Vorgeblättert

Leseprobe zu Witold Gombrowicz: Berliner Notizen. Teil 3

16.09.2013.
Ich ging in eine kleine Straße, die rue Belloy, zwischen der Avenue Kléber und Place des Etats Unis, um das Haus zu sehen, in dem ich vor fünfunddreißig Jahren gewohnt hatte.
     Auf dem Rückweg von Alan Kosko (den ich zu Hause nicht angetroffen hatte), spazierte ich über den Boul'Miche, um Erinnerungen aufzufrischen.
     Wirklich erstaunlich, wie hartnäckig sich diese antiparisische Reaktion seit fünfunddreißig Jahren in mir hält - damals hatte ich die gleichen Empfindungen.
     Stille.

Interviews. Guy Le Clegh machte ein Interview für den Figaro mit mir.
     Abendessen mit Mathieu Galey, der mich danach, spät in der Nacht, durch die alten Stadtviertel fuhr. Er will unser Gespräch für Arts festhalten.
     Achte auf deine Worte! Es ist schließlich für die Pariser Presse, das ist wichtig! Soll ich manche Formulierungen nicht besser selbst schriftlich redigieren? Zumindest darum bitten, dass man mir die Interviews vor dem Druck zeigt? Aaaach, nein … Egal … Stille.
     Ein Anruf von Mayaud: morgen Interview für den Express.
Le Clegh brachte mich mit Rawicz zusammen, dem Autor von Le sang du ciel, der in Le Monde über mich schreiben wird. Publicité. Der Tod. Die gleiche Stille, aus Distanz geboren, umspann mich einst in Santiago.
     Ich unterhalte mich, bin alert, bemühe mich um Witz und "Natürlichkeit". Empfang bei Bondy. Frühstück bei Frau Julliard.

Kot nimmt mich mit zur Comtesse Ruby d'Aschott, deren Schwester (wenn ich mich nicht irre) eine Princesse de la Rochefoucauld ist. Kleinigkeit!
     Er behauptet, heute seien die Künstler und Intellektuellen die Aristokratie von Paris. Während früher der Literat versucht habe, es dem Fürsten nachzutun, imitiert heute der Fürst den Autor. Dennoch ist mein Verhältnis zu Kot inzwischen völlig aufgetaut, und so richtig warm wurden wir miteinander, als wir auf eine gemeinsame Ururgroßmutter gestoßen waren.

Und Hector Bianchotti führte mich in den Louvre. Gedränge an den Wänden, dummes Aushängen dieser Bilder, eins neben dem anderen. Der Schluckauf dieser Häufung. Kakophonie. Kneipe. Leonardo prügelt sich mit Tizian. Ein allgegenwärtiges Schielen herrscht hier, denn schaust du auf das eine, fällt dir schon das andere seitlich ins Auge … Das Gehen von einem zum anderen, Stehenbleiben, Betrachten, Weggehen, Herantreten, Stehenbleiben, Betrachten. Das Licht, die Farbe und die Gestalt, an denen du dich eben, auf der Straße, noch gefreut hast, geraten dir hier, wo sie sich in der Brechung so vieler Varianten kreuzen, wie die Flamingofeder nach dem Festgelage im alten Rom.
     Bis du schließlich das Allerheiligste betrittst, in dem sie thront, die Gioconda! Sei gegrüßt, Circe! … nicht minder arbeitsam und fleißig als damals, als ich dich schaute, verwandelst du die Menschen, zwar nicht in Schweine, aber in Dummköpfe! Mir fiel Schopenhauers Entsetzen bei dem Gedanken an den ewigen Mechanismus ein, kraft dessen irgend welche Schildkröten Jahr für Jahr, seit Jahrtausenden, aus dem Meer auf eine Insel kommen, um Eier zu legen - und Jahr für Jahr, nachdem sie ihre Eier gelegt haben, von Wildhunden gefressen werden. Seit fünf Jahrhundert versammelt sich vor diesem Gemälde Tag für Tag eine Menschenmenge, um sich eine idiotische Maulsperre zu holen, dieses berühmte Antlitz verblödet ihnen die Visage … knips! Ein Amerikaner mit Fotoapparat. Andere lächeln nachsichtig, in seliger Unwissenheit, dass ihre kulturelle Nachsichtigkeit nicht weniger dumm ist.
     Überhaupt wallt schiere Dummheit durch die Säle des Louvre. Einer der dümmsten Orte der Welt. Die langen Säle …
     Vierzigtausend Maler in dieser Stadt, wie vierzigtausend Köche! All das werkelt in Schönheit. Und da sie diese mit feinfühligen Fingern auf der Leinwand fabrizieren, dürfen sie, so möchte es scheinen, das Hässliche in sich pflegen, manchmal stilisieren sie sich zu Scheusalen, die das Schöne allein in den Fingerspitzen haben. Man betritt diese Malerei wie eine Perversion großen Maßstabs, wie eine gigantische Maskerade, wo ein künstlich Schaffender in Begleitung von Händlern, Snobs, Salons, Akademien, Reichtum, Luxus, Kritiken, Kommentaren gekünstelt für einen künstlichen Betrachter produziert, wo sowohl der Markt, als auch Angebot und Nachfrage ein abgehobenes, auf Fiktion gestützte System bilden … und was Wunder, dass Paris seine Hauptstadt ist?
     Das Modell, das sich für den Maler auszieht, ist das Gegenstück zu der Frau, die sich anzieht für Dior oder Fath. Beide hören sogleich auf nackt zu sein. Die Nacktheit der einen wird zum Vorwand für das Kleid. Die Nacktheit der anderen versickert im Gemälde. Die eine wird "elegant". Die andere gerät zur "Kunst".

Seit ich in Paris bin, geschieht Seltsames in mir, was Sartre betrifft .
     Ich hatte ihn, in Buenos Aires, schon lange bewundert. Allein mit seinen Büchern, da ich das ganze Übergewicht des Lesers über ihn besaß, ihn mit einem höhnischen Verziehen der Lippen erledigen konnte, musste ich ihn dennoch fürchten, so wie man jemand Stärkeres fürchtet. In Paris aber wurde er für mich zu einem Eiffelturm, der das ganze Panorama überragt.
     Es begann damit, dass ich - aus Neugierde - einmal untersuchen wollte, wie weit Frankreichs Intellekt sich Sartres Existentialismus
angeeignet hat … ich brachte also das Gespräch auf Sarte und sondierte Literaten und Nichtliteraten diskret in Bezug darauf, wie gut sie L' être et le néant kannten. Diese Sondierungen lieferten seltsame Ergebnisse. Vor allem stellte sich heraus (und das überraschte mich kaum), dass diese Ideen zwar in den französischen Hirnen spukten, aber in larvalem Zustand, zufällig aufgepickt, vor allem aus seinen Romanen und Theaterstücken, ein ganz unklares, bruchstückhaft es Sammelsurium, in dem vor allem vom "Absurden", von "Freiheit", von "Verantwortung" die Rede war; aber es war klar, dass L' être et le néant in Frankreich ein fast unbekanntes Werk ist. Gewiss, seine Gedanken grassierten in den Köpfen, lose jedoch und wie verstümmelt, zerhackt, in Stücke gerissen, gleichsam verwildert, furchtbar und unheimlich, so dass sie die bisherige gedankliche Ordnung zerrütteten und unterminierten … Viel interessanter waren die weiteren Ergebnisse. Ich war frappiert von der Abneigung, mit der man über ihn sprach, ja, vielleicht nicht Abneigung, sondern nur so etwas wie beiläufige Mordlust. Sartre? Nun ja, natürlich, nur dass er sich "so wiederholt". Sartre? Aber gewiss, nur, das ist doch von gestern … Die Romane? Dramen? "Das ist eigentlich eine Illustrierung seiner Theorie." Die Philosophie? "Nur die Theorie zu seinen Stücken". Sartre? Selbstverständlich, aber es reicht nun bald, wozu schreibt er soviel, außerdem ist er schmutzig, kein Dichter, und die Politik immer, und eigentlich ist er schon ausgebrannt, wissen Sie, Sartre ist eigentlich an sämtlichen Fronten erledigt.
     Das machte mich stutzig … Unsere Bewunderung für die Künstler hat viel von tantenhaft er Güte, man lobt den Kleinen eben, damit er sich nicht grämt - der Künstler hat es einfach geschafft , sich in unsere Gunst einzukaufen, hat unsere Sympathien so sehr gewonnen, dass wir glücklich sind, ihn bewundern zu dürfen - und es käme uns zu teuer, ihn nicht zu bewundern. Ganz deutlich wird das an der Einstellung der Franzosen zu Proust, den sie sogar im Sarg noch mit Pralinen füttern - er hat sie erobert. Und Sartre ist heute, soweit ich weiß, der einzige berühmte Künstler, der persönlich verhasst ist. Was ist dieser argentinische Borges, dies leckere Literatensüppchen, gegen den Sartre'schen Berg von Offenbarungen? Aber Borges hätscheln sie, auf Sartre dreschen sie ein … nur wegen der Politik? Das wäre eine unverzeihliche Kleinlichkeit! Kleinlichkeit? Sollte also dieser Animosität nicht Politik, sondern ganz einfach nur Kleinlichkeit zugrundeliegen? Wird Sartre gehasst, weil er zu groß ist?
     Der Gang meiner Gedanken in Paris war zufällig, chaotisch,
aber auch bestimmt von eigenartiger Radikalität … infolge des zufälligen Vergleichs von Sartre mit Proust zerfiel mir ganz Frankreich in Sartre und Proust. Als ich (der geborene Anti-Pilger!) mich eines Tages zu einem frommen Gang vor die Fenster der Sartre'schen Wohnung auf diesem Platz neben den Deux Magots aufmachte, war ich mir sicher, dass sie sich gegen Sartre für Proust entschieden hatten. Ja, sie hatten das Restaurant Du côté de chez Swann gewählt, in dem raffinierte Delikatessen gereicht wurden, zubereitet von einem Küchenmeister, der selbst Gourmet war und es verstand, zum Genuss zu verführen. Man hat mir einmal erzählt, dass die Köche der Spitzenklasse den Truthahn gern langsam töten, mit einer dünnen Nadel, weil sein Fleisch dann schmackhaft er wird - also, um auf Proust zurückzukommen, ich will ihm Tragik, Strenge, ja Grausamkeit nicht absprechen, aber all das ist wie jene Truthahnquälerei trotzdem zum Essen, es birgt gastronomische Intentionen, geht noch immer einher mit Servierschüssel, Gemüse und Soße … L' être et le néant Sartre dagegen war in Frankreich das kategorischste Denken seit Descartes, wütend dynamisch, es zerschlug ihnen ihre Feinschmeckerei … Halt! Was ist das? Zwei, drei Jungen, zwei Mädchen, ein heiteres Grüppchen, sprühend vor Witz, Frankreich charmant und jung, und zur Nacktheit taugend, fährt mir in meine Versonnenheit, sie gehen über den Platz, verschwinden hinter der Straßenecke - in diesem Augenblick tat mir Sartre gleichsam weh, ich fühlte, dass er sie ruiniert … aber als sie mir aus den Augen verschwunden waren, als ich wieder die Messieurs-Dames im gastronomischen Alter vor mir sah, begriff ich, dass es für sie keine andere Erlösung gibt als Sartre. Er war die befreiende Energie, die sie einzig aus ihrer Hässlichkeit reißen konnte - mehr noch, die französische Hässlichkeit, seit Jahrhunderten gewachsen in traulichen Wohnungen, hinter zarten Gardinen, umgeben von Nippsachen, diese Hässlichkeit hatte, weil sie sich selbst nicht mehr ertragen konnte, Sartre hervorgebracht, den grausamen Messias … er allein vermochte ihnen die Restaurants, Salons, Zylinder, Galerien, Kabaretts, Feuilletons, Theater, Teppiche, Seidenschals zu zertrümmern, den Louvre in Schutt und Asche zu legen, die Champs-Elysées, die Denkmäler und die Place de la Concorde bei Sonnenuntergang. Und den Bois de Boulogne! Ich fand es nicht anstößig, sondern im Gegenteil achtenswert, dass diese Philosophie in einem unschönen, aber mit leidenschaftlicher, künstlerischer Empfindsamkeit begabten Franzosen entstanden war, wer hätte mit mehr Recht als er fordern können, dass man sich hinter das Objekt, hinter den Leib, sogar hinter das Ich zurückzieht, in die Sphäre des pour soi, wo man für sich ist? Das Nichts in den Menschen bringen - das reinigt doch schließlich auch von der Hässlichkeit.
     Sartre, nicht Proust! Prousts Ohnmacht im Vergleich zu Sartres schöpferischer Spannung! Wie konnten sie das übersehen! Die Hälft e seines Gedankengangs in L' être et le néant ist für mich unannehmbar, widerspricht meiner reinsten Lebenserfahrung, und ich bin überzeugt, dass sich sein cogito nicht in diesem Absolutismus behaupten kann, trotz seiner Einzigartigkeit verlangt es nach einem ergänzenden Prinzip, das ebenso fundamental, aber antinom wäre - es ist doch deutlich, dass dieser Gedanke in seiner konkreten Anwendung an furchtbarer Einseitigkeit krankt, das sieht so aus, als hätte man dem zwiegesichtigen Gott ein Antlitz geraubt: Es ist nur die halbe Wahrheit. Und als Moralist, Psychologe, Ästhet und Politiker erfüllt Sartre längst nicht meine Erwartungen. (Muss ich wohl sagen, ihr Ignoranten, dass ich nicht alles von ihm gelesen habe, dass es in L' être et le néant Kapitel gibt, die ich nur überflogen habe?) Sicher ist, dass er und nur er verschlossene Türen aufzustoßen vermag. Was an Proust, an der gesamten französischen Literatur Fortsetzung ist, die auf ihr Ende zugeht, das gewinnt bei Sartre den Charakter eines Beginns, ist Start. Und ist das Bewusstsein bei Proust immer noch unersättlich (aber was für ein Verfall im Vergleich zu Montaigne!), so gewinnt es bei Sartre den Stolz einer schöpferischen Kraft wieder.
     Ich Pole … ich Argentinier … Slawe und Südamerikaner … Literat, verloren in Paris und voll Verlangen nach einem Stachel, mich bemerkbar zu machen … ich wehmütiger Liebhaber einer längst entflohenen Vergangenheit … suchte den Bund mit Sartre, gegen Paris. Und mich reizte der Spaß, ihnen jemand, den sie schon katalogisiert hatten, plötzlich aufs Podest zu heben und zu preisen!
     Ich attackiere Paris nicht von anderer Seite, beschränke mich bei meinen Auseinandersetzungen mit ihm auf die Schönheit; vielleicht deshalb, weil ich doch immerhin Künstler bin; oder noch befangen bin in jener verlassenen Schönheit jenseits des Ozeans; oder auch deshalb, weil die Schönheit ein empfindliches Argument ist.
     Aber was für einen Kult der Nacktheit meine ich, wenn ich sage, dass Paris seine Nacktheit eingebüßt hat? Könnte ich das vielleicht präzisieren?
     Ich fordere nicht von ihnen, den Körper, Natur und Natürlichkeit einfältig zu bewundern, ich verlange von ihnen keine Hymnen auf die Nackedeis.
     Aber ich möchte vom Menschen verlangen, dass die Idee der Schönheit des Menschengeschlechts in ihm lebendig ist (auch wenn er selbst ein Scheusal sei) - das soll er nie vergessen: "Ich gehöre einer Rasse an, die mich begeistert." "Ich verehre die Schönheit der Welt in der Schönheit des Menschen."
     Deshalb ist es wichtig, sehr wichtig sogar, dass wir im Innern
niemals mit jener Zeit des Menschenlebens brechen, in der die Schönheit greifbar nahe ist - der Jugend. Denn wie die Schönheit auch sei, die wir in späteren Jahren gewinnen, immer wird sie unvollkommene Schönheit sein, fehlt ihr doch die Jugend. Und darum ist die junge Schönheit eine nackte Schönheit, die einzige, die sich nicht zu schämen braucht.
     Und wer immer mit der Jugend vereint ist, wird nie an Kleidern
Gefallen finden. Das ist das Fundament meiner Ästhetik. Diese Abneigung gegen die Kleidung meine ich. Deshalb kann ich mich nicht mit Paris abfinden, das die Kleidung vergöttert.


Auszug mit freundlicher Genehmigung der edition foto.TAPETA
(Copyright edition foto.TAPETA)

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