Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Andre Bernold: Becketts Freundschaft. Teil 3

27.02.2006.
(Seiten 55-61)

     Da war die Schachtel mit den Zigarillos. Beckett legte sie auf den Tisch, öffnete sie, nahm einen Zigarillo, bot mir einen an, dann einen zweiten. Er rauchte einen, ich zwei, immer. Auf die Vorhaltungen seines Arztes hatte er seinen Konsum auf drei oder vier verringert, aber er rauchte gegen Ende wieder mehr. Ich sah nacheinander sieben verschiedene Marken. Er nannte mir einige, die sehr selten waren und nach denen ich dann für ihn suchte (das tue ich weiterhin), ohne großen Erfolg. Eine trieb ich in Straßburg auf, in einem dieser altmodischen Cafes, die jeder mag, und dann in Basel, wo ich die Fasnacht sehen wollte. Die beschrieb ich ihm dann, die streng geordneten Züge tropischer Masken hinter den Pfeifen in den vereisten Straßen. Wenn er aufstand, bemerkte Beckett, dass ich das, was mir, so behauptete er, gehörte, vergaß ("Aber ja, das sind deine! Das sind deine!"), oder aber er schnipste anstelle eines Abschiedsgrußes die Schachtel wortlos zu mir hin. Er trank nur einen Kaffee, einen großen oder einen kleinen Schwarzen, "un petit noir", wie man noch ein wenig altmodisch sagt, und ich einen Whisky, um eine immer mögliche Anspannung zu ertränken und ihm Gelegenheit zu geben, den Erstaunten zu spielen: "Du gibst dich dem Alkohol hin, am hellen Vormittag?"
     Es geschah öfter, dass wir von Substanzen sprachen, unwirksamen Medikamenten, Brennholz, Qualität der Wolle der Mäntel. Dann legte er über der Kaffeetasse den Kopf zur Seite, besah die Oberfläche der Flüssigkeit, vertiefte sich in die Lichtreflexe. Er träumte, warf anstatt des Zuckers das Papier in den Kaffee, zündete den Zigarillo an beiden Enden an. Die gewölbten Gläser seiner Brille, die, wie er sagte, den Glaskörper seiner Augen ersetzte, waren ganz zerkratzt, weil er sie achtlos über den Tisch schob.
     Ich sah dies alles wegen seiner Hände. Beckett selbst war auf Hände immer besonders aufmerksam. In seinen letzten Texten geben sie Anlass zu immer nachdrücklicheren Anspielungen, aber bereits Wie es ist widmete ihnen mehrere Seiten. Er hätte gern ein Stück "nur für sie" gemacht, weil sie, wie er sagte, "so photogen" sind. Er empfand für die Hände eine Art Mitleid, wie ich selbst auch als Kind. "Im Ruhestand nach all dem, was sie getan haben", sind sie noch bereit, das zerfallene Gesicht, den erschöpften Kopf zu verbergen; ein letzter und zerbrechlicher Schutz. Man denke an die Hände der alten Dame, die auf der Treppe von Film Blumen trägt. Niemand hat besser als Beckett gezeigt, wie man die Hände vors Gesicht schlägt, niemand hat besser als er aus dieser demütigen Geste gleichsam das letzte mögliche Zeichen gemacht. In dieser Hinsicht sind die Schlussbilder von Film exemplarisch, und Beckett hatte Buster Keatons schöne Hände nicht vergessen; dies war übrigens seine einzige gute Erinnerung an diese Dreharbeiten, denn anders, als man glauben möchte, hatten sich die beiden Männer überhaupt nicht verstanden.
     Die seinen waren groß, lang, knochig und sozusagen unregelmäßig; mehr Holz als Blatt; einige Fingerglieder wurden von anderen unterdrückt, einige Gelenke saßen fest, der Ringfinger führte ein Eigenleben, wanderte kaum wahrnehmbar auf dem Henkel einer Tasse, auf dem Feuerzeug; zarte Haut, empfindlich, zu spektakulären Hämatomen neigend; oft abgebrochene Nägel. Die phantastisch zusammengekrallten Finger kämpften gegen das Ersticken. Wie der Protagonist von Katastrophe litt Beckett an Dupuytren-Kontrakturen. Soweit ich verstanden habe, zwingt eine Art Atrophie die Finger, sich permanent zu verkrampfen: "Sie sehen wie Krallen aus." Beckett fasste einen chirurgischen Eingriff - ein sehr passender Begriff - ins Auge ("Sie sehen heute morgen chirurgisch aus", sagte er mir einmal übel gelaunt); verzichtete dann darauf. Aber er fürchtete, dass er den Mittelfinger nicht mehr benutzen könnte, was ihm das Schreiben so gut wie unmöglich gemacht hätte. Unter diesen Umständen glich es schon einem akrobatischen Kunststück, jene spinnwebfeine Handschrift zu produzieren, die sich regelmäßig auf Briefumschlägen unter meine schlecht gefügte Tür schob und mich weckte. Um sein achtzigstes Lebensjahr hatte er sich wieder ans Klavier gesetzt und seinen Händen einige Haydn-Sonaten abverlangt - "ausschließlich", betonte er. Er sagte mir: "Die Zeit geht vorbei...es ist wunderbar...und es ist so schön." Ich sah Goethes Schatten sich verneigen.
     Wenn er eine Tür öffnete, schienen seine Hände den ganzen Körper zu erobern: Er beugte sich vor, horchte ab; legte den Handballen auf den Türflügel; tauchte plötzlich auf, schon aufgerichtet, mit seinem fragenden Schritt, wie verblüfft, kaum Widerstand begegnet zu sein. Diese Augenblicke in einer Ferne, wo nichts geschah als ein Auftauchen (das auch bedeutete, dass es keine Möglichkeit mehr gab, noch weiter zu gehen), zogen sich schon weit in sich selbst zurück, antizipierten die Abwesenheit, die folgen würde, und die immer wiederkehrenden Schwellen, die ich hier zu erforschen suche (zum Beispiel die des Übergangs zum Duzen, das von Anfang an die Form war, in der Beckett mir etwas gab: "Hier, das ist für dich").
     Wie sich in seinen Bewegungen Abtauchen und Wieder-Auftauchen abwechselten, so zeigte Becketts Schrift variable Längen und Ausschläge. Es ist schwierig, jemandem mehr als einen allgemeinen Eindruck zu vermitteln, der nicht mit der Technik der graphologischen Beschreibung vertraut ist oder der diese Schrift zwar schon oft entziffert, aber ein bestimmtes wesentliches und konstantes Merkmal vielleicht nicht wahrgenommen hat. Ich halte fest, dass Beckett nicht eine Schrift hatte, sondern mindestens fünf in diesen zehn Jahren, und nach den wenigen älteren Manuskripten, die ich gesehen habe, zu urteilen, vermute ich, dass es noch mehr waren; die eine leitete sich aus der anderen ab, er brachte sie auf das Papier mit so viel Energie, wie die eingekerkerte Hand sich lebendige Genauigkeit bewahrt hatte. Ganz wie der Namenlose sich schwankend um sich selbst dreht und jede seiner unentschiedenen Gesten eine noch ohnmächtigere umhüllt, war Becketts Schrift ebenso fein in sich selbst zurückgezogen, wie die emergierenden Seiten eindrucksvoll wirkten. Er gab zu, dass er manchmal Mühe hatte, seine Schrift zu entziffern. Winzige Spitzen, sehr feine Zackenreihen, die wie von einem mächtigen Wind von links nach rechts getrieben wurden, Züge von Vögeln, die beim Überqueren einer Seite die Verbindung verloren und sich verirrt haben und nun in den Weiten der breiten, schwankenden Ränder umherirren, oder in guter Ordnung eng zusammengerückt, wie Büßende im Purgatorium: Dies sind einige Aspekte seiner privaten Schrift. Der zweite Zustand, vielleicht der schönste, war eine den Freunden vorbehaltene epreuve d'artiste, mit sehr schwarzer Tinte, wie gestochen, wie meine Großmutter auf Deutsch sagte; sie war zwölf Jahre älter als Beckett, bat mich, ihren Eltern ihre respektvollen Grüße zu übermitteln und lebte so sehr außerhalb der Zeit, dass sie sich wunderte, wenn die Zeitungen keine Nachrichten mehr von Blaise Pascal brachten...Diese Schrift wie von einem Kupferstich, immer eng, ansteigend und sehr geneigt - einige Buchstaben mehr angedeutet als ausgeführt, andere durch die folgenden verkürzt - erinnerte stark, nach einem Autograph, das ich gesehen habe, an die von La Fontaine; ich sagte es Beckett, und er freute sich wirklich sehr.
     Eine dritte Version, gewöhnlich mit blasserer Tinte, war wieder von Auflösung gekennzeichnet, worin sie der chinesischen "Grasschrift" ähnelte, eine einfache Schnur, die auf dem Strand liegen geblieben war - die Wörter in großen Abständen und so waagerecht, dass man das Blatt umdrehen und sehen konnte, wie von oben nach unten eine mongolische Kalligraphie erschien. (Fabeldichter oder Dschingis Khan: Wen ziehen Sie vor? Er hat etwas von beiden, Sie können es nachprüfen). Davon gab es eine Variante mit sehr viel stärkerem, kraftvollerem Strich, der sich auf der Seite breitmachte und ziemlich würdevoll wirkte; man sieht sie oft in den Manuskripten der sechziger Jahre. In starkem Kontrast dazu 4. eine gedrückte Schrift fast ohne Abstriche, die Schrift der Ärgernisse, und 5. die offizielle, offene, sorgfältige, sehr lesbare Schönschrift, die er bei Adressen, Danksagungen, den gut gehaltenen Regieheften und für die zur Vervielfältigung und Veröffentlichung bestimmten Seiten verwendete.
     Die Nachrichten, die wir tauschten, betrafen zum Teil unsere jeweiligen Ortswechsel; wir hielten uns genau auf dem laufenden, "au courant", wie er gern sagte. Von den drei Wohnungen, wohin sie mir im Lauf der Zeit zugeschickt wurden, hatte es besonders die zweite Beckett angetan. Deswegen will ich darüber berichten. Es war ein einfaches Zimmer (er sagte im Argot der Ecole Normale: une turne, eine Bude), das ich sehr liebte und an das ich immer noch gern zurückdenke; und er selbst riet mir, als ich umzog, es für Freunde zu behalten. Es lag Rue de Conde, und es hatte eine schöne würfelförmige Form; schlecht geweißte Wände, rauhes Parkett, zwei große Fenster, die auf alte Fassaden blickten; es als sparsam möbliert zu beschreiben wäre schon eine Übertreibung; ohne Annehmlichkeiten, jahrelang ohne warmes Wasser, ein Kamin als einziger Schmuck. Wie die ganze Straße, oder beinahe, heizte ich mit Holz; und zu Beginn des Winters belieferte einer der letzten Händler der Hauptstadt Haus um Haus; das nahm einen ganzen Vormittag in Anspruch. Ein robuster, stiller und eiliger Mann hievte die Säcke mit den Scheiten in die oberen Stockwerke, entledigte sich seiner Last zwischen den Büchern, auf den Boden, wo dieser Vorrat liegenblieb und bis zum Frühjahr einen großen Teil des vorhandenen Platzes einnahm. So lebte ich also zwei Schritte vom Odeon hinter einem großen Holzhaufen verkrochen. Gegenüber hatte sich eine alte Dame zurückgezogen; sie las die ganze Nacht. Hinter den vor Staub blinden Scheiben reckte sich ihre Silhouette zu einem Regal, nahm einen Band heraus: So las ich meinerseits die Veränderungen ihres Lichts. In der Straße leisteten sich unsere Lampen Gesellschaft. Beim Morgengrauen, wenn ich das Licht löschte, brannte ihres noch. Hundert Mal wäre ich fast hinübergegangen, um sie zu besuchen, aber ich habe mich doch nie dazu entschlossen.
     Auch Beckett sah aus dem Fenster, und da gibt es eine schöne Geschichte, die mir Elmar Tophoven, sein deutscher Übersetzer, erzählt hat; vielleicht ist sie schon bekannt, gleichwohl, ich wiederhole sie hier zum Andenken an unseren gemeinsamen Freund, einen außergewöhnlichen Mann, dessen Krankheit und vorzeitiger Tod am 23. April 1989 das letzte Jahr überschatteten, das Beckett noch zu leben hatte (seltsame und grausige Wendung!). Tophoven revidierte - dreißig Jahre lang hatte er dies getan - bei und mit Beckett eine Version, als der Autor plötzlich seinen Übersetzer bat, ihn zu entschuldigen, und ein Fenster öffnete. Das ging auf das berüchtigte Gefängnis La Sante. Top hatte schon seit einiger Zeit bei Sam eine gewisse Zerstreutheit bemerkt, und dann etwas, was auf den Wänden umherirrte wie ein flüchtiger Schimmer. Es war der Reflex eines Spiegels. Ein Gefangener sandte dem freien Mann von gegenüber, irgendeinem Mann, genau diesem einen, Zeichen, und der antwortete wie ein Semaphor mit großen Gesten, die nichts bedeuteten außer: "Mut !"

Mit freundlicher Genehmigung des Berenberg Verlages

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