Vorgeblättert

Leseprobe zu Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel. Teil 2

31.08.2009.

Das Ego ist auch als ein Werkzeug der sozialen Kognition evolviert, und einer seiner größten funktionalen Vorteile bestand darin, dass es uns erlaubte, die geistigen Inhalte anderer Tiere oder Artgenossen zu erkennen - um dann in der Lage zu sein, diese zu täuschen. Oder auch uns selbst. Weil sich unser eingebautes existenzielles Bedürfnis nach vollständiger emotionaler und physischer Sicherheit niemals ganz befriedigen lässt, haben wir einen starken Hang zu Wahnvorstellungen und bizarren Glaubenssystemen. Die psychologische Evolution hat uns mit dem fast unwiderstehlichen Drang versehen, unser emotionales Bedürfnis nach Stabilität, Geborgenheit und einem tiefen Erleben von Bedeutung zu befriedigen, indem wir metaphysische Welten und unsichtbare Personen erschaffen.1 Während man Spiritualität definieren könnte als das Sehen dessen, was ist - also als das Loslassen der ständigen Suche nach gefühlsmäßiger Sicherheit -, lässt sich religiöser Glaube als ein Versuch verstehen, sich weiter an dieser Suche festzuklammern und den Ego-Tunnel vollständig umzugestalten. In diesem Sinne ist Glaube etwas zutiefst Unspirituelles. Der religiöse Glaube ist ein Versuch, unser Leben mit einer tieferen Bedeutung zu versehen und es in einen positiven Metakontext einzubetten - es ist der zutiefst menschliche Versuch, sich endlich zu Hause zu fühlen. Es ist eine Strategie, um die hedonische Tretmühle zu überlisten. Auf der Ebene des Individuums scheint es einer der erfolgreichsten Wege zum vorübergehenden Erreichen eines stabilen Zustands zu sein - mindestens genauso gut oder noch besser als jede Droge, die die Menschheit bislang entdeckt hat. Jetzt sieht es so aus, als ob die Wissenschaft uns all dies wegnimmt. Die dadurch entstehende Leere könnte einer der Gründe für das gegenwärtige Anwachsen des religiösen Fundamentalismus auch in säkularen Gesellschaften sein.
Ja, es ist richtig, dass das Selbstmodell uns intelligent gemacht hat, aber es ist mit Sicherheit kein Beispiel für intelligentes Design. Es ist die Wurzel subjektiven Leidens. Wenn der Vorgang, der die biologische Ego-Maschine erschaffen hat, durch so etwas wie eine Person eingeleitet worden wäre, dann müsste man diese Person wohl als grausam, ja vielleicht sogar als teuflisch beschreiben. Alles sieht danach aus, dass wir niemals gefragt worden sind, ob wir existieren wollen, und wir werden auch niemals gefragt werden, ob wir sterben wollen oder ob wir bereit dazu sind. Insbesondere sind wir niemals gefragt worden, ob wir mit dieser Kombination von Genen und dieser Art von Körper leben wollen. Und schließlich sind wir ganz gewiss niemals gefragt worden, ob wir mit dieser Art von Gehirn einschließlich dieser ganz speziellen Art von Bewusstsein leben wollen. Eigentlich wäre es höchste Zeit für eine Rebellion. Doch alles, was wir bis jetzt wissen, deutet auf eine Schlussfolgerung hin, die einfach, aber für Wesen mit unserer geistigen Struktur nur schwer anzunehmen ist: Die Evolution ist einfach passiert - ohne Vorausschau in die Zukunft, zufällig, ohne Plan, ohne Richtung und ohne Ziel. Es gibt niemanden, den man verachten oder gegen den man rebellieren könnte - noch nicht einmal uns selbst. Was viele jedoch nicht erkennen, ist, dass genau dies keine bizarre Form von neurophilosophischem Nihilismus ist, sondern in Wirklichkeit ein Punkt, der mit intellektueller Redlichkeit zu tun hat und eine große spirituelle Tiefe besitzt.
Eines der wichtigsten zukünftigen Ziele für die Philosophie wird darin bestehen, eine neue und umfassende Anthropologie aufzubauen - ein Bild des Menschen, das die neuen Erkenntnisse, die wir über uns selbst gewonnen haben, zu einem größeren Ganzen zusammenfügt. Eine solche Synthese müsste eine Reihe von Bedingungen erfüllen. Sie muss begrifflich kohärent und frei von logischen Widersprüchen sein. Sie sollte durch die ehrliche Absicht motiviert sein, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Sie muss für Korrekturen offen bleiben und in der Lage sein, in einem Vorgang der ständigen Aktualisierung neue Erkenntnisse aus der kognitiven Neurowissenschaft und verwandten Disziplinen in sich aufzunehmen. Vor allem jedoch muss sie uns ein Fundament liefern und eine rationale Basis für normative Entscheidungen schaffen - Entscheidungen darüber, wie wir in der Zukunft sein wollen. Ich bin mir sicher, dass eine philosophisch motivierte Neuroanthropologie im Verlauf dieses Jahrhunderts zu einem der wichtigsten neuen Forschungsgebiete werden wird.


Die dritte Phase der Revolution

In der ersten Phase der Bewusstseinsrevolution geht es darum, das bewusste Erleben als solches zu verstehen, um das, was ich den »Tunnel« genannt habe. Sie ist bereits seit einiger Zeit im Gange und liefert die ersten Ergebnisse. Die zweite Phase wird zum Kern des Problems vordringen, indem sie schrittweise das Rätsel der Erste-Person-Perspektive löst und dabei die tiefere Natur dessen enthüllt, was ich das »Ego« genannt habe. Diese Phase hat bereits begonnen, wie man deutlich an der aktuellen Flut von wissenschaftlichen Aufsätzen und Büchern über Agentivität, Willensfreiheit, Emotionen, Einfühlung, soziale Kognition (mind-reading) und Selbstbewusstsein im Allgemeinen ablesen kann.
Die dritte Phase wird uns unweigerlich in die normative Dimension dieses historischen Übergangs zurückführen - in die Anthropologie, die Ethik und die politische Philosophie. Sie wird uns mit einer Vielzahl neuer Fragen darüber konfrontieren, was wir mit all diesem neuen Wissen über uns selbst tun und wie wir mit den neuen Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, umgehen wollen. Wie sollen wir mit diesem Gehirn leben? Welche Bewusstseinszustände sind heilsam und nützen uns, welche sind schädlich? Wie werden wir diese neue Sichtweise in unsere Kultur und unsere Gesellschaft integrieren? Was sind die wahrscheinlichen Folgen eines Zusammenpralls verschiedener Menschenbilder, des sich verschärfenden Wettbewerbs zwischen den alten und den neuen Bildern des Menschen?
Jetzt beginnen wir zu verstehen, warum eine rationale Neuroanthropologie so wichtig ist: Wir brauchen eine empirisch plausible Plattform für die ethischen Debatten der Zukunft. Ich habe schon einmal betont, wie wichtig es ist, die folgenden beiden Fragen klar voneinander zu trennen. Was ist der Mensch? Und: Was sollte aus dem Menschen in Zukunft werden?
Betrachten wir ein einfaches Beispiel. In der jüngeren Vergangenheit westlicher Länder war die Religion eine Privatangelegenheit: Man glaubte, woran immer man glauben wollte. In der Zukunft jedoch könnten Leute, die immer noch an die Existenz einer Seele oder an ein Leben nach dem Tod glauben, nicht mehr auf die Toleranz der westlichen Kultur des 20. Jahrhunderts treffen, sondern zunehmend auf eine eher herablassende Haltung - ähnlich wie Leute, die immer noch im Ernst daran glauben, dass sich die Sonne um die Erde dreht. Es könnte immer schwerer werden, unser Bewusstsein als Projektionsfläche für die eigenen metaphysischen Hoffnungen und Bedürfnisse zu benutzen. Der Soziologe und politische Ökonom Max Weber hat die berühmte Formel von der »Entzauberung der Welt« geprägt, die sich darauf bezog, wie Europa und Amerika sich in einem fortschreitenden Vorgang der Rationalisierung und Verwissenschaftlichung in die moderne Industriegesellschaft verwandelten und dabei die Religion und alle »magischen« und »zauberhaften« Theorien über die Wirklichkeit zurückdrängten. Was wir jetzt erleben, ist die Entzauberung des Selbst. Was könnten die sozialen Kosten dieses Vorgangs sein?
Eine der vielen Gefahren in diesem Prozess ist, dass, wenn wir den Zauber aus unserem Bild von uns selbst entfernen, dieser auch aus dem Bild unserer Mitmenschen verschwinden könnte. Wir könnten uns gegenseitig entzaubern. Das allgemeine Bild des Menschen beeinflusst subtil, aber sehr wirksam unsere Lebenswelt und unsere Kultur; es bestimmt nicht nur die Alltagspraxis und die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, sondern auch, wie wir uns subjektiv selbst erleben. Jeder - ob nun gläubig oder nicht - wird zugeben müssen, dass in den westlichen Gesellschaften das jüdisch-christliche Bild des Menschen im Alltagsleben immer so etwas wie einen minimalen moralischen Konsens sichergestellt hat. Über Jahrhunderte hinweg war es ein wesentlicher Faktor für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Wie der Bremer Hirnforscher und Philosoph Hans Flohr treffend bemerkt hat, wird dem Menschen gewissermaßen die göttliche Wurzel abgeschnitten. Nachdem die Neurowissenschaften nun das jüdisch-christliche Bild vom Menschen als einem Wesen mit einem unsterblichen Funken des Göttlichen unwiderruflich aufgelöst haben, beginnen wir zu erkennen, dass sie nichts anzubieten haben, was das entstandene Vakuum füllen, die Gesellschaft zusammenhalten und eine gemeinsame Grundlage für moralische Intuitionen und Werte liefern könnte. Dies ist auch nicht ihre Aufgabe. Trotzdem sehen wir, dass der Erkenntnisfortschritt in der Hirnforschung eine anthropologische und ethische Leere hinterlässt.
Dies ist eine gefährliche Situation. Ein mögliches Szenario besteht darin, dass sich ein vulgärer Materialismus in der Gesellschaft ausbreiten könnte, lange bevor die Hirnforscher und Philosophen zu einer befriedigenden Antwort auf irgendeine der großen Fragen gekommen sind - etwa nach dem Wesen des Selbst, der Willensfreiheit, der Beziehung zwischen Geist und Gehirn oder was genau eine Person zu einer Person macht. Mehr und mehr Menschen könnten sich insgeheim sagen: »Ich verstehe nicht, worüber all diese Experten aus der Hirnforschung und diese seltsamen Bewusstseinsphilosophen reden, aber das Endergebnis scheint ziemlich klar zu sein. Die Katze ist längst aus dem Sack: Wir sind Genkopierer, Bioroboter, die im Verlauf der Evolution auf einem einsamen Planeten in einem kalten und leeren physikalischen Universum entstanden sind. Wir haben ein Gehirn, aber keine unsterbliche Seele, und nach rund siebzig Jahren fällt der Vorhang. Es wird kein Leben nach dem Tod geben, keine Strafe und keine Belohnung, keine Preisverleihung für gute schauspielerische Leistungen (wie Woody Allen einmal gesagt hat), und letztlich ist jeder von uns allein. Ich habe die Botschaft verstanden, und Sie können sich darauf verlassen, dass ich mein eigenes Verhalten daran anpassen werde. Wahrscheinlich wäre es am schlauesten, wenn ich niemandem zeige, dass ich das Spiel längst durchschaut habe. Die effektivste Strategie wird darin bestehen, so zu tun, als sei ich ein konservativer, ein altmodischer Mensch, der noch an moralische Werte und das metaphysische Menschenbild glaubt.« Und so weiter.
Was wir erleben, ist eine naturalistische Wende im Menschenbild, und es sieht so aus, als ob es keinen Weg zurück gibt. Die dritte Phase der Bewusstseinsrevolution wird unser Bild von uns selbst dramatischer verändern als jede andere naturwissenschaftliche Revolution in der Vergangenheit. Wir werden viel gewinnen, aber wir werden auch einen Preis dafür zahlen. Deshalb sollten wir auf nüchterne und intelligente Weise versuchen, die psychosozialen Folgekosten der Entwicklung abzuschätzen.
Die gegenwärtig rasante Zunahme des Wissens in den empirischen Geisteswissenschaften ist ein Vorgang, der vollständig unkontrolliert abläuft, der eine vielschichtige Eigendynamik besitzt und der sich weiter beschleunigt. Er findet zudem in einem ethischen Vakuum statt, wird ausschließlich durch die Karriereinteressen Einzelner angetrieben und kaum durch gesellschaftliche oder politische Überlegungen beeinflusst. In den reicheren Ländern öffnet sich eine Schere zwischen den akademisch gebildeten und wissenschaftlich gut informierten Teilen der Bevölkerung, die dem naturwissenschaftlichen Weltbild offen gegenüberstehen, und jenen, die von Begriffen wie »neuronales Korrelat des Bewusstseins« oder »phänomenales Selbstmodell« noch nie etwas gehört haben. Viele Menschen klammern sich an metaphysische Glaubenssysteme und haben Angst, ihre innere Lebenswelt könnte durch die neuen Naturwissenschaften vom menschlichen Geist kolonisiert werden. Auch auf der globalen Ebene öffnet sich die entsprechende Kluft zwischen den entwickelten Ländern und den Schwellenländern immer weiter: Mehr als 80 Prozent der Menschen auf unserem Planeten, besonders diejenigen in den ärmeren Ländern mit stark wachsender Bevölkerung, sind noch fest in vorwissenschaftlichen Kulturen und Weltbildern verwurzelt. Viele von ihnen werden nicht einmal vom neuronalen Korrelat des Bewusstseins oder dem phänomenalen Selbstmodell hören wollen. Ganz besonders für sie wird der Übergang viel zu schnell kommen - und er wird darüber hinaus genau aus den Ländern kommen, die sie in der Vergangenheit systematisch unterdrückt und ausgebeutet haben.

Teil 3