Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Francisco Ayala: Wie Hunde sterben. Teil 1

06.03.2006.
Wir sind heute nur allzusehr daran gewöhnt, im Kino Revolutionen, Kriege, Überfälle, Aufruhr aller Art und spektakuläre Gewalttaten anzuschauen, bei denen die Bestie Mensch brüllt; wenn man all das jedoch nur im Kino gesehen hat, kann man sich - glaube ich - kaum vorstellen, mit welch verblüffender Gewöhnlichkeit es sich in der Realität abspielt, anders als wenn man - wie ich jetzt - bedauerlicherweise dazu auserkoren ist, es hautnah mitzuerleben. Spätere Generationen werden angesichts solcher Ereignisse bestimmt staunen und alle daran Beteiligten vorbehaltlos als Helden betrachten. Auf solche Ehren verzichte ich, was mich betrifft, selbstverständlich gerne und bin bestrebt, diesen Bericht in der Blöße der reinen Wahrheit abzuliefern. Tag für Tag sitze ich hier in meinem Rollstuhl, werde Zeuge des ganzen grausamen Durcheinanders und befinde mich mitten im Wirbel, ohne daß mich bislang jemand behelligt hätte. Falls mir meine Nutzlosigkeit weiterhin von Nutzen ist und nicht doch noch jemand aus Bosheit seine Scherze mit meiner Lähmung treibt und mich mit einem Stoß in den schauerlichen Totentanz hineinbefördert, so ist es sehr wahrscheinlich, daß wir das Ende erleben und ich es selbst erzählen kann ... Denn das alles muß ja schließlich ein Ende haben; und dann ist jemand vonnöten, es zu erzählen.

Bis dahin schützt mich meine Bedeutungslosigkeit.Wer wird sich denn schon mit mir abgeben? Ich habe mehr als genug Zeit, zu beobachten und auszukundschaften, Zeit, meine Erkundigungen auf ihre Stichhaltigkeit hin zu überprüfen, Zeit sogar, Beweismaterial zu sammeln, ja die Papiere zusammenzutragen, auf deren dokumentarischen Wert die Geschichte dieser verworrenen Zeitläufte sich stützen muß. Natürlich prahle ich mit dieser Leistung nicht, und es ist auch keine rühmenswerte Tat, daß ich mich dem Sammeln und Zusammentragen widme; gäbe es denn etwas Besseres, mich zu beschäftigen? Ich stamme aus einer Familie von Schreiberlingen, und da ich schon seit meinen recht fernen Jugendjahren an den Rollstuhl gefesselt bin, steht mir das Recht auf eine sitzende Tätigkeit zu, während rundherum alle bestrebt sind, einander umzubringen; da ist nichts Rühmliches dabei, eher im Gegenteil ... Ich weiß genau, daß mein Zustand kein ernstliches Hindernis sein würde, wenn ich mich an den gegenwärtigen Kämpfen beteiligen wollte, erst recht nicht, wenn mir politisches Geschick gegeben wäre. Da haben wir doch das noch gar nicht weit zurückliegende leuchtende Vorbild Roosevelts als Inbegriff eines körperbehinderten Tatmenschen;(1) und auch ohne derart hoch zu greifen - ist denn der alte Oloriz samt seinen Gebrechen, seiner Altersschwäche und den ersten Anzeichen von Verblödung weniger behindert als ich, und ist nicht doch er in gewisser Weise unser Anführer und dirigiert mit seiner zittrigen Hand die schreckliche Sarabande? Verhängt nicht er die Todesurteile unter dem Vorwand, das Gemeinwohl zu schützen, ordnet Verhöre an, befiehlt Folterungen, kurz, hält in seinem entlegenen Winkel die Fäden sämtlicher Marionetten in der Hand? Auch wenn es unbegreiflich scheinen mag: Er ist es.


Ich hingegen, armer Kerl, der ich bin, habe nie den Ansporn solcher Wünsche verspürt und statt dessen aus meiner Krankheit eine Tugend gemacht, um damit meine Familientradition als Leser und Schreiberling zu festigen, bis ich in den Augen der andern zu dem seltsamen Vogel geworden bin, den sie in mir sehen: einer Art komischem Kauz mit mächtiger Brust und dürren Beinchen. Sollen sie nur! Sie strampeln sich ab, sie ringen, sie überschlagen sich vor Eifer, sie trachten einander nach dem Leben und spielen sich von Aufwallungen blinder Leidenschaft getrieben als Hauptfiguren auf. Und dennoch: Wer sagt ihnen, daß nicht mein Name, der Name Luis Pineda, ausgerechnet der unbedeutende Pinedito, zu guter Letzt über alle Köpfe hinweg berühmt werden wird, und dies nur dank seinem einzigen Verdienst, Dokumente vor der Zerstörung gerettet zu haben, deren Wichtigkeit heute noch niemand erkennt und die deshalb niemand beachtet ...? Ganz im stillen hebe ich sie auf, um dann, wenn die Zeit gekommen ist, den Ablauf der gegenwärtigen Ereignisse niederzuschreiben; es ist merkwürdig, daß die Ereignisse selbst sie mir mit einem zufälligen Windstoß in die Hände spielen. Wenn die Horden nicht mehrere Gesandtschaftsgebäude überfallen hätten, so wären die vom Winde verwehten Papierfetzen aus ihren Archiven, die ich nun vor mir liegen habe, ja gar nicht in meinen Beständen gelandet. Ohne die Plünderung des Klosters Santa Rosa, dessen Äbtissin für eine Nacht in der Botschaft von Spanien unterkam - jene wurde später von einer entfesselten Meute verwüstet -, wäre das dicke Bündel Briefe und Entwürfe, das ich in meinen Ordnern hüte, nicht in meinen Besitz und in meine Obhut gelangt ... Und wie diese gibt es viele weitere Schriftstücke - darunter auch etliche recht drastische -, die ich bis heute zugunsten der Zeitläufe zusammenzutragen und zu ordnen vermochte.

Es gibt sie in der Tat in jeglicher Ausführung und für jeden Geschmack; dennoch ist mir keines so kostbar und so unverhofft zugeflattert - ich muß es gestehen -, wie die Memoiren, die insgeheim Tag für Tag mit größter Sorgfalt auf offiziellem Papier des Präsidialamtes und nicht ohne ein gewisses literarisches Geschick geschrieben wurden, und zwar vom selben undurchschaubaren, launenhaften und heimtückischen Kerl, der die tragischen Ereignisse auslösen und deren erstes Opfer er dann selbst werden sollte: vom Privatsekretär Tadeo Requena. Leicht kann man sich vorstellen, wie aufschlußreich und gewichtig gewisse Schlüsselstellen in dem ausführlichen und bisweilen auch unverschämten Bericht sind - in gewisser Hinsicht die Autobiographie dieser verqueren Persönlichkeit, die aus der zweiten Reihe so entscheidend in das Geschehen eingriff, daß ihr Schriftstück Eckstein eines jeden künftigen historischen Gebäudes sein wird.

Teil 2