Vorgeblättert

Leseprobe zu: Zoran Feric: Das Alter kam am 23. Mai gegen 11 Uhr. Teil 2

27.08.2012.
Erster Teil

Die Einschiffung

Wir waren einmal dreißig. Wie es Tage gibt im Monat. Jetzt waren wir noch zwölf. Und so, wie wir damals, 1961, mehr waren und unsere Leben kürzer, so waren wir jetzt, 2010, erheblich weniger, hatten aber ein unvergleichlich längeres Leben hinter uns. Als würde hier eines mit etwas anderem gleichgesetzt und sich gegenseitig aufheben. Damals waren wir neunzehn, jetzt waren wir achtundsechzig. Jeder von uns trug in diesem Augenblick drei damalige Leben in sich. Und mit diesem Gewicht dreier junger Leben, die sich in ein altes verwandelt hatten, standen diese zahlenmäßig relativ kleinen, aber gut erhaltenen Überbleibsel einer Abiturklasse aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts in kleinen Gruppen oder einzeln auf dem ausgewaschenen Pflaster der Riva von Opatija. Sie standen zerstreut in scheinbarer Unordnung, so wie Pflanzen wachsen oder Pinguine zu ruhen pflegen. Aber wenn man sich ein wenig unter diese lebenden Karyatiden begab, die nichts hielten, auch nicht den klaren Himmel über sich, sondern nur in Gruppen oder einzeln dastanden und plauderten, konnte man langsam, als würde sich Nebel lichten, eine gewisse Ordnung und Rollenverteilung erkennen. Gerade hatte ich mich aus dem Auto herausgewurstelt und mir eilig eine Ronhill light angesteckt, als würde dieses light irgendwie die Folgen des vierzigjährigen Rauchens mildern, und warf nun einen Blick auf die Schulkameraden unter den Greisenmasken, als wären wir beim Fasching in Samobor, und nicht im Hafen von Opatija. Sara hatte aus dem Kofferraum des Passats mein Gepäck ausgeladen.
     - Papa, den Koffer lass hier beim Auto, ich geh dem Kleinen ein Cornetto kaufen!
     An der noch immer offenen Tür stehend, musterte ich die Gruppe auf der Riva aus der Distanz. Marijan, das war er sicher, denn durch all die Fleisch- und Hautschichten, die sich mit den Jahren abgelagert hatten, schimmerte das boshafte Knabengesicht von den Klassenfotos hindurch, hatte eine Gruppe von Bewunderern um sich versammelt und redete heftig gestikulierend auf sie ein, während sie vor Lachen schier zu platzen schienen. Er war der Unterhalter. Lidija und Vera standen an der Seite und verfolgten die sich amüsierende Gruppe aufmerksam mit den Blicken und sonderten nur hin und wieder einen Kommentar ab. Sie waren die Beobachterinnen. Das waren sie auch damals vor fünfzig Jahren. Jugana hingegen zog ihre Kreise. Sie war das Bindeglied. Sie ging von einem pensionierten Schulkameraden zum anderen und stellte ihren Sohn vor: einen mittelalterlichen Herrn, der doch tatsächlich schon völlig ergraut war. Sie hatten denselben Gang, dieselbe Körperhaltung, nur war sie ein wenig stärker in den Schultern gebeugt und war allem Anschein nach schon am Schrumpfen. Verwunderlich war eigentlich, wie genau er die Bewegungen seiner Mutter wiederholte, wenn er jemandem die Hand gab, er neigte den Kopf ein wenig zur Seite und schenkte seinen Gesprächspartnern ein trauriges Lächeln. So geht eine Mutter wohl in ihr Kind über.
     Meine Abirentner gruppierten sich wie damals in der Schule: Die Populären zu den Populären, so als galt es auch jetzt nach so viel Jahren den Unterschied zu betonen zwischen dem Klassenadel und jenen armen Waisenkindern, den Unpopulären, die ständig versucht hatten, jemanden nachzuahmen. Und so wie mir vor zwei Monaten, auf der Terrasse des Palainovka, schien, dass ich etwas Ernsthaftes und Gefährliches angefangen hätte, so erschien jetzt auch diese Rückkehr in die Jugend, die vom Bewusstsein des Alters initiiert wurde, viel ernsthafter. Als wären nicht fünfzig Jahre seit jener ersten Reise vergangen, als uns auf dieser Riva, statt unserer Kinder und Enkel, Mütter und Väter verabschiedeten.
     Wir standen umgeben von mittelalterlichen Menschen, unter denen es auch schon Witwer gab, denn der Tod treibt gern seinen Scherz. Und so gab er mir die Gelegenheit zu sagen:
     - Mein Beileid, Mislav!
     Ich bot Juganas Sohn zugleich mit meiner Hand meine Anteilnahme dar, ihm, der gerade, ich weiß nicht zum wievielten Mal, seine Lebenstragödie vor einigen ehemaligen Schulfreunden seiner Mutter ausgebreitet hatte.
     - Kennt ihr beide euch eigentlich?, fragte Jugana.
     - Ja, aber da war er noch klein, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe.
     Jugana stellte hier eine Art Empfangskomitee dar. Sie kurvte von Kamerad zu Kamerad, als führe sie Slalom auf einem Terrain, das jemand boshafterweise glatt geschoben hatte und das nun von den Alpen bis unmittelbar zum Meer hinab reichte. Sie gab die Hand, küsste, tauschte Liebenswürdigkeiten aus. In der Hand hielt sie eine Namensliste, die mit einer Metallklammer auf einer Unterlage befestigt war. Ähnlich jenen Metalltafeln, die am Fußende von Krankenbetten hängen und zur Aufnahme der Fieberkurven bestimmt sind. Sowie sie einen der verehrten Kameraden aufgesucht hatte, strich sie seinen Namen aus.
     Und dann, irgendwoher aus dem Hintergrund, von der anderen Seite des Parkplatzes, erschien eine kleinere, noch jugendlich wirkende Dame mit größerer Oberweite.
     - Kannst mich auch ausstreichen!
     Kaum hatte Jugana sie bemerkt, begann sie schon, sie zu umarmen. Sie, groß gewachsen, metallisch graues Haar, hielt sie mit ihren langen Armen fast vollständig umschlungen.
     - Ana, Herzchen.
     Mit ihrem Namen passte Ana genauso glatt in Jugana hinein wie eine Matroschka in die andere. Aber so sehr sich ihre Namen auch teilweise deckten, so völlig unterschiedlich sahen die beiden doch aus. Jugana groß, in die Länge gezogen, Ana klein, gedrungen, mit ausgesprochen großen Brüsten, die mit der Zeit immer größer geworden waren, so als wären gerade diese beiden ballförmigen Gebilde das Reservoir, in dem sich die Jahre ablagern. Freundinnen noch vom Gymnasium her, hatten sie immer in naher Verbindung gestanden. Wenn sie allerdings zusammen gewesen waren, hatte keine der beiden schön sein können. Juganas Schlankheit und Größe und Anas gedrungene Erscheinung mit den ausgeprägten Rundungen, so miteinander verknüpft, waren eine Art Karikatur gewesen. Manchmal hatten sie vor einem Schaufenster oder einem Spiegel selbst über das eigene Bild lachen müssen. Die besten Freundinnen, aber wie Figuren aus einer Komödie. Jede für sich besaß allerdings ihre eigene Anziehungskraft. Jugana eine Schönheit, die durch ihre Haltung und ihre Art sich zu bewegen in Würde überging, während Anas Rundungen seit je, von der ersten Klasse des Gymnasiums an, ausgesprochenen Sex-Appeal hatten, wobei aber auf den Körper der Puppenkopf eines Kindes gesetzt zu sein schien, der auch nach fünfzig Jahren bedeutend jünger aussah, als er in Wirklichkeit war.
     Juganas Sohn, dessen Frau unlängst an Krebs der Bauchspeicheldrüse gestorben war, stand vor Ana, gierig nach Mitgefühl.
     - Mislav!, brachte sie traurig hervor und umarmte ihn.
     Seine Mutter und ich standen beiseite und sahen ihnen zu, wie sie sich umarmten. Ana indessen machte hinter Mislavs Rücken ein verwundertes Gesicht und versuchte Jugana still etwas zu fragen, indem sie die Worte nur mit den Lippen formte. Die sah sie aufmerksam an und sagte dann:
     - Mislav, wir haben im Auto mein Necessaire vergessen.
     Der ergraute mittelalterliche Herr ließ Ana los, dreht sich zu dem Koffer um und ließ den Blick über die Riva kreisen.
     - Was schaust du?
     - Ich weiß nicht, mir scheint, als hätten wir es mitgenommen. Hast du es nicht getragen?
     - Ich weiß nicht, Junge, flötete sie liebenswürdig, sieh bitte trotzdem nach.
     Ich bemerkte, wie sie mit dem Fuß ein kleineres Samsonite-Necessaire hinter meine Beine schob. Und als sich Mislav endlich bequemt hatte, zum Parkplatz hinüberzuwatscheln, und als sein trauriger Rücken schon kleiner zu werden begann, trat Ana zu ihrer Freundin und richtete eine leise Frage an sie. Aber Jugana zuckte nur ohnmächtig mit den Schultern und kramte, nachdem sie sich sorgfältig vergewissert hatte, wo sich ihr Sohn befand und ob er herschaute, panikartig ihr Handy aus der Tasche und drückte es Ana in die Hand. Was führen die da auf, dachte ich. Obwohl ich nur zwei Schritte entfernt stand, konnte ich nicht hören, was sie miteinander redeten.
     - Ich habe es auf leise gestellt, damit es nicht klingelt, wenn er hier ist, hörte ich Jugana am Ende sagen. Dieses kleine konspirative Konzil war mir unangenehm, und ich machte schon Anstalten, mich zu entfernen, als mich Ana am Arm fasste.
     - Grüß dich, Tiho! Wir haben uns noch gar richtig begrüßt.
     Während ich Ana umarmte, flüsterte sie Jugana zu:
- Da, er kommt zurück!
     Ich sah, wie Mislav langsam zurücktrottete. Sein Gang wirkte älter als der von vielen hier. So, als wären das einstige Kind und der künftige Greis zu einem zeitlosen Körper verschmolzen, und seine Tragödie bekam auf einmal auch etwas Komisches, als er mit einer Art Triumph in der Stimme zu seiner Mutter sagte:
     - Und du hast es doch mitgenommen.
     Diskret ließ ich meinen Blick über diese zwölf von Kindern und Enkeln umgebenen Apostel wandern, auf der Suche nach dem hellen Kopf mit der Frisur einer französischen Tänzerin. Für einen Moment wollte mir sogar scheinen, dass ich ihn gesehen hätte. Er wurde von einer jungen Frau verdeckt, und für kurze Augenblicke sah hinter ihr nur der ins Gespräch vertiefte Kopf mit dem hellen Haar hervor. War die junge Frau Andrea? War das tatsächlich Senka? Nachdem wir die Verabredung getroffen hatten, hatte ich Jugana kein einziges Mal gefragt, ob sie mit Senka Kontakt aufgenommen habe und ob auch sie diese Reise mitmache. Und jedes Mal, wenn wir uns hörten und wenn sie mir erzählte, mit wem sie alles gesprochen habe, hatte ich die Hoffnung, dass unter den erwähnten Namen auch ihrer sein würde. Das war nie der Fall gewesen. Nun, sie hatte mir gegenüber auch Vera und Lidija nicht erwähnt, und die waren trotzdem hier, was bedeutete, dass es noch Hoffnung gab, denn die Liste hatte sich ständig geändert. Jemand hatte sich abgemeldet und ein anderer sich nachträglich angemeldet. Ich machte ein paar Schritte, um besser zu sehen, und stellte fest, es war nicht Senka, sondern Alma. Sie hatten sogar eine Tochter gleichen Alters. Und nun fiel mir ein, dass ich mir überhaupt nicht sicher war, ob das beim Palainovka tatsächlich Senka gewesen war und ob ich wirklich wusste, wie sie jetzt aussah. Von dem Augenblick an, als Jugana die Organisation dieses Ausflugs in die Hände genommen hatte, war mir auch Senka nicht mehr aus dem Sinn gegangen, aber es war mir nicht mehr so wichtig gewesen. Es stimmte zwar, dass Senka mit dieser Idee der wiederholten Abireise sehr viel zu tun hatte, aber genauso stimmte es, dass mir das einfach nur so eingefallen war. Unvermittelt. Wie ein Eichhörnchensprung. Und den Blick in die Höhe gerichtet, um nicht den kleinen Mongoloiden und seinen Vater vor mir zu sehen und daran denken zu müssen, dass auch der Liebe unwürdige Menschen geliebt werden können. Wenn sie käme, könnte es interessant werden, dachte ich, wenn sie nicht käme, auch gut, wahrscheinlich werden wir uns auch ohne sie ausgezeichnet amüsieren. Aber warum bin ich jetzt, wo ich gesehen habe, dass nicht sie es ist, so enttäuscht?
     - Papa, warum hast den Koffer selber getragen?, sagte Sara, die plötzlich neben mir stand.
     - Deshalb, weil ich keinen Bruch habe und meinen Koffer schon mein ganzes Leben lang selber trage.
     Es erfolgte kein Kommentar, sie verdrehte nur die Augen, und auch Denis sah mich anklagend an. Er leckte an seinem Eis, das ihm seine Mutter gekauft hatte. Hätte ich es ihm gekauft, würde er mich nicht so ansehen. Er hatte ein Gespür für die richtige Seite. Ana, Jugana und Mislav standen noch immer neben mir.
     - Das ist Sara, sagte ich, und der dort, der sich hinter ihr versteckt und seiner Mutter den Rock mit Eis vollschmiert, ist Denis.
     Sara begrüßte Ana und Jugana, und als sie auch Mislav die Hand gab, sagte Ana:
     - Mislav ist letztes Jahr die Frau gestorben.
     Sara sagte:
     - Das tut mir leid.
     Mislav nahm diese Beileidsbekundung mit einem ausgeprägten Gefühl für das Zeremonielle entgegen und verneigte sich. Der Tod seiner Frau machte ihn vermutlich zum Helden des Tages, wo immer er hinkam. Denis indessen, mit seinem untrüglichen Instinkt für das Tragische oder Ungewöhnliche, kam aus seinem Versteck hervor und fixierte, noch immer am Eis leckend, den Helden des Tages mit unverhohlener Neugierde.
     Im nächsten Augenblick unterbrach Ana das peinliche Schweigen und rief:
     - Ist das etwa Toni?
     Ein groß gewachsener, hagerer Herr mit gepflegter Glatze und in militärischer Haltung kam auf uns zu, er zog einen Trolley hinter sich her, der auf den unebenen Steinplatten hüpfte. Ich erkannte ihn wieder, den einstigen Freund, mit dem ich neununddreißig Jahre lang keinen Kontakt gehabt hatte. In der Stadt waren wir einander sorgfältig aus dem Weg gegangen. In der Frankopanska, wo wir uns eine Zeit lang öfter über den Weg gelaufen waren, hatten wir jeder unsere Straßenseite: er die linke, ich die rechte. Jeder von uns hatte zu der Zeit in der Frankopanska eine Beschäftigung, deshalb war auch jeder gezwungen, sich auf eine Seite zu schlagen. Ich war Mitarbeiter an der Medizinischen Enzyklopädie und hatte in den Räumen des Lexikografischen Instituts zu tun, und er hatte, wie mir zu Ohren gekommen war, eine Geliebte in der Frankopanska 16, zu der er regelmäßig nach Dienstschluss ging. Und da ist er und kommt gefährlich nahe, hat aber nur Augen für Ana und Jugana. Würdig wie immer, Chefarzt und Akademiemitglied, geht er, als hätte er einen Mast verschluckt. Solchen Leuten ist das Rückgrat eine Waffe.
     - Das finde ich wirklich schön, dass du es machen konntest, sagte sie zu ihm.
     Es wird so sein, dass er, der Ärmste, schrecklich eingespannt war, als es um die Frage ging, ob er auch an dieser Reise teilnehmen wolle. Sicherlich Gynäkologenkongresse von Kalkutta bis Japan. Der Akademiker sah sich neugierig um, blickte in einzelne Gesichter, als würde er sie in diesem Haufen von Gesichtern im Hafen langsam wiedererkennen, dann reichte er Jugana ein zweites Mal die Hand.
     - Ich gratuliere, sagte er. Kolossal!
     Jugana hörte nicht auf zu lächeln und nahm die Glückwünsche entgegen. Ich war gespannt, ob sie mich als Ideengeber erwähnen würde, zumindest ein wenig, aber das tat sie nicht. Nachdem Ana mit ihm Wangenküsse gewechselt hatte, erlaubte sie dem Akademiker auch die Übrigen zu begrüßen, während Jugana freudestrahlend seinen Namen auf ihrem Fieberblatt ausstrich. Toni gehörte in jedem Fall zu den Populären.
     Noch immer irrte mein Blick den Hafen auf und ab auf der Suche nach der hellen Frisur der französischen Tänzerin, wobei sich mir von Zeit zu Zeit ironischerweise mein Enkel ins Blickfeld schob, der sich endlich von den Rockschößen seiner Mutter gelöst und ein Mädchen seines Alters gefunden hatte, Marijans Enkelin, und mit ihr herumrannte.
     Ich zündete mir eine Zigarette an, und Denis, der sich plötzlich in meiner Nähe eingefunden hatte, sagte:
     - Mama, Opa raucht wieder, er wird Krebs kriegen, und dann müssen wir ihn in der Erde begraben.
     Und dann geschah etwas wirklich Merkwürdiges. Von der anderen Seite des Parkplatzes, hinter dem Gebäude der früheren Hafenkommandantur hervor, kam ein Mann mit schmalem Gesicht und kurzem schwarzen Haar, das nur von wenigen grauen Strähnen durchzogen war. Das ist Roman, dachte ich für einen Moment. Es sah indessen so aus, als würde er sich vor jemandem verstecken. Alles erschien mir normal, bis ich Juganas erschrockenes Gesicht sah und Ana, die geschockt die Hand vor den Mund hielt. Die Sache war die, dass Roman schon seit zwanzig Jahren tot war und dass der Mann, mit dem ich ihn verwechselt hatte, genau in dem Augenblick aufgetaucht war, als ich mir die Zigarette angezündet hatte. Genau wie damals, als wir uns kennenlernten.


Die Namen

1.

     - Januar, Februar, März, April, Mai, Juni ..., meine Mutter tippte mit dem Zeigefinger an die Knöchel auf meinen geballten Fäusten. Jetzt du!
     Sie ballte die Fäuste wie kurz zuvor ich und schob sie mir unter die Nase.
     - Januar, Februar, März, April ..., begann ich unsicher, auf die Knöchel und Mulden auf Mutters Fäusten zu zeigen.
     - Wie viele Tage hat der Januar?
     - Einunddreißig.
     - Und der März?
     - Genauso.
     - Hast du jetzt verstanden?
     Das Schreibheft aus Natur- und Sozialkunde lag auf einer der Schachteln in der leeren Küche, wo wir saßen und darauf warteten, dass der LKW mit unseren Möbeln kommen sollte. Da drinnen prangte meine erste Fünf nebst einer Mitteilung für meine Mutter. Da stand, ich wisse in der dritten Klasse noch nicht, was ich in der ersten hätte lernen sollen: wie viele Tage welcher Monat hat.
     - Siehst du jetzt? Hier, wo ein Knöchel ist, da sind es einunddreißig, und da dazwischen sind es dreißig. Außer dem Februar, der hat achtundzwanzig. Und hier, wo meine Fäuste sich berühren, siehst du, guck nicht in der Gegend herum, sondern sieh her, hier sind zwei Knöchel nebeneinander, hier ist es erhöht. Das sind Juli und August, die haben beide einunddreißig Tage. Verstehst du?
     Ich nickte mit dem Kopf, aber genau genommen war mir nicht klar, wie die Knöchel an den Händen und die Mulden dazwischen Monate sein konnten. Das Jahr müsste dann vierzehn haben.
     - Wann hat der Februar einen Tag mehr?
Ich schwieg. Das mit dem Februar und den Knöcheln war wirklich zu viel, und das gerade jetzt, wo wir in die neue Wohnung gezogen waren und darauf warteten, dass mein Vater mit noch einem Mann aus der Firma mit einem Lastwagen alle unsere Sachen bringen würde, die wir so sorgfältig in Zeitungen gewickelt und in Schachteln gepackt hatten. In den vergangenen Monaten hatten wir zwischen Schachteln in Omas Wohnung gelebt, unten in der Meduli?eva, und auf den Bescheid für die Zuteilung der neuen Wohnung gewartet.
     - Der Februar hat in jedem Schaltjahr einen Tag mehr, rezitierte meine Mutter und versuchte, ihre Nervosität zu verbergen.
     - Jetzt haben wir das Jahr 1953. Wann ist das nächste Schaltjahr?
     - 1956!
     - Genau. Dann gehst du in die sechste Klasse.
-      Wenn ich nicht vorher Leukämie kriege und sterbe.
     Meine Mutter sah mich an, als würde sie statt ihres Kindes plötzlich ein Stachelschwein vor sich sehen.
     - Wo hast du denn von Leukämie gehört?
     - Das haben wir in Naturkunde gelernt. Das ist, wenn sich das Blut in Wasser verwandelt.
     Sie stand auf und begann nervös eine der Schachteln zu öffnen, um ihr einen Drahtschwamm für den Parkettfußboden zu entnehmen. Warum hatte sie das so aus der Fassung gebracht?
     - Geh hinaus und mach dich mit den Kindern bekannt!, sagte sie.
     Unsicher stieg ich aus dem zweiten Stock hinunter und fand nur einen verlassenen, mit Unkraut überwachsenen Hof und ein paar gerade angepflanzte kümmerliche Bäume vor, die am Haus wuchsen. Ich setzte mich auf die Einfriedung zur Straße hin, die aus dicken, waagerechten Rohren bestand und zum Sitzen wie gemacht war. Wie Vogelstangen. Die Straße war ebenfalls verlassen. Autos schienen hier nicht vorbeizukommen. Unten in der Stadt herrschte lebhafter Verkehr, Autos fuhren vorbei, Kleinlaster mit Baumaterial, mitunter auch ein Pferdegespann, Menschen, die durch die Passage zur Ilica strebten. Hier war das Einzige, was auf ein gewisses Leben hinwies, ein Haufen frisch gesägter Holzscheite vor dem gegenüberliegenden Nachbarhaus. Das bestärkte mich in der Überzeugung, dass wir ans Ende der Welt gekommen waren. Ich hatte ziemlich lange auf dem Geländer gesessen, als neben dem Holzhaufen ein Mann mit einem großen Flechtkorb aus Birkenruten auftauchte. Ich beobachtete, wie er die gesägten Rundhölzer in den Korb legte. Er tat das auf eine merkwürdige Weise und irgendwie langsam, denn er hatte keine Hände. Statt der Hände sahen aus den Ärmeln seiner altmodischen Jacke aus dickem braunen Stoff runde Stümpfe hervor, die selbst dünnen Holzscheiten glichen. Mit diesen Stümpfen fasste er die einzelnen Scheite wie mit unhandlichen Zwingen und legte sie in den Korb. Wenn er ihn vollgepackt hatte, schlang er ihn sich mithilfe eines Gurtes zum Hochziehen von Rollos um den Nacken, sodass er ihm vor der Brust zu hängen kam. Dann ging er zu den Steinstufen, die zum Eingang in die Bergvilla führten.
     Ich war wie erstarrt und sah fest auf einen Punkt des weitläufigen Gartens, der die Villa umgab. In dem Augenblick indessen, als sich unsere Blicke für einen Moment trafen, rief der Mann:
     - He, Kleiner, komm mal her!
     Dabei lüpfte er die Krempe seines alten Hutes, unter dem hervor ihm das feuchte Haar über die Stirn fiel. Ich saß da, als hätte mich jemand wie einen präparierten Vogel auf die Stange des Gartengeländers geklebt.
     - He, mit dir rede ich!
     Wieder trafen sich unsere Blicke. Der Mann ohne Hände, mit schiefem Hut und verschwitztem Haar, erwartete mich auf der anderen Straßenseite. Ich sprang vom Geländer, am liebsten wäre ich zurückgelaufen in den Hof, der sich anschickte auch meiner zu werden, aber etwas hielt mich zurück. Vielleicht Höflichkeit. Vielleicht Scham. Der Mann stand noch immer da und wartete, und ich ging langsam mit unsicherem Schritt auf ihn zu. Ich sah seine Jacke, an der Sägespäne hafteten, die Fettflecke am Hut, das unrasierte Gesicht voller grauer Stoppeln, die Stümpfe, die in der Mitte Narben vom Nähen hatten.
     - Schieb die Hand hier rein!
     Dabei zeigte er mit einem der Stümpfe auf eine Jackentasche. Ich zögerte, ich dachte, dass mir etwas von dort drinnen, aus dieser Tasche, die Hand abbeißen würde, wenn ich sie tatsächlich dort hineinschöbe. Der Mann sah mich verwundert an.
     - Brauchst keine Angst zu haben!
     Ich biss die Zähne zusammen und schob die Hand in die Tasche, als würde ich sie einem Krokodil in den Rachen schieben, und ertastete etwas Viereckiges. Ich zog eine flache, blaue Schachtel aus weichem Karton mit der weißen Aufschrift OPATIJA heraus. Über dem Schriftzug war ein kleines, weißes Segelboot gezeichnet.
     - Na?, sagte er ungeduldig, nimm eine raus!
     Ich nahm eine Zigarette heraus und stand mit ihr in der Hand vor dem Mann.
     - Da sind auch Streichhölzer drin. Komm, zünd sie an!
     Ich tat die Schachtel zurück, steckte mir die Zigarette in den Mund und zündete sie an, so wie ich das bei meinem Vater gesehen hatte. Ich hielt die Flamme vor die Spitze der Zigarette und zog ein paar Mal. Einige Tabakkrümel blieben auf der Innenseite meiner Lippen zurück. Ich zog noch ein paar Mal, und dann gab mir der Mann mit dem Kopf ein Zeichen, ich solle ihm die Zigarette zwischen die Lippen stecken.
     - Du bist nicht von hier?
     - Wir sind heute hergezogen!
     Das war die erste Zigarette, die ich im Leben angezündet hatte.
     Noch während ich vor dem Mann stand und die zwei, drei Züge einsog, hatte ich gesehen, wie aus der Durchfahrt unseres Hauses zwei Jungen herauskamen, die einen Ball bei sich hatten. Einer von ihnen, der größere, kam rasch über die Straße und blieb vor uns stehen.
     - Alter, hast du eine?
     - Nimm!, deutete er mit dem Kopf auf seine Tasche.
     Der Junge, vorsichtig zu den Fenstern des Hauses hinaufschauend, nahm eine Zigarette und die Streichhölzer heraus und zündete sie sich an. Er verbarg sie in der Hand und blies den Rauch irgendwohin hinter sich. Dabei drehte er sich kein einziges Mal zu mir um. Er ging über die Straße zurück, wo der andere Junge bereits Tore aus Ziegelsteinen aufgebaut hatte, die neben der Einfriedung standen. Sie fingen an abzugeben. Ich machte schnell, dass ich zu meiner Stange kam, setzte mich drauf und sah zu, wie sie spielten. Jeder von ihnen war gleichzeitig Torwart, Verteidiger und Stürmer. Jeder fing beim eigenen Tor an und versuchte, irgendwo in der Mitte dieses Behelfsterrains den Gegner zu überdribbeln oder gleich direkt aufs Tor zu schießen. Der andere Junge war kleiner, hatte schwarzes Haar und ein schönes, längliches Gesicht. Er war ungefähr gleich alt wie ich, trug aber noch immer Kinderschuhe. Opatija-Sandalen mit weißen Riemen und mit Löchern im Oberleder. Mir war nicht klar, warum ein so großer Junge Opatija-Sandalen trug und warum Zigaretten und Schuhe gleich hießen. Der Große war der bessere Spieler und war erfolgreicher im Umdribbeln des anderen. Es war merkwürdig mitanzusehen, wie nur die beiden etwas spielten, was sonst zweiundzwanzig spielen. Sie sahen einsamer aus als ich, der ich allein auf dem Geländer saß. Ich versuchte mit ihnen irgendeinen Kontakt herzustellen, aber sie reagierten nicht. Als wäre ich Luft. Deshalb fing ich auch an sie zu ignorieren. Ich sah auf meine Hände, ballte sie zu Fäusten und begann zu zählen:
     - Januar, Februar, März ...


2.

Im Juni waren wir schon die besten Freunde. Außer uns Dreien gab es sonst keine Kinder in unserer Straße. Fußball spielten wir deshalb auch weiterhin einer gegen einen, denn drei kann man einfach nicht auf zwei Mannschaften aufteilen. Der dritte saß immer auf der Mauer und war Schiedsrichter. Unterbrochen wurden wir nur von den wenigen Autos, die hier trotzdem durchkamen. Eigentlich waren es nur zwei. Ein blauer Opel Olympia mit weißem Dach, den unser Nachbar von Nr. 50 fuhr, und ein Peugeot 402, dessen Farbe wir einfach nicht bestimmen konnten, weil jede Beleuchtung auf ihm ihre Spur hinterließ, und der nur hin und wieder hier aufkreuzte und einen Mann im dunklen Anzug herbrachte, der in unserem Haus wohnte und den wir mit besonderem Respekt grüßten.
     - Guten Tag, Onkel Mrazovi?!
     Gegen drei Uhr, wenn er von der Arbeit kam und wir wieder auf der Straße spielten, blieb der Nachbar mit dem Olympia vor dem unteren Tor stehen und wartete geduldig darauf, dass einer von uns die Ziegelsteine von der Straße räumte. Dann fuhr er vorbei und winkte mit der Hand und hupte manchmal. Anschließend stellte Roman die Tore wieder auf. Er stellte den einen Ziegelstein auf der einen Seite auf und zählte dann zehn Fuß bis zum anderen ab. Er war verantwortlich für das Abmessen der Tore, damit der Abstand zwischen den Pfosten immer gleich war. Der andere, Radovan, hatte einen viel größeren Fuß und trug keine Kinderschuhe mehr.
     Jetzt, im Spätfrühling, wenn die Luft noch immer ziemlich kühl war, sodass die Wärme, die der Asphalt abstrahlte und die sich im Lauf des Tages aufgestaut hatte, auf Rücken und Hintern angenehm warm wirkte, lagen wir nachmittags mitten auf der Straße und horchten auf die wenigen Autos, die vom Kvaternik-Platz durch die Domjani?eva heraufkamen. Wenn hinter der Kurve das Brummen eines Motors zu hören war, das Fahrzeug selber aber noch nicht in Sicht war, rieten wir:
     - Opel Olympia!
     Oder:
     - Peugeot 402.
     Der den Genossen Mrazovi? brachte.
     Manchmal, es vergingen oft mehrere Stunden, bis das erste Auto in die Straße einfuhr, kamen Wäscherinnen vorüber, auf dem Kopf große Wäschebündel, die von einem geschickt gewickelten, schlangenförmigen Tuch gehalten wurden. Und wenn unten, hinter der Kurve undeutlich eine heisere Stimme zu hören war, wussten wir, dass da der Mann mit dem großen Holzkoffer auf dem Rücken kam und rief:
     Alte Töpfe bringt geschwind, dass die Suppe nicht verrinnt!
     Der alte Zigeuner kam langsam die Straße herauf. Gebeugt von der Last, den Jahren und der Steigung. Damals, 1953, lief keiner von uns mehr vor ihm weg, wir waren schon zehn und wussten, dass die Zigeuner keine Kinder stehlen und dass Adil, der Mann, der in unserer Straße manchmal alte Töpfe flickte, erst recht nicht stahl. Viele Male schoben wir ihm eine Geldbörse an einem dünnen, schwer erkennbaren Faden unter, damit er versuchen sollte, sie von der Straße aufzuheben, aber Adil blieb immer stehen, sah sich um, ließ seinen Blick auch über uns hinter dem Zaun wandern und spuckte auf die abgewetzte Lederhaut. Adil spuckte auf alles, was man uns über die Zigeuner beigebracht hatte, gebeugt, unter seinem Werkzeug zum Töpfeflicken.
     Ende April begann noch ein Auto in unsere Straße einzubiegen: ein gelb lackierter, englischer Militärjeep, der meinen Vater vom Außendienst heimbrachte. Zu der Zeit beaufsichtigte mein Vater als Bauingenieur den Bau von Silos in Slawonien. Mutter sagte immer, das sei eine furchtbar gefährliche Tätigkeit, denn die Silos seien hoch, und wenn es regnete, seien die schmierigen Gerüste schrecklich rutschig, sodass er sich oft in Todesgefahr befinde. Wenn ich mit Roman und Radovan auf der Straße Fußball spielte, konnte ich meine Mutter sehen, wie sie alle Augenblicke den Vorhang zur Seite schob und aus dem Fenster zur Kurve hinunter sah, wo das Auto erscheinen sollte, das meinen Vater nach Hause brachte. Manchmal spähte sie so den ganzen Nachmittag, und die Abstände zwischen den Ausblicken verringerten sich schrittweise bis hin zu dem Moment, wo sie alle zwei, drei Minuten ans Fenster trat und die Straße unterhalb des Hauses fixierte. Ich wusste, was folgte. Laut und gedehnt:
     - Tihomirrreeeeeeeeeeeee!
     Das bedeutete, dass die Angst in ihr so groß geworden war, dass sie sie nicht mehr allein ertragen konnte. Ich musste im selben Moment raufkommen, und Mutter servierte mir das Abendbrot. Sie tat das auch, wenn die Zeit fürs Abendbrot noch nicht gekommen war und ich gar keinen Hunger hatte. Das war der einzige Weg, meine Anwesenheit in der Wohnung zu rechtfertigen. Und wenn ich ihr sagte, dass ich nicht hungrig sei, dass ich meine Hausaufgaben gemacht hätte und dass wir gerade so schön spielten, sagte sie:
     - Mach nicht, dass ich böse werde!
     Die Ankunft meines Vaters ließ ihre Bewegungen langsamer und die Dinge, die sie mit den Händen machte, sinnvoller werden. Ihn kündigte gewöhnlich der spezifische Klang des ausgeleierten Motors des alten Jeeps an.
     Der Juni 1953 war regnerisch, und wir konnten nicht oft auf der Straße spielen. Wir saßen im Eingang zum Treppenhaus und langweilten uns. An einem solchen unendlich langweiligen Nachmittag sagte Roman:
     - Wir könnten wieder das mit den Namen machen.

zu Teil 3