den Fall der Fälle vorbereitet sein. Doch je länger er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass er so gut wie nichts in der Hand hatte. Welche Polizei auf der Welt wäre bereit, ihm Glauben zu schenken und ihn zu beschützen, wenn er erzählte, dass ein Mann ihn zweimal angerufen und sehr höflich gebeten habe, 100.000 Won bereit zu halten, um das Geld gegen ein Geheimnis tauschen zu können? Angenommen, man würde den Fall dankenswerterweise untersuchen. Aber welch eine Blamage wäre es in seiner Position als würdevoller Professor, wenn keine Erpressung mehr folgte und sich stattdessen herausstellen sollte, dass es nur ein blöder Scherz seiner Freunde war? Noch übler wäre er dran, wenn es tatsächlich einen Täter gäbe, der es auf ihn abgesehen hatte und seine Familie verletzte, weil er gemerkt hatte, dass die Polizei mit im Spiel war. Weil der Professor mehr als durcheinander war, entschloss er sich, zunächst abzuwarten und sein weiteres Vorgehen davon abhängig zu machen, was letztlich eintreten würde. Er hatte keinen Grund, sich vor einer Erpressung zu fürchten. Genau genommen war es keine Erpressung, sondern eher eine Benachrichtigung. Doch gleichgültig, ob es sich um eine Erpressung oder eine Benachrichtigung handelte, der Professor hatte absolut keinen Grund, sich zu fürchten, weil er selbstbewusst von sich behaupten konnte, ein gewissenhaftes, vernünftiges und aufrichtiges Leben zu führen. Es war unmöglich, dass es in seiner Vergangenheit oder Gegenwart ein Geheimnis gab oder er jemals etwas Illegales getan hätte, wofür er 100.000 Won bezahlen müsste um zu verhindern, dass sein Name im Falle einer Veröffentlichung in den Schmutz gezogen würde. Außerdem war er als Professor nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Pädagoge. Sein Widersacher schien ein junger Mensch zu sein, der sein Studium selbst finanzieren musste. Daher hatte der Professor als gewissenhafter Erzieher sogar die schwere Last zu tragen, einen jungen fehlgeleiteten Menschen wieder auf die richtige Bahn zu bringen. Sollte dieser Mann wie angekündigt am nächsten Tag leibhaftig vor seinen Augen erscheinen, dann wollte der Professor sich auf seine Humanität besinnen und seinen kühlen Verstand gebrauchen, um den Mann zu überzeugen und ihn schließlich Tränen der Reue vergießen zu lassen. So lautete die neue Strategie des Professors.
     Und dennoch. Professor Song, der stets peinlich genau und besonnen war, traf, noch bevor die öffentlichen Einrichtungen in der Stadt ihre Pforten schlossen und ohne seine Familie darüber informiert zu haben, für den Fall der Fälle, wirklich nur für den Fall der Fälle, seine Vorbereitungen. Wenn er keine Familie gehabt hätte, wäre es anders. Falls er gefährdet würde bei dem Versuch, einen jungen Menschen mit Zukunft aus dem Sumpf des Bösen zu retten, dann brauchte er sich als Erzieher nichts vorzuwerfen. Aber er hatte nun mal eine Familie. Er hatte eine Frau, die mit ihm durch gute und schlechte Zeiten gegangen war und der er sein ganzes Vertrauen entgegenbrachte, und zwei Töchter, die er über alles liebte und die für ihn das Kostbarste auf der ganzen Welt bedeuteten. Was mit ihm passierte, war ihm nicht wichtig, allerdings gäbe es für ihn keine schlimmere Qual, als wenn seinetwegen seiner geliebten Familie nur ein Haar gekrümmt würde. Da seine vorbeugende Maßnahme keine andere, unlautere Absicht verbarg, hatte er keinen Grund, sich schuldig zu fühlen, nur weil er sie vor seiner Familie für kurze Zeit verheimlichte.
     Der tugendhafte Bürger Professor Song konnte endlich wieder Atem schöpfen, und erst jetzt wurde ihm etwas bewusst. Er erkannte nämlich die Durchtriebenheit der Erpressung. Wenn seine Mutmaßung ins Schwarze traf, dann war die Methode seines Gegners ziemlich ausgeklügelt. Diese taktische Klugheit, nur vage Andeutungen zu machen, so dass es nicht reichte, um die Polizei zu benachrichtigen, und doch weit genug zu gehen und einen zu beunruhigen, so dass man die Sache nicht ganz ignorieren konnte. Diese Art der Erpressung verdiente fast Beifall. Er tat sich selbst leid, weil er den Mann für viel zu tölpelhaft gehalten und ausgelacht hatte. Bei dem Gedanken, er könnte auf einen mit allen Wassern gewaschenen Kriminellen gestoßen sein, fühlte er sich wieder niedergeschlagen.
     "Spreche ich mit Professor Song Bom-sop? Hier ist der Student, der Sie gestern und vorgestern angerufen hat. Ich gehe davon aus, dass Sie bereit sind, meine Ware zu kaufen, und werde Sie wie angekündigt heute aufsuchen. In zehn Minuten bin ich bei Ihnen, um mit Ihnen zu verhandeln."
     Am Morgen des darauffolgenden Tages erhielt der hoch verehrte Wissenschaftler und tugendhafte Bürger Professor Song wieder einen dieser Anrufe. Nun waren es nur noch zehn Minuten. Gestern Nacht, bevor er zu Bett ging, hatte er noch bezweifelt, dass das alles wahr sein könnte, jetzt aber waren es nur noch zehn Minuten, bis diese Zweifel Gewissheit werden würden. Um vor seiner Familie gelassen zu wirken, musste sich der Professor gewaltig anstrengen. Er wollte seine geliebte Familie mit dem plötzlich auftauchenden Erpresser nicht erschrecken. Daher bewahrte er Ruhe und erklärte ausführlich die Lage, die bald vor aller Augen eintreten würde. Er wollte damit zweierlei erreichen: einerseits den großen Schock, der die Familie treffen würde, im voraus um die Hälfte mindern, als ob er ihr eine Impfung verabreichte, andererseits den Kummer, den er bis dahin allein tragen musste, weil er niemandem davon erzählen konnte, in viele Stücke auf- und verteilen, weil er glaubte, sich die psychische Folter des zehnminütigen Wartens (es war ihm, als würde er auf einem Nadelkissen sitzen) durch den Trost seiner Familie erträglicher machen zu können. Zwar hatte er es geahnt, aber seine Frau und beiden Töchter waren erschüttert, als sie die Geschichte hörten. Das traute Familienglück, um das er bis dahin andere nicht zu beneiden brauchte, war im Nu zerstört. Stattdessen erfüllte für eine ganze Weile schweres Schweigen das Wohnzimmer. Dann wurden verschiedene Meinungen laut. Kum-yong, die stets ruhig, verständnisvoll und besonnen war, wie es sich für das älteste Kind der Familie ziemte, äußerte sich als Erste.

Teil 2