Vorgeblättert

Leseprobe zu Witold Gombrowicz: Berliner Notizen. Teil 2

16.09.2013.
Mittwoch

Zuerst rufe ich Kot Jeleński an. Ganz überrascht (weil er mich erst in einigen Tagen erwartet hat), begrüßt er mich überschwänglich. Doch ich: "Bitte, Kot, nur kein Theater, wir tun so, als kennten wir uns schon lange und hätten uns gestern getroffen." Er kam ins Hotel, wir gingen in das Café an der Ecke, wo er mir zunächst von allerlei Projekten im Zusammenhang mit meiner Ankunft erzählte … dann gerieten wir ins Plaudern …
     So lernte ich Jeleński kennen, der meinen argentinischen Käfig gesprengt und mir so eine Brücke nach Paris geschlagen hatte. Und? Nichts. Still und stumm. Ich kehrte ins Hotel zurück.
     Was war das? Die Möglichkeit, Paris hassen zu lernen - diese Möglichkeit, die ich ganz einfach als Erfordernis des Daseinskampfes begriff en hatte - war schon erwacht und suchte nach Nahrung. Es brauchte nur ein paar der Passanten, die ich sah, als ich mit Kot im Café saß, der Akzent und Geruch des Französischen, Bewegung, Geste, Ausdruck und Kleidung … schon kommen lang gehegte Antipathien in mir zum Ausbruch. Werde ich schon zu einem Feind von Paris? Werde ich ein Feind von Paris sein? Ich kannte die verborgenen Quellen meiner Parisophobie nicht erst seit heute, ich wusste, dass diese Stadt mich an meiner empfindlichsten Stelle berührt, beim Alter, beim Problem des Alters, und gewiss, wenn ich mit Paris ein Hühnchen zu rupfen hatte, so deshalb, weil es eine Stadt "über vierzig" war. Ach, wenn ich "über vierzig" sage, meine ich nicht die Altertümlichkeit dieser tausendjährigen Mauern - ich will nur sagen, dass dies eine Stadt für Leute ist, die in die Fünfzig kommen. Strände sind ein Ort der Jugend. In Paris spüre ich die Vierzig, sogar die Fünfzig in der Luft , diese beiden Zahlen liegen über den Boulevards, Plätzen und Grünflächen.
     Gleichwohl, wenn mich jetzt dieses Empfinden so heftig überkam, dann nicht wegen seines gedanklichen Gehalts, sondern weil es vergift et war von Poesie. Die Poesie war es, die mich zu derart gewaltsamem Widerwillen zwang. An meiner Zimmerwand hing ein Öldruck, der jenen Augenblick aus dem Gewölbe der Sixtinischen Kapelle darstellte, da Gott in Gestalt eines gewaltigen Greises über Adam kommt, um ihm Leben einzuhauchen. Ich betrachtete diesen Adam, der wohl zwanzig sein mochte, und Gott, der über sechzig war - und fragte mich, wer mir lieber war, Gott oder Adam? Lieber zwanzig oder sechzig? Und diese Frage schien mir ungeheuer wichtig, ja entscheidend - denn es ist nicht egal, welches Ideal vom Menschen und von der Menschheit in dir schlummert, welche Art Schönheit du von der menschlichen Gattung verlangst, wie du ihn haben möchtest, diesen Menschen. Der Mensch - ja - aber in welchem Alter? Den einen und einzigen Menschen gibt es ja nicht. Welcher Mensch ist für dich der eigentliche Mensch? … der schönste … der geglückteste, körperlich und geistig? Vielleicht siehst du im Kind den Gipfelpunkt menschlicher Schönheit? Oder im Greis? Oder meinst du, dass alles über Dreißig, oder unter Dreißig, schon "schlechter" ist? Versunken in den Anblick Gottes und Adams, sinnierte ich darüber, dass die großartigsten Werke von Geist, Verstand und Technik allein aus dem Grunde unbefriedigend sein können, dass sie Ausdruck eines Menschenalters sind, das wir weder liebenswert noch entzückend finden - dann wirst du sie gleichsam wider besseres Wissen ablehnen, im Namen einer leidenschaftlicheren Ratio, die mit der menschlichen Schönheit zusammenhängt. So beging ich das Sakrileg, Gott auf diesem Gemälde von Michelangelo zu verwerfen und mich für Adam auszusprechen.
     Und das tat ich, um eine Waffe gegen Paris zu schmieden - denn als Schriftsteller musste ich mich schließlich gegen Paris absetzen. Seltsam ist es, und traurig, dass die Schönheit in mir so praktisch sein kann …


AM SELBEN TAGE, ABENDS


Gouvernanten? Gouvernanten? Mlle Jeanette, später Mlle Zwieck, die Schweizerin … die uns Kindern Französisch und Manieren beibrachten … einst, dort, in Małoszyce. In die frische und raue Landschaft des polnischen Dorfes versetzt wie Papageien. Meine Abneigung gegen die französische Sprache … haben nicht sie mir das eingeimpft ? Und Paris? Ist das heute für mich nicht eine einzige, gigantische französische Gouvernante? Leicht und luftig tanzen Mlle Jeannette und Mlle Zwieck um den Eiffelturm, auf dem Opernplatz … sind sie es, die über den Trottoirs schweben?
     Fort, fort mit euch, Nymphengespött, das ihr meinen Angriff auf Paris kompromittiert!

                                                   ***

Maisons-Laffitte. Ein sonniger Nachmittag. Zum ersten Mal betrete ich das Haus der Kultura. Bekomme Giedroyć zu Gesicht. Giedroyć bekommt mich zu Gesicht.
     Er: "Freut mich, Sie zu sehen …" Ich: "Jerzy - mein Gott, Junge, du wirst doch jemanden, mit dem du brieflich seit Jahren auf du und du bist, nicht siezen!" - Er: "Hm … hm … ach ja … gut, ich freue mich wirklich, dass du gekommen bist." Ich: "Was für ein Häuschen! Wirklich hübsch!" Er: "Recht geräumig und bequem, gute Arbeitsbedingungen." Ich: "Jerzy, Ehrenwort, ich bin schon so was wie ein Mickiewicz, ungelogen, den Leuten bricht die Stimme, wenn sie mit mir telefonieren." Er: "Hm … ich mag Mickiewicz nicht besonders …"
     Belustigt lauscht Józef Czapski dem Dialog unserer unterschiedlichen Temperamente.
     Ich amüsiere mich, amüsiere mich aber - den Blick stier auf einem Sonnenstrahl auf dem Fußboden - keineswegs. Mir ist peinlich. Tödliche Stille (bei mir ein Zeichen für Distanz). Das ist so, als wäre ich eigentlich noch dort und dennoch schon hier und betrachtete etwas, das zu betrachten ich kein Recht habe … Ich entdecke einen kleinen Kratzer am Tischbein. Hast du also den Ozean überquert, um das zu sehen … und versenkst beschämt, verzweifelt den Blick darin …
     Mit Tadeusz Breza frühstücken.
     Mit Paweł Zdziechowski.
     Furchtbare, rattenhafte Begegnungen … kommen wir doch aus unserer langjährigen Nichtbegegnung wie Ratten aus ihrem Loch … und sind bemüht, uns nicht zu genau zu beäugen, wie Fledermäuse, wie Lurche, die das Tageslicht scheuen, und die Gestalt.
     Im Café de la Paix mit Jadwiga Kukułczanka und Jorge Lavelli, dem Regisseur der Trauung. Stille.

Ich hatte nicht viel Zeit zum Spazierengehen - alte und neue Freunde, französische Schriftsteller, Verlagsangelegenheiten, Übersetzer … - aber bei jedem Kontakt mit der Pariser Straße suchte ich nach Hässlichkeit… und fand sie. Diese geschärfte Aufmerksamkeit für das Schieche war gleichsam ein Liebesbeweis für die Verlassene (Argentinien) - aber nicht nur daran, mich mit Liebe zu schmücken, lag mir, ich vergaß auch nie, dass ich Paris hart zusetzen musste …
     Ich fischte körperliche Mängel aus der Menge, da, schau, eine schwache Brust, ein anämischer Hals, ein Buckel, die Verkrümmung dieses Rumpfes, die Tragödie dieser Glieder … und weil ich so genau auf die Leiber sah, hatte ich keinen Blick mehr für die Paläste, Kirchen, Plätze, Aussichten, Bögen, Brücken, Kuppeln … Besonders hartnäckig verfolgte ich einen gewissen Fehler, eine Art Uneleganz, die ihnen um Nase oder Mund tanzte, nicht allen, aber vielen, einen sehr französischen Fehler. Aber das wäre noch verzeihlich. Die Pariser Masse ist keineswegs übler als die Masse vieler anderer Städte, die Pariser Hässlichkeit sitzt tiefer, sie sitzt gerade in ihrer Einstellung zum Hässlichen, diese intelligente Stadt ist eine Stadt bewusster Hässlichkeit. In der Avenue de l'Opéra, auf der rue Rivoli … ach, wie sie sich kannten, zu viele Spiegel, zu viele Frisöre, Schneider und Modistinnen, Kosmetiker, ach, wie sie den Becher des Schiechen in jedem Augenblick bis zum letzten Tropfen leerten! Ich sah die Qual welkender Damen, die Bitterkeit ausgezehrter Poetenjünglinge, die beflissene Stilisierung spitzbärtiger Herren, die feiste Resignation von Schmerbäuchen, sah bizarrste Versuche, sich mit Hilfe eines Hutes oder gar eines Schirms ins Ästhetische zu sublimieren, der verbissene Kampf gegen die Hässlichkeit wurde auf Schritt und Tritt gekämpft und immer gleich verloren (ich fand das großartig, ich wollte mir doch Argentinien verschönern). Ich sah ständigen Widerwillen im Gesicht der Messieurs-Dames, so als röchen sie etwas Unangenehmes, und Paris hatte für mich etwas vom Négligé, von jener Tageszeit, da wir Morgentoilette machen, der Zeit der Cremes, Puder, Kölnisch Wasser, Schlafröcke und Pyjamas. Aber das wäre noch erträglich gewesen. Nur verbarg sich hinter dieser Hässlichkeit eine andere, viel unangenehmere, die auf Fröhlichkeit beruhte. Das war nun wirklich unausstehlich! Trauer und Verzweiflung hätte ich ihnen verziehen, aber dass ihre Hässlichkeit dabei noch fröhlich war … dass sie Humor, esprit und blague besaß, das fand ich unerhört!
     Dort, an der Ecke, der ältliche Knacker, der einem jungen Mädchen beim Einsteigen in den Bus amüsiert auf die Schenkel guckt - tout Paris gluckst über diesen genießerischen Filou.
     Entsetzt sehe ich den aufgedunsenen Küchenmeister in der Tür des Restaurants, der einer Madame, die geradezu labyrinthisch verworren ist in ihrer körperlichen Sophistik, mit rosarotem Mündchen gepfefferte bon mots ins Ohr seicht.
     Sie wollten also das Leben doch genießen …
     Solche Szenen ließen mich kalt, und ich hatte überhaupt keine Lust, ihnen voller Anerkennung - voilà Paris - zu begegnen! Susanna und die alten Männer - voilà Paris! Ich (nicht ich allein und nicht als erster in dieser Stadt) empfand tiefe Abscheu beim Anblick der gierigen Hässlichkeit. Eine Sinnlichkeit, die sich nackt nicht mehr ausleben konnte, hatte sich auf Schminke und Korsett geworfen - auf Eleganz - Toilette und Manieren - Kunst und Konversation - Witz und Chanson -diese "Geselligkeit", dank derer die mannigfaltigsten Mängel im gemeinsamen Tanz zum großartigen Ballrausch avancierten - dieser esprit, der es erlaubte, sich charmant zu kneifen - und diese furchtbare "Fröhlichkeit", die man sich im Laufe von Jahrhunderten fleißig herangezogen hat, um trotz allem miteinander verkehren zu können … eine Hässlichkeit, die sich ihrer selbst so bewusst und doch so selig vertanzt ist! In dieser abstoßenden Ästhetik lag zudem eine fatale Naivität, gestützt auf die Illusion, man könnte seine Jahre maskieren und sich mit seinen Amüsements in eine höhere Etage begeben, um sie dort in anderen Dimension zu realisieren.
     Paris, dachte ich, Paris, alter Tenor, welke Ballerina, greiser Schwerenöter, welches ist deine Todsünde gegen die SCHÖNHEIT? Besteht sie nicht darin, dass du sie aufisst? Mais permettez-moi donc, cher Monsieur! Ein Monsieur, der in die Jahre kommt, ist kein beau garçon mehr, also großzügige, selig selbstlose Verschönerung der Welt, Schönheit als Geschenk … aber sollte sein Verkehr mit der Schönheit damit zu Ende sein? Keineswegs! Das Leben ist weiterhin zauberhaft! So kann er etwa in eines von tausenden Restaurants gehen und Veau à la Crevette Sauce Moustache oder Sautée Velay Mignonne Asperges bestellen … er kann sogar darum bitten, dass ihm Fricassée de Jeunes Filles en Fleur gereicht werde, oder un Beau Garçon rôti à la bordelaise, zweifelsohne schmackhafte und leichte Gerichte!
     Eine kulinarische Metapher, die besagen soll, dass man, um Schönheit zu konsumieren, zunächst ganz mit ihr brechen muss; nicht nur muss sie von außen zu dir kommen, wie auf dem Serviertablett, du musst dich auch innerlich so arrangieren, dass deine eigene Hässlichkeit dir nicht den Genuss verdirbt; und das ist eine so erbärmliche Operation, dass ich zweifle, ob irgend jemand auf einer höheren Entwicklungsstufe sie an sich selbst vornehmen könnte, sie bedarf des Aufgehens im Kollektiven, in der Geselligkeit, der Mitwirkung der anderen, man muss zunächst ein System des Zusammenlebens schaffen, eine Kultur, in der Schönheitssurrogate wie belles manières, élégance, distinction, esprit, bon goût etc. etc. die schäbig gewordene Nacktheit ersetzen können. Und dann darfst du, den Swann'schen Zylinder auf dem Kopf, ungeniert Gourmet sein! Die große, wahre Schönheit des Menschengeschlechts, eine Schönheit, die jung ist und nackt, wurde von den ZYLINDERHÜTEN in die Statuen verbannt, die still zwischen den Bäumen von Paris stehen, und die ZYLINDERHÜTE betrachten diese Statuen mit Kennerblick, als wären sie das Objekt ihrer berechtigten Begierde. Ist also der Verzicht auf
Schönheit lobenswert, wenn er zur reinen Kontemplation führt, so wird er ekelhaft , wenn er unter dem Zeichen von Gier und Wollust steht. Wenn etwas für mich schlechterdings unästhetisch ist - dachte ich, während ich diese avenues durchschritt - dann der feuchtlippige Gourmet … Paris!

Diese Stadt, die göttliche Speisen im ältlichen Mund zergehen lässt! Wie ich so mit gesenktem Haupte, still und erloschen, durch Paris wanderte, dachte ich: Es fehlte nur noch, dass sie sich eines Nachts zu den nackten Statuen schleichen, sie nach der neuesten Mode einkleiden und parfümieren … Diana in einer Toilette von Dior, ja, das passte ganz zu ihrer mondanité, zu ihrer Produktion von appetitlichem Schönheitsersatz. Und die wahre Schönheit, sagte ich mir wieder, sie ist doch nackt! Und der Mensch kann sich dieser Nacktheit nur in seiner eigenen Nacktheit loyal zeigen - wenn nicht durch die, die dir heute eigen ist, so durch die, die du einst besaßest - und wenn du nie eine Nacktheit besaßest, so durch jene, die dein hätte sein können, weil jedenfalls sie deinem Alter angemessen war.
     Aber der Schneider kleidete Paris in Nacktheit.
     Wenn sie une belle femme erblicken, werden sie wahnsinnig galant, die Ekstase der ZYLINDERHÜTE kennt keine Grenzen, so einer verliebt sich und unterzieht seine Gefühle einer subtilen Analyse … aber ausziehen tut er sich nie. Die Rollen sind geteilt, die Nacktheit ist nur auf einer Seite … ich weiß nicht, ob es wahr ist, was man mir erzählt hat: dass sie Handschuhe anziehen, bevor sie zärtlich werden, und sich selbst, während sie la belle fieberhaft entkleiden, eiligst zuknöpfen.

zu Teil 3
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