Vorgeblättert

Leseprobe zu: Zoran Feric: Das Alter kam am 23. Mai gegen 11 Uhr. Teil 3

27.08.2012.
Das Haus, in dem wir wohnten, war 1932 auf dem flachen Teil unserer steilen und schmalen Straße von der Baufirma Bernstein & Bencekovi? errichtet worden. So stand es zumindest auf der Marmortafel neben der Eingangstür. An den Türen aller acht, auf vier Etagen verteilten Wohnungen gab es keine gravierten Metallschilder mit Vor- und Nachnamen, wie in den meisten anderen Häusern, sondern kleine Metallrahmen, in die man ein kleines Kärtchen mit dem Nachnamen einschieben konnte. Alle Kärtchen waren gleich, und die Namen waren auf der Schreibmaschine des Vorsitzenden des Mieterbeirats geschrieben worden. Roman wollte gehört haben, dass die Wohnungen in diesem Haus vor dem Krieg zum Vermieten gedient hätten, und so war dies wohl die einfachere Lösung gewesen, die neuen Namen anzubringen. Zuerst hatten hier angeblich gut situierte Juden gewohnt, denn auch der Besitzer der Immobilie war Jude gewesen. Ab April 1941 gingen die großen und attraktiven Wohnungen an die Mitglieder der ersten Regierung des Poglavnik. Einige von ihnen zogen noch während des Krieges wieder aus, nach der Kapitulation Italiens. Aber der zweite große Namenswechsel erfolgte erst nach dem 8. Mai 1945, als die XXXIII. Partisanendivision des X. Korps, von Zelina vorrückend, nach Zagreb einmarschierte. Die ersten leeren Wohnungen gingen an Überlebende aus dem Zagreber Untergrund, denen es im Laufes des Jahres 1944 gelungen war, auf das befreite Territorium überzuwechseln. Der dritte massive Namenswechsel kam 1948, gleich fünf Kärtchen wurden durch neue ersetzt.
Roman führte mich an die Tür der ersten Erdgeschosswohnung. Radovan deckte für alle Fälle den Spion in der gegenüberliegenden Wohnungstür ab, während Roman den Karton mit dem Namen herauszog:
- Geht ganz leicht. Wenn es dunkel ist, vertauschen wir alle Namen. Zuerst ziehst du es raus, so, und dann steckst du es genauso in den anderen hinein, du legst es flach an die Tür und schiebst mit dem Finger nach.
Er schob das Kärtchen zurück in den Rahmen.
Ich schwieg.
- Gefällt es dir nicht?
- Mein Alter schlägt mich tot!
- Sie kriegen uns nicht, sagte Radovan. Haben sie auch beim ersten Mal nicht. Und weißt du, weshalb? Weil wir auch bei uns die Namen austauschen.
- Ich weiß nicht.
- Sei keine Memme, sagte Roman, als er sah, dass ich meine Zweifel hatte. Es war gefährlich, aber ich hatte gerade Freunde gefunden, und deshalb sagte ich:
- Gut.
Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Sobald es so dunkel geworden war, dass man ohne Licht nicht mehr durch den Spion sehen konnte, was im Treppenhaus vor sich ging, warteten wir auf einen günstigen Augenblick. Und gerade als alles sicher schien, weil niemand das Haus betrat oder verließ, und Roman schon dabei war, bei der ersten Tür das Namenskärtchen herauszunehmen, hielt vor dem Haus der Peugeot und kam Genosse Mrazovi? in den Hof. Wir versteckten uns hinter dem großen Lorbeerbusch. Er ging langsam, die Schritte abgezirkelt setzend, als hätte er ein bisschen mehr getrunken. Er trug einen eleganten, dunkelgrauen Sommeranzug und einen Hut in gleicher Farbe. Sein weißes Hemd mit dem spitzen Kragen stand über der Brust offen. In der Rechten trug er eine schwarze Tasche, so wie sie Ärzte haben.
- Mit dem dürfen wir uns nicht anlegen, sagte Radovan, als Genosse Mrazovi? im Treppenhaus verschwunden war.
- Keiner weiß, wo er arbeitet, erklärte Roman. Aber meine Mutter sagt, dass er ins Gefängnis bringen kann, wen er will.
Wir warteten, bis wir hörten, wie die Tür zur Wohnung des Genossen Mrazovi? zufiel. Dann ging das automatische Treppenlicht aus, und wir setzten uns in Bewegung. Roman führte. Wir gingen ins Treppenhaus, in dem es stockdunkel war, und tasteten herum, um uns zu orientieren. Lediglich durch die Eingangstür drang eine Spur Licht von der Straßenlaterne. Ich arbeitete mich zum Treppengeländer vor und horchte angestrengt. Mein Herz schlug wie wild. Mein Vater war nicht zu Hause, konnte aber jeden Moment zurückkommen. Schon drei Tage war er im Außendienst, und das war das längste Mal bisher. Heute Abend würde er bestimmt zurückkommen.
- Los, ich hab sie!, flüsterte Roman, und wir schlichen die Treppe hinunter zu den Kellerwohnungen. Ich klammerte mich ans Geländer, und als wir endlich unten waren, schob mir Roman zwei Kärtchen in die Hand.
- Halten!
Er brauchte nur wenigen Sekunden, um die Namensschilder von beiden Kellerwohnungen abzunehmen.
- Gib mir jetzt eines!
Wir waren schon auf dem Weg nach oben, als plötzlich eine Wohnungstür in einem der oberen Stockwerke geöffnet wurde. Wir duckten uns unter die Treppe, direkt vor der Metalltür, durch die man in den Abstellraum kam, in der Erwartung, dass jemand das Licht anmachen würde. Licht ward indessen keines, aber jemand schickte sich an, langsam die Treppe herunterzukommen. Jemand in Pantoffeln, denn Schritte waren fast gar keine zu hören. Nur ein gespenstisches Schlurfen. Und das dauerte eine unbestimmte Zeit. Die geheimnisvolle Person kam bis zum Hauseingang und blieb dort eine Zeit lang im Dunkeln stehen, nur ein Dutzend Stufen über uns. Dann trat sie langsam noch einen Schritt vor. Für einen Moment wurde sie von einem Streifen Licht beschienen, der von der Straße her durch die Eingangstür drang. Es war Mrazovi?.
Jemand krallte mir seine Finger in den Bizeps. Das war das Zeichen, dass ich mich völlig still verhalten sollte. Ich hörte auf zu atmen. Auch das Atmen der beiden anderen war nicht zu hören. Jetzt kam Mrazovi? ganz herunter, bis zum unteren Treppenabsatz und blieb, wie es schien, vor einer der Wohnungen stehen. Genau vor der, an der wir gerade den Namen vertauscht hatten. Er war weniger als drei Meter von uns entfernt, aber es bestand nicht einmal die theoretische Chance, dass er sah, was wir getan hatten. Er schien nur auf etwas zu horchen. So wendeten auch wir unsere Aufmerksamkeit dem schwachen gedehnten Klang zu, der aus dem Inneren drang. Das konnte Musik sein oder etwas Gesprochenes aus dem Radio. Mrazovi? horchte eine Zeit lang auch vor der anderen Wohnung, dann ging er wieder hinauf und schloss bald darauf die Tür seiner Wohnung leise hinter sich.
- Ich hab mir fast in die Hose geschissen!, flüsterte Roman.
- Ich glaube, der sieht im Dunkeln. Radovan war überzeugt davon. Habt ihr gehört, wie sicher der geht, der hat die Treppe überhaupt nicht berührt.
- Besser, wir tun alles zurück, wie es war!
- Nichts tun wir zurück, meldete sich Roman. Er hat nicht uns gesucht.
Wenig später tauschten wir die Namen im zweiten Stock gegen die aus dem ersten aus. Wir tauschten sie auch an unseren Wohnungen und an der von Mrazovi? aus. Mehrere Male ging das Licht an, und mehrere Leute kamen und gingen in eine Wohnung im ersten Stock: zu den Pekonji?s.
- Die haben Gäste!, sagte Roman.
Als wir alle Namen durcheinander gemischt hatten, die aus dem zweiten Stock mit denen aus dem Keller oder dem Erdgeschoss, sagte Radovan:
- Und jetzt jeder zu sich nach Hause! Wollen mal sehen, was passiert, wenn sie es entdecken.
Meine Mutter war seltsamerweise guter Laune. Mit zufriedenem Lächeln ließ sie mich ein.
- Ich mache Pfannkuchen. Vati kommt jeden Moment ...
Das traf mich wie ein Blitz. Schon beim Überschreiten der Türschwelle, während sich meine Nasenlöcher mit dem Duft des Bratöls füllten, bedauerte ich, dass ich mich zu der Schandtat bereitgefunden hatte. Wenn die Mutter sagte, dass Vater jeden Augenblick komme, wenn sie nicht besorgt und erschrocken war, dann konnte er tatsächlich jeden Moment zur Tür hereinplatzen. Er würde müde sein, aber nicht so müde, um nicht zu bemerken, dass an unserer Tür ein anderer Name stand. Denn immer, wenn er kam, immer, wenn er nach Hause kam, verhielt er den Schritt, am Gartenzaun oder direkt beim Hauseingang, und musterte mit dem erfahrenen Auge des Baumeisters die graue Fassade, die in großen Placken abfiel und den nackten gelblichen Mörtel freigab, aus dem die Ziegel herausschauten. Und vor der Wohnung angekommen, blieb er vor dem Eintreten manchmal längere Zeit stehen und erfreute sich an der großen Flügeltür aus Nussbaum, die jetzt frisch mit Firnis gestrichen war. Manchmal bückte er sich sogar und richtete den Fußabstreifer gerade, wenn er schief war. Aber warum ist mir das nicht vorher eingefallen, sondern erst jetzt, wo mich die Angst klüger gemacht hat. Warum habe ich wie ein Idiot zugestimmt, bei so etwas mitzumachen, wo ich doch genau gewusst habe, dass das sofort rauskommt. Drei Jahre haben wir gewartet, dass uns diese Wohnung zugeteilt wird, und jetzt, wo wir sie endlich haben, wo an dieser großen Tür endlich unser Name steht, jetzt treibe ich damit mein Spiel. Meine Mutter war glücklich und sang vor sich hin, während die Pfannkuchen brutzelten. Ich setzte mich so wie immer an den Küchentisch und zeichnete Häuser. Meine Mutter sah es gern, wenn ich Häuser zeichnete, sie sagte dann immer, ich würde einmal ein Bauingenieur werden, so wie mein Vater. Dieses "Bauingenieur" sprach sie mit Ehrfurcht und großem Ernst aus, völlig anders, als wenn sie sich sonst an Vati wandte. So als wären der "Ingenieur" und mein Vater zwei völlig verschiedene Personen. Und so sah mich, während ich gedankenverloren zeichnete, meine Mutter prüfend an und versuchte den Grund meiner Nachdenklichkeit auf meinem Gesicht zu lesen. Obwohl es dunkel gewesen war, hatte ich Angst, dass uns jemand gesehen haben könnte, jemand von den Nachbarn, und dass er jeden Augenblick mit dem falschen Nachnamen in der Hand und mit strengem Gesichtsausdruck zur Tür hereinstürzen könnte. Oder dass sich, schon vor Vaters Kommen, unten beim Vorsitzenden auf die Schnelle der Mieterbeirat versammeln und über die Strafe verhandeln könnte.
- Was hast du?, fragte meine Mutter plötzlich.
- Nichts.
- Wie nichts. Du bist so merkwürdig.
Mit dem Instinkt eines erfahrenen Jägers, geeicht auf die Stimmungen ihres Sohnes, spürte sie, dass etwas nicht in Ordnung war.
Ich horchte und zuckte bei jedem Geräusch zusammen, das vom Treppenhaus kam. Ich konnte hören, wie Türen geöffnet und geschlossen wurden, die Stimmen der Leute oder sogar die Musik aus dem Radio, mysteriöse Schläge ans Treppengeländer, die durch die Stockwerke wanderten. Diese sonst alltäglichen Geräusche bekamen jetzt etwas Erschreckendes. Mutter setzte sich mir gegenüber, strich Marmelade auf die Pfannkuchen und rollte sie.
- Möchtest du eine?
- Ich kann nicht.
- Sonst magst du doch Pfannkuchen, sagte sie, stand auf und legte mir die Hand auf die Stirn.
- Du bist mir doch nicht krank?
Ich musste ein süßes gelbes Röllchen nehmen. Zu der Zeit gab es bei uns selten Pfannkuchen. Nur, wenn es meinem Vater gelungen war, vom Dorf zwei, drei Eier mitzubringen.
- Pass auf, dass es nicht tropft, heb das andere Ende hoch!
Und so war, während ich kaute, vor dem Haus plötzlich das Geräusch eines Fahrzeugs zu hören, das anhielt. Ich fuhr bei dem Gedanken zusammen, dass es Vaters Jeep sein könnte. Die Fenster im Wohnzimmer standen offen, und das Geräusch drang direkt zu uns in die Küche. Aber dieses Mal war es irgendwie anders.
Ich rannte ins Zimmer, die Mutter mir nach. Wir beugten uns aus dem Fenster, beide, jeder in seiner Erwartung. Es war indessen nur ein Mann auf einem Moped. Er hatte eine Lederkappe auf und eine kleine Tasche in den Händen. Ich atmete auf. Es war nicht mein Vater. Die schreckliche Entdeckung war für kurze Zeit hinausgeschoben. Die Zeit schien irgendwie für mich zu arbeiten, und je später Vater zurückkam, desto geringer war die Chance, dass er den Betrug entdecken würde. Meine Mutter hatte mich indessen aufmerksam angesehen.
- Hast du eine böse Ahnung?, fragte sie besorgt.
Und so standen wir beide da, ans Fenster gelehnt. Jetzt, innerlich beruhigter, aß ich den Pfannkuchen so, dass mir die Marmelade in den Hof hinunter tropfte. Mutter sah wie gewöhnlich zur Kurve hinunter. Ein frischer Sommerabend, der Regen hatte gerade aufgehört, und von Westen her begann es aufzuklaren. Man konnte bereits kleine Flecken des dunklen gestirnten Himmels sehen. Ein seltsamer Friede hatte die Straße erfasst, selbst die Geräusche von der Treppe waren verstummt.
In dem Moment läutete es. Mutter fuhr zusammen und hastete zur Tür. Ich sah ihr ziemlich ruhig nach. Hauptsache, dass es nicht Vater war. Ich hörte, wie sie mit jemandem an der Tür sprach, und im nächsten Augenblick sah ich, wie sie ins Wohnzimmer ging und Licht machte. Sie hielt ein Papier in der Hand. Sie starrte mit entsetztem Blick auf das, was auf dem Papier geschrieben stand, und sank dann auf die Ottomane. Für einen Moment sah sie mich mit entsetzter Miene an und fing an zu schluchzen. Sie weinte hysterisch, noch immer das Papier in der Hand haltend. Als ich hinzusprang, umarmte sie mich fest, und ich nahm das Papier. Es war ein Telegramm. Mit Schreibmaschine mit sichtlich abgenutztem Farbband geschrieben, stand dort: "Aufrichtiges Beileid" und "schmerzliches Mitgefühl". Und während mich meine Mutter krampfhaft an sich presste, stammelte sie unter Tränen:
- Papa ist nicht mehr! Unser Papa ist nicht mehr!
Ich, der zehnjährige Knabe, verwandelte mich in ein Stück Holz. Wie in dem Märchen von Pinocchio, nur umgekehrt. Ich stand ganz ruhig da, mit hängenden Armen, und erlaubte meiner Mutter, mich zu kneten, mich aufs Haar zu küssen und mir mit ihren Tränen die Wangen zu benetzen. Ich konnte mich nicht von der Stelle rühren, obwohl ich das vielleicht gern getan hätte. Die Zeit war schon vorüber, wo ich mich in einer solchen Situation der Mutter in die Arme geworfen und mit ihr zusammen geweint hätte. Wir waren nicht mehr so wie einst, fast ein und derselbe Körper, die Verbindung hatte sich gelockert. Ich hatte mich von meiner Mutter gelöst, das konnte man in einem solchen Augenblick deutlich sehen. Obwohl wir, wenn uns jemand sehen würde, wie eins waren, vier Arme, zwei Köpfe, zwei Beine, die standen, zwei Beine, die saßen, ein Rumpf, der sich bewegte, und einer, der stand. Von der Seite betrachtet, waren wir sicher ein Monstrum. Das Papier glitt zu Boden, und jetzt konnte ich es besser lesen, obwohl es ziemlich zerknittert war. Im Kopfteil stand ein anderer Nachname. Zuerst gelangte das gar nicht bis an mein Hirn, ich starrte dumpf auf den Namen, so wie ich auch auf die Worte "Beileid" und "Mitgefühl" gestarrt hatte. Doch dann sagte ich:
- Mama, das ist nicht für uns!
Zuerst schien sie mich nicht gehört zu haben, aber als sie mich mit Tränenaugen ansah, griff sie hysterisch nach dem Papier des Telegramms und las laut:
- Pekonji?!
Sie erhob sich, wischte sich die Tränen ab und ging mit verwirrtem Gesichtsausdruck ins Badezimmer. Gewaschen und hergerichtet, kehrte sie zurück und wich meinem Blick aus. Mit der Hand bügelte sie das Telegramm glatt, suchte den Umschlag, der irgendwo im Flur heruntergefallen war, steckte es zurück und verließ die Wohnung, um bei Pekonji?s zu klingeln. Ich blieb an der Wohnungstür stehen. Als die Tür der Wohnung unter uns aufging, hörte ich von drinnen ein Singen. Traurig, gedehnt, aber doch ein Singen. Es füllte gespenstisch das ganze Treppenhaus. Mutter verweilte kurze Zeit bei den Nachbarn, dann kehrte sie mit fröhlicher Miene zurück. Sie bemühte sich, die Fröhlichkeit nicht durchdringen zu lassen, aber sie drang durch und hatte ihre Gesichtszüge verändert. Auch beim Zurückkommen hatte sie nicht bemerkt, dass an unserer Tür etwas stand, was an der unter uns hätte stehen sollen. So hatte der Tod zum ersten Mal an unserer Tür geläutet, ohne dass bei uns jemand gestorben wäre.

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Auszug mit freundlicher Genehmigung des Folio Verlages
(Copyright Folio Verlag)


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