Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Olga Tokarczuk: Letzte Geschichten. Teil 2

30.01.2006.
Hinter der Kurve ist der Fichtenwald, durch den die Straße führt, zu Ende, und die Frau erblickt die Lichter einer Art Vorstadt. Vorne vereinzelte Lichtflecken, die sich dann verdichten und in weiterer Ferne eine bräunliche Lichtglocke bilden, in die Schornsteine ragen, schmale, hohe, durchbrochene Gebäude.
     Bei den ersten Schritten auf dem bebauten Gelände - zu beiden Seiten des Weges ziehen sich langgestreckte, niedrige Lagerhallen, Warenspeicher mit unleserlichen Schildern, mit Auffahrtsrampen und breiten Toren - bemerkt sie, daß es still ist wie in der tiefsten Nacht, und daß kein einziges Auto vorbeigekommen ist.
     Da fällt ihr Blick auf eine Seitenstraße, die zwischen den Lagerhallen hinausführt und dann abbiegt, in Richtung Wald. Sie liegt im Schein hoher Straßenlaternen, die im Unterschied zu allen anderen violett leuchten.
Die Straße ist vom Schnee befreit und sauber.Weiter entfernt steht ein Haus, seine Fenster sind erleuchtet. Ohne zu überlegen biegt sie ab, in Gedanken immer noch beim Haar der Berenike, denn sie weiß gar nicht, wer diese Berenike eigentlich war und warum ihr Haar am Himmel ist. Dann, im bläulichen Schein der violetten Lampen, hört sie von dem erleuchteten Haus her Hundegebell. Dieser Richtung folgt sie.

DAS HAUS sieht nicht aus wie ein Landhaus, es erinnert eher an eine verlassene kleine Villa, die sich an den Stadtrand verirrt hat, einstöckig, schmal, mit etlichen Veranden und Anbauten. Die Pläne des Erbauers hatten vielleicht einst hier eine ganze Reihe solcher Häuschen vorgesehen, eine Siedlung für wohlhabende Leute, aber irgend etwas hatte die Verwirklichung dieses Planes vereitelt, und es blieb bei dem einen Haus, einsam, abgelegen an Hügel und Wald, in seiner Andersheit diskret von weiter entfernten Gebäuden beobachtet, die sich schwer ausmachen lassen, sie wirken verkümmert, teils verfallen, sind von einfacher Form wie Garagen, Baracken, Werkstätten und dergleichen. Dazwischen verlaufen Eisenbahngleise, zweimal muß sie diese überqueren, bevor sie in einen weiten Hof gelangt, doch sie scheinen unbenutzt; der Schnee hat ihre Richtung und ihr Ziel unkenntlich gemacht.Auf die Existenz parallel verlaufender Eisenbahnschienen unter dem Schnee verweisen nur die Weichenanlagen und die spärlichen Signale, die wie einarmige Skulpturen aus dem Schnee ragen, als seien sie aufgestellt, um Ankömmlinge zu begrüßen.
     Aus den Fenstern scheint ein schwaches Licht, das sie besonders ungern mag, weil es in ihr immer eine unvermittelte, unerklärliche Traurigkeit hervorruft. Glühbirnen von höchstens vierzig Watt, die hoch unter der Decke hängen. Ein Selbstmordlicht.
     Von irgendwoher taucht neben ihr ein Hund auf, groß und weiß, mit ein paar schwarzen Flecken auf dem Rücken - wahrscheinlich derselbe Hund, der eben gebellt hat, aber jetzt schweigt er, beschnuppert sie nur aufmerksam und routiniert, hechelnd, und führt sie zum Eingang. Die Frau tritt in einen dunklen Flur. Der Hund kratzt drinnen an einer Tür, während ihre Hand nach einem Lichtschalter tastet.
     "Da bist du schon wieder? Du bist doch gerade erst
hinausgegangen?" sagt eine Frauenstimme ungehalten.
     Ein schmaler Lichtstreif fällt auf den Boden, erreicht
die Füße der Besucherin.
     "Huch!" flüstert die Stimme erschrocken. "Wer ist da?"
     Die Frau versucht, sich in den Lichtspalt zu zwängen. "Bitte entschuldigen Sie vielmals, ich habe mich verirrt, ich weiß nicht, wo ich bin. Ich war unterwegs auf der Straße nach Klodzko, und plötzlich bin ich den
Abhang hinuntergestürzt. Ich habe mir den Kopf aufgeschlagen. Ich dachte, es wäre gut,wenn ich jemanden finde?"
     "Kommen Sie doch herein, es ist kalt."
     Eine große Küche mit einem Tisch in der Mitte und einer großen weißen Kredenz an der Wand. Ein älterer Mann mit einer gestreiften Weste über dem Schlafanzug erhebt sich unwillig vom Tisch. Vor ihm steht eine kleine ausgemergelte Frau in einem verschossenen speckigen Hauskittel. Die Besucherin erklärt noch einmal verwirrt ihre Situation, sagt immer dasselbe: Sie hat das Auto zurückgelassen, ist in den Graben gestürzt,war unterwegs nach K/lodzko, eine schöne Nacht, schließlich redet sie vom Haar der Berenike. Sie mustern sie mit einem merkwürdigen Blick, sie kann diesen Ausdruck nicht deuten:Trauer? Gelassenheit? Verdruß?
     Die kleine Frau steht vor ihr wie eine Kartenverkäuferin,
gleich wird sie ihr ein Billett geben. Ihr kleines Gesicht rötet sich von dem frostigen Zugwind, der jetzt durch die offene Tür hereingefahren ist, oder umgekehrt, von der Hitze, die von der rotglühenden Herplatte aufsteigt. Dann zieht sie ein Papiertaschentuch aus der Tasche.
     "Setzen Sie sich doch", sagt sie, "Sie haben Blut am
Mund."
     Behutsam wischt sie das Blut ab, ihre Bewegungen sind kurz und sicher.
     "Fehlt Ihnen nichts? Möchten Sie einen Tee?"
     "Ja, gerne, natürlich.Tee, egal, irgendwas."
     Der Mann hilft ihr aus der Jacke, sorgfältig faltet er ihren Schal zusammen.
     "Sind Sie verletzt? Haben Sie Schmerzen?"
     Diese einfachen Fragen kommen ihr verworren und zusammenhanglos vor. Sie holt tief Luft, um zu antworten, doch anstelle von Worten kommt nur ein Weinen heraus.
     "Ich bin mit dem Kopf aufgeprallt, mein Auto ist in den Schnee gestürzt. Ich bin hinausgekrochen und hierhergekommen. Ich glaube, mir ist nichts passiert, man sieht doch nichts, oder? Alles funktioniert noch,
gucken Sie doch" - sie lächelt schwach und bewegt die Arme und Beine wie ein Hampelmann.
     Die kleine Frau setzt ihr ein Glas Tee in einem zierlichen Metallhalter vor. Die beiden nehmen ihr gegenüber am Tisch Platz.
     "Das ist das Wetter. Da verliert man den Orientierungssinn", sagt der Mann und schaut auf das Fenster, in dem sich die Vierzigwattbirne unter dem runden weißen Schirm spiegelt, ein Widermond.
     "Der Winter will kein Ende nehmen."
     "Morgen kommt unser Enkelsohn, er kann Sie untersuchen. Wir haben Zimmer oben, bleiben Sie über Nacht bei uns, jetzt ist es sowieso zu spät, um etwas zu unternehmen. Wir müssen nur die Elektroheizung anschalten, damit es warm wird", setzt die kleine Frau noch hinzu und schaut ihren Mann an.
     Der Mann wirft sich eine dicke Strickjacke über und geht wortlos hinaus. Bald darauf hört man seine Schritte von oben. Die gläserne Deckenlampe schwankt kaum merklich.
     Die kleine Frau legt die Hände auf den Tisch und sagt überraschend heiter:
     "Ich will?s Ihnen gleich sagen, ich hab? Probleme mit dem Gedächtnis, also mit wichtigen Fragen wenden Sie sich besser an ihn" - sie weist mit dem Kinn nach oben, zur Decke. "Ich erinnere mich gut an alles, was vor langer Zeit geschehen ist, zum Beispiel als wir im Krieg hierhergekommen sind, ich weiß sogar noch, wieviel das Brot damals gekostet hat, gleich nach der Befreiung. Weißt du, wieviel, Kind? Ich weiß es genau, nämlich zwanzig Groschen. Aber dafür habe ich Mühe, mich an Dinge zu erinnern, die gestern geschehen sind. Das ist nicht diese Krankheit mit 'A', du weißt schon, die alle
haben. Ich bin bloß alt."
     "Gut, ich werd?s mir merken."
     Die alte Frau holt eine angebrochene Wodkaflasche aus dem Schrank und gießt ein wenig in das Teeglas.
     "Davon wird Ihnen wärmer, trinken Sie nur."
     "Ich bin Olga", sagte sie dann. "Und das" - sie richtet den Blick nach oben, zur Decke, "das ist Stefan."
     Die Frau trinkt von dem heißen Tee und will etwas erwidern, hat den Mund schon geöffnet, doch sie spürt, wie sich ein kalter dichter Nebel in ihrem Kopf breitmacht. Sie zeigt mit dem Finger auf sich selbst, richtet ihn genau auf die Mitte der Brust, spürt die Berührung. Sie weiß, sie müßte sich nur konzentrieren, dann würde es ihr bestimmt einfallen. Die Gedanken ballen sich wie unruhige Kaulquappen direkt unter der Wasseroberfläche. Das ist bestimmt von dem Aufprall, deshalb fühlt sie sich so merkwürdig, als würde sie schlafen und schlafwandeln, bestimmt hat sie eine Gehirnerschütterung, und davon sind die Gedanken zerkrümelt und auseinandergebrochen wie Figürchen aus Eis. Sie weiß, daß ihr gleich alles einfallen wird, sie muß sich nur konzentrieren. Die andere schaut sie aufmerksam an, wartend. Aber sie ist müde, muß ihre Gedanken sammeln, und zum Glück wird Olga von ihrer nicht gestellten Frage abgelenkt, denn sie steht auf und geht in eine Ecke. Dort steht eine flache Holzkiste, über die eine grobe braune Decke gebreitet ist, und darauf liegt etwas Schwarzes, Zotteliges. Ein Hund. Sein langes Fell erinnert an Garn, an wollene Stränge, dicke verhedderte Knäuel, vor allem am Kopf und am Hinterteil. Er atmet schwer und stöhnt ab und zu. Sie und Olga beugen sich beide über das unförmige schwarze Bündel. Ein unangenehmer saurer Geruch steigt ihr in die Nase.Als fühlte er ihre Anwesenheit, öffnet der Hund ein Auge und wirft ihnen einen kurzen Blick zu. Dieser Blick ist undurchdringlich, schwarz, tief wie ein Brunnen, auf dessen Grund man die Oberfläche des unterirdischen Wassers sehen kann.

AUF DER TREPPE gerät sie ins Taumeln. Die beiden stützen sie. Sie führen sie in ein kühles, spärlich möbliertes Zimmer. Ein niedriger gedrungener Schrank steht darin, darauf die Porzellanbüste eines Mädchens mit hellen Haaren, die mit einem blauen Band zusammengehalten sind, außerdem ein Eisenbett und ein ramponierter Korbsessel, einstmals weiß, jetzt scheckig. Flocken abgeplatzter Farbe liegen auf dem Boden, die Möbel schuppen sich. Unter dem Fenster liegen Äpfel auf ausgebreiteten Zeitungen, sie sind noch kaum runzlig, obwohl es schon Ende Februar ist. Die Luft ist glatt und feucht wie die Schalen der Äpfel. Sie erwärmt sich langsam durch die Elektroheizung.
     Die beiden reden noch etwas, während sie den Schrank öffnen (lauter alte, schlüpfrige, unbezogene Decken liegen darin), die Vorhänge zuziehen, den Krug zurechtrücken, das Tischtuch auf dem Tisch richten. Sie hört nicht mehr zu. Langsam, vorsichtig legt sie sich aufs Bett, als wäre sie eine kostbare Porzellanfigur, die man nur in der Verpackung aufbewahren kann, in liegender Stellung. Kurz darauf kommt die kleine Frau wieder und bringt ein Handtuch und ein verwaschenes Flanellnachthemd.
     "Das Badezimmer ist unten", flüstert sie und verschwimmt
in der Dunkelheit, um bald wieder zu flüstern, rascheln und knirschen, wobei sie mit dem Mann abgerissene Sätze wechselt, während sie irgendwelche vergessenen Stühle rücken, Lichtschalter knipsen, in der Tür den Schlüssel umdrehen.

Teil 3
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