Vorgeblättert

Leseprobe zu Zora del Buono: Big Sue. Teil 2

12.08.2010.
Ich folgte ihm. Statt des roten Impala wartete der alte Monte Carlo, den ich schon vom Flughafen kannte, hinter dicht blühenden Kamelien im Schatten, ein gediegen grüner Schlitten mit weißem Dach, flach und lang, edle Linien, eine enorme kantige Motorhaube; ein wunderbares Gefährt. Ich strich mit der Hand die Flanke entlang, Fenner wirkte zufrieden. Die Sitzbänke waren aus weißem Leder, breit gesteppt, mittlerweile vergilbt und von Schlitzen durchzogen, die längeren davon mit Klebeband zusammengehalten. Fenner hatte die Fenster offen stehen lassen, ich stieg ein und zog die schwere Tür zu, ein sattes Geräusch. Wenn mich nicht alles täuschte, roch es nach Hund.
     So vertraut bist du mit den Leuten schon, dass sie dir ihr Auto leihen?, fragte ich. Fenner ließ den Motor an, unfassbar, dieser kraftvoll blubbernde Ton, ich lehnte mich zurück. Fenner saß tief im Sitz, ein zu kleiner Mann hinter dem Steuer eines zu groß geratenen Wagens, eine Art Missverständnis; er überspielte es souverän, lenkte mit der einen Hand, mit der anderen klaubte er eine Sonnenbrille aus einem ledernen Etui.
     Es ist seit dreißig Jahren der Inselwagen, erklärte Fenner, meist fährt Hendrik damit, dann wieder Rup. Sie lassen ihn auf dem Festland stehen, an einem Fischerhafen zwanzig Meilen nordöstlich von Savannah, neben den Shrimpsbooten. Alle von Humphrey Island benutzen ihn, sogar Teresa. Und jetzt auch ich.
     Es wäre übertrieben zu behaupten, ich hätte Triumph aus seiner Stimme herausgehört. Aber irgendetwas Neues schwang mit, als er Humphrey Island sagte, etwas, das ich noch nicht erklären konnte, das sich mir aber zweifellos erschließen würde, bald schon, so hoffte ich. Wir fuhren über den Friedhof, im Schritttempo den Fluss entlang. Am Ufer standen Angler.
     Schweizer! Fenner zeigte auf ein paar Grabsteine, die Brille vergnügt zwischen den Fingern schwingend: Binswanger, Tschümperli, Zumbühl, Blättler, alle hier. Tolle Namen, nicht wahr?
     Da, sagte ich, ein Grabstein in Form eines Steinway-Flügels. Fenner verlangsamte, ich drehte mich um und schaute dem seltsamen Objekt hinterher, weiße Tasten auf hochpoliertem schwarzen Stein, Pedale in Gold, Bruce Upchurch - Music was his life. Mein Blick fiel auf ein Paket auf der Rückbank, hastig aufgerissen und umgekippt, mehrere Bücher lagen auf dem weißen Leder, vorwiegend Literaturtheorie. Du liest Roland Barthes? Die Vorbereitung des Romans?, fragte ich und griff nach dem grünen Band. Warum denn das?
     Du kennst es? Fenner schien erstaunt.
     Ich hatte die Vorlesungsreihe zur Hälfte gelesen, das Buch war in den Zeitungen ausführlich besprochen worden. Ich liebe Barthes, aber das hier ist eher enttäuschend, erwiderte ich, er spricht ewig lang über Haikus als Inspiration für Schriftsteller, kommt damit aber nicht wirklich weiter. Eigentlich ist es ein kluges und deprimierendes Dokument seines Scheiterns. Willst du etwa einen Roman schreiben? Ich schaute Fenner von der Seite an, ein wenig zu forschend vielleicht, er machte plötzlich einen gehetzten Eindruck. Ich dachte, es geht bei deinem Auftrag um eine Baugeschichte, gewürzt mit Familienanekdoten?
     Nun, ich habe ja viel Zeit. Fenner zögerte. Warum mich also nicht an einem Roman versuchen? Zudem gibt es jemanden, dem ich etwas entgegenzusetzen habe.
     Christian Abegg vielleicht?
     Du weißt davon?
     Ja, sicher, entgegnete ich, wann hat die Schweiz schon einen literarischen Skandal?
     Fenner schien verwirrt, ich fühlte seinen prüfenden Blick; anhaltendes Schweigen. Ich hätte ihn eher darauf ansprechen sollen, dachte ich, was für eine unangenehme Situation; ich kam mir hinterhältig vor.
     Hast du es gelesen?, fragte er schließlich.
     Wir waren beim Parkplatz am Friedhofseingang angelangt, mein Pick-up stand als einziges Auto neben dem eisernen Tor, ein uniformierter Wachmann hockte auf einer Kiste, mit Kieselsteinen spielend. Ich stieg aus, schloss die Tür des Monte Carlo und beugte mich durch das offene Fenster ein wenig ins Wageninnere, Fenner starrte geradeaus durch die Windschutzscheibe.
     Nein, sagte ich, aber ich habe es bestellt.
     Aha, nickte er, setzte die Sonnenbrille auf und fuhr grußlos davon.


Im Nachhinein frage ich mich, ob mir zu diesem Zeitpunkt die ersten Anzeichen von Fenners beginnender Zerrüttung hätten auffallen können, oder wie lange es dauerte, bis die Akkuratesse seiner Kleidung einer Nachlässigkeit wich, die schließlich in Schlampigkeit enden sollte, bis der präzise Seitenscheitel verluderte, die manikürten Hände verrohten, der ganze Fenner nach und nach zu verrutschen schien? Doch auch wenn mir seine Veränderung nicht so lange entgangen wäre, was hätte ich tun können, um den freien Fall, in den der Mann sich hineinmanövrierte, zu verhindern? Warum in jemandes Leben eingreifen, der doch einen zunehmend zufriedeneren Eindruck machte? Ich war mir zu dem Zeitpunkt nicht einmal sicher, ob ich Fenner überhaupt wiedersehen würde oder ob es zu einem Kontaktabbruch gekommen war, von ihm eingeleitet, aber von mir verursacht. Ich hätte es ihm nicht verübeln können.
     Wenige Tage vor dieser letzten Begegnung hatte ich Peewee Morton kennengelernt, eine in afrikanische Stoffe gehüllte Dichterin fortgeschrittenen Alters, das Haar hielt sie unter einer gewaltigen gelben Häkelmütze verborgen, insgesamt eine beeindruckende Frau mit einem auf Anhieb spürbaren aggressiven Intellekt. Ich hatte sie zu Käse und Wein zu mir nach Hause eingeladen, nachdem ihr Name bei mehreren meiner Gesprächspartner gefallen war. Peewee erzählte von ihren angolanischen Wurzeln, sie zeigte mir ihre Lyrik, die sich ausschließlich mit dem Leben der Sklaven und ihrer Nachfahren beschäftigte, eine wortgewaltige, rhythmische Anklage, die nie einen jammernden Ton anschlug; einige der Texte gingen über mehr als zwanzig Seiten. Nach anfänglicher Zurückhaltung taute sie auf und schimpfte über ihren missratenen jamaikanischen Ehemann, der kiffend in der Karibik sitze und sogar zu träge sei, die Scheidung in Angriff zu nehmen. Die Stimmung wurde endgültig gelöst, nahezu hysterisch, als Peewee theatralisch ihre Mütze vom Kopf zerrte, ihr eine Unmenge mit gelb-grünen Bändern verflochtene Rastazöpfe über die Schulter fielen und diese scharfzüngige Intellektuelle ausgelassen kreischte, die schneide sie jetzt ab, morgen schon, nun sei Schluss mit der karibischen Liebelei, sie sei schließlich keine fünfzig mehr. Der Abend mit Peewee war ein voller Erfolg gewesen. Zwei Tage nach dem Friedhofsdebakel rief ich sie an und bat um ein weiteres Treffen.
     Peewee saß bereits auf einem der orange gestrichenen Pseudo-Thonet-Holzstühle, als ich den Gryphon Tea Room betrat; ein Art-deco-Monument mit schwarz-weißem Mosaikfliesenboden, streng geometrischem Deckenschmuck und einem voluminösen pfirsichfarbenen Leuchter in der Raummitte, ein dunkles Lokal, dem das irr wirkende Orange des Mobiliars eine spezielle Note gab. Wir kamen schnell zum Kern meines Anliegens, Peewee war keine Frau, die Zeit mit aufwärmender Konversation verbrachte, dennoch zögerte sie ein wenig, als ich sie nach Humphrey Island fragte. Wir tranken Kaffee, Peewee redete, teils heiser stockend, dann wiederum wutentbrannt, ich hörte zu. Mir wurde bald klar, dass sie mir Dinge verschwieg oder zumindest Heikles umging, nach einer Viertelstunde wechselte sie das Thema, und wir sprachen über eine Ausstellungseröffnung im Kunstmuseum, zu der sie mich einlud. Nachdem sie sich verabschiedet hatte, blieb ich sitzen, bestellte einen Po Lin Peach Tea und zog mein Notizbuch aus der Tasche.

Teil 3