Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Elke Schmitter: Veras Tochter. Teil 1

13.03.2006.
Ich habe es immer gespürt. Soweit man etwas spüren kann, das fehlt. Bevor man noch weiß, daß es da sein "müßte", bevor man noch weiß, was "normal" ist. Und wie das Glück sich anfühlt, das die anderen haben.
     Ich setze diese Worte in Anführungszeichen, sogar in Gedanken. Schon vor langer Zeit habe ich begriffen, daß es nicht gut ist, so mit sich selber zu sprechen.Worte wie "sollte" und "müßte" drücken nicht aus, was man will oder wie man sich fühlt; sie haben gar nichts mit einem selbst zu tun, sondern nur mit Konzepten: das sollte ich wollen, das müßte ich können, so würde ich sein. Näher kommt man sich nicht mit diesen Worten - man könnte nur dem näher kommen, was die anderen ursprünglich von einem wollten, bevor man noch selbst bewußt etwas wollte. Doch um das überhaupt zu merken, muß man die Worte schon in Anführungszeichen setzen. Man darf sie unwillkürlich gar nicht mehr benutzen wollen. (Man darf? Nein, ich schaffe es immer noch nicht.) So wie ich es tue,wenn ich an meine Mutter denke: an die Person also, die mich beherrscht hat, bevor ich überhaupt wissen konnte, was ich denn wollen würde,wenn ich denn wollen dürfte.Von der ich das Fühlen lernte. Und das Nichtfühlen da, wo es weh tun könnte. Beispielsweise daß sie mich niemals liebte. Obwohl sie meine Mutter ist. Die Frau also, die mich lieben müßte, so wie es normal ist. So wie es die anderen haben, dieses selbstverständliche Glück.
     Aber selbst wenn sie mich nicht liebte: Hat sie deshalb meinen Geliebten umgebracht?


Ich bin durch Zufall darauf gekommen. Ich war nämlich nicht bei Paolo, sondern einmal bei einem anderen. Ich spürte fremde Finger auf meinem Kopf, ein anderes, fast dringliches Kratzen, eine nicht unangenehme Brutalität in diesen breiten, ein wenig harten, vielleicht auch schwieligen Kuppen. Ich sah in den Spiegel und merkte sofort, daß ich beobachtet wurde - daß da ein Mann, lauernd und reichlich selbstgefällig, auf meine Augen starrte: ob sich die Lider genießerisch senkten, ob sie vielleicht unruhig flatterten, ob die Wimpern womöglich zitterten, vor Wonne, vor Aufregung oder mehr. Das war mir unangenehm. Nicht nur mein fremdes Gefühl - schon unendlich lange (wieso eigentlich "unendlich"?) hatte mich kein Mann mehr berührt. Sondern auch die Beobachtung, die eine Regung bestätigte, die ich nicht spüren wollte - oder vielleicht spüren, doch von der ich nichts wissen will. Vor allem nicht durch andere. Und erst recht nicht durch einen Fremden.
     Deshalb tat ich etwas, was ich normalerweise nicht tue: Ich griff nach einer dieser Zeitschriften, die es fast nur noch bei teuren Friseuren gibt, und in sehr guten Hotels an der Rezeption oder vielleicht in der Business- 8 class. Zeitschriften mit einer Frau auf dem Cover, die es nicht nötig hat zu lächeln, nicht einmal hübsch zu sein, jedenfalls nicht gefällig.Viel häufiger sehen die Models unnahbar aus, sind übertrieben oder scheinbar gar nicht geschminkt und haben das,was die anderen, die billigeren Magazine vielleicht einen "Schönheitsfehler" nennen würden: besonders große Sommersprossen, eine allzu üppigeUnterlippe,kirgisisch schmale Augen in einem europäischen Gesicht. Hier war es ein androgyner Typ - so männlich, daß ich erst schwankte, ob die geraden Augenbrauen, die kühne und scharfe Nase, das feine, aber enorm energische Kinn wirklich zu einer Frau gehörten. Ich habe immer für Katherine Hepburn geschwärmt, doch im Vergleich zu dieser Upperclass-Lady sah das Covermodel beinahe brutal männlich aus - die Augen auf jene blasierte Weise fast geschlossen, die es ganz dem Betrachter überließ, darin Dummheit oder Desinteresse aus Klugheit zu lesen.
     Ich starrte nicht so lange auf dieses Gesicht, wie ich eigentlich wollte. Noch immer fühlte ich mich beobachtet, und ich hatte die (sicher berechtigte) Befürchtung, daß mich Daniel, Sascha, oder wie er hieß, aus jeder Versunkenheit wecken würde, in die ich mich hineingleiten ließe. Unter anderen Umständen also - denn ich kann fast jederzeit und überall in diese Abwesenheit rutschen, in eine gefühlsmäßig neutrale Trance, aus der ich erfrischt erwache - wäre es gar nicht dazu gekommen. Ich hätte nicht weitergeblättert, so müßig und zugleich hektisch, wie es Magazinleserinnen tun, die nicht wissen, wonach sie suchen, die an jedem Bild hängenbleiben, wenn es nur aufregend ist, und Informationen aufnehmen, die sie nie brauchen werden - über Korallenriffe auf den Seychellen, ein Luxushotel auf Sansibar, den Karriereknick eines Luxusmodels. So aber tat ich es eben:erfuhr etwas über dieVergnügungsviertel in Leningrad und besah mir angelegentlich Fotos der Pariser Defilees mit den Diktaten für die kommende Saison. Popfarben würden wieder modern, prophezeite das Magazin, in Kreisen und psychodelisch geschwungenen Streifen; Plastikfarben in Plastikformen. Ich hatte nie Probleme mit meinem Alter, aber merkwürdig finde ich schon, daß die Mode, für die ich damals nur wenig zu jung war, sich inzwischen schon wiederholt. Zumal es etwas Absurdes hat, in einem überheizten Salon zu sitzen, an dessen Schaufenstern die Leute mit hochgeschlagenen Mantelkrägen unwirsch vorbeihasten, die Mienen verkniffen gegen einen fiesen, peitschenden Graupel, und auf magere Bäuche zu schauen, mit Kettchen über dem Nabel oder einer Perle darin, in körnigen Sand gegossen, auf halb geschlossene Lider, entspannt und selbstzufrieden, auf leicht geöffnete Lippen, mit Gloss kußfeucht geschminkt ... "Nichts Schönres unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein ..." Ich weiß nicht, von wem diese Zeile stammt, die durch mein Gedächtnis summte, ich wehrte sie lebhaft ab: mir hat die Sonne nie etwas bedeutet, ich fand den Schatten erträglicher; ich bin mit dem Schatten groß geworden und habe ihn immer geliebt. Das Laub schon im Mai, das Kühle verbreitete, das hohe und häufig feuchte Gras, Sauerampfer, Nüsse im Herbst, und die Äpfel, die in den Wiesen lagen und mehlige Stellen bekamen. Oft gingen wir in die Pilze, mit diesen kleinen, aber tiefen Körben, die vom Alter weich geworden waren: Fliegenpilze habe ich immer erkannt und erst spät begriffen, daß das, was mir attraktiv erschien - blättrig zerfaserte Hauben, gepunktete Oberflächen, Kolonien, im Grunde Familien -, eigentlich giftig war. Ich brachte die Ausbeute meinem Vater, glühend vor Ehrgeiz und Stolz, und er trennte die Spreu vom Weizen, geduldig und immer freundlich, während Vera auf einem Holzstumpf saß mit einer Zeitung unterm Hintern, eine Zigarette rauchend, dem Qualm in der Luft nachsehend, die Beine elegant seitwärts gelegt ... Erst heute denke ich, manchmal, darüber nach, wie sie sich gefühlt haben mochte in dieser ihr fremden Familie, mit dieser eifrigen Tochter, beflissen, rothaarig, beinahe stumm, dem Vater hörig, der sich mit solcher Lust durch die Wälder stemmte. Es wird ihr egal gewesen sein, wie viele Pilze wir sammelten, ob es reichte für ein Ragout (das ohnehin Hermine kochte), ob sie giftig oder der Gesundheit förderlich waren ... Es gab Zeiten, vermute ich heute, in denen sie dachte: Wenn es nur reicht, uns alle auf einmal auszurotten. Aber es reichte nie.
     Diese Erinnerungsfäden, die mein Gehirn durchzogen in den gelangweilten Minuten, da ich auf braune Bäuche und Schenkel starrte, verursachten mir ein bekanntes Unwohlsein. Nach vielen Jahren habe ich gelernt, daß es nicht gut ist, diesem Unwohlsein zu folgen; ich gehe zuweilen mit mir um wie ein professioneller Hundeabrichter: freundlich, sachlich und fest. Ich blätterte also weiter in dem abgegriffenen Heft, um zu verhindern, daß sich diese Fäden aufspulten zu einem kleinen depressiven Knäuel, und geriet auf eine Seite mit Lesetips - was solche Magazine eben empfehlen."Madame Bovary von heute", war eine Spalte überschrieben, und da ich mich an den Film mit Isabelle Huppert erinnerte, las ich, ohne zu überlegen:

Teil 2