Vorgeblättert

Leseprobe zu Tamta Melaschwili: Abzählen. Teil 2

13.02.2012.
Donnerstag

     He, ihr beiden, was strolcht ihr hier rum? Geht nach Hause! Habt ihr denn keine Angst, dass euch jemand was antut? Seht ihr nicht, was draußen los ist? Die Mädchen von Seinab hat man immer noch nicht gefunden! Sagt Ninzo: Tante Msia, wir sind unterwegs, Spitzwegerich ausstechen. Es wird euch bald nicht mehr danach zumute sein, dir besonders! Murmle ich zwischen den Zähnen: Den Spitzwegerich stechen wir für ihre Großmutter aus, gegen das Wundliegen. Sagt Msia: Jetzt musst du auch noch deinen Senf dazugeben, die eine rennt immer der anderen nach. Was schreist du denn die Kinder an, was ist los? Dodo kommt zum Hoftor raus, den Besen in der Hand. Sagt Msia: Ich schrei sie nicht an, ich warne sie. Draußen ist Krieg, und sie stromern hier herum. Hin und her, hin und her spazieren sie. Sagt Ninzo: Wir sind unterwegs, Spitzwegerich ausstechen. Was für Spitzwegerich?, kommt lieber zum Gottesdienst, ich gehe jetzt hin, aufräumen. Sagt Msia: Was soll ich heute in der Kirche? Ich gehe am Tag der heiligen Maria hin. Du nicht, aber vielleicht helfen mir die Mädchen beim Aufräumen, wenn sie schon so viel Zeit zum Herumschlendern haben. Fragt Msia: Ist der Priester da? Sagt Dodo: Der Priester ist da, er wird die Predigt halten. Wir müssen für den Frieden beten. Und plötzlich sehr milde: Zknapa, mein Kind, willst du nicht im Kirchenchor mitsingen? Uns fehlt die erste Stimme. Sag ich: Natürlich sing ich mit, Tante Dodo. So ists gut, mein Kind, versammeln wir uns alle im Gotteshaus und beten, beten zusammen, damit wir überleben. Gott wird uns retten. Wir müssen für den Frieden und das Leben beten. Und für die Toten auch. Sagt Msia: Verstehst du das, du Gör? Sie schaut Ninzo zornig an. Sie ist ein braves Kind – dabei schaut sie zu mir –, sie geht zur Kirche und singt ab und zu. Und du? Was machst du? Sagt Ninzo: Ich pfleg meine Großmutter. Ihr Gesicht verdüstert sich. Mach dich doch auch sonst mal nützlich. Komm, hilf mir den Kirchhof aufräumen. Gott wirds dir vergelten. Sagt Ninzo: Hab doch gesagt, dass ich Spitzwegerich für meine Oma ausstechen muss. Komm, hilf mir beim Aufräumen, den Spitzwegerich kannst du dann immer noch bringen. Sag ich: Erst bringen wir den Spitzwegerich hin, und dann kommen wir zum Kirchhof. Ich muss das sagen, weil Ninzo vor Wut schon ganz blass ist. Sagt Dodo: Schaut mal, wer da kommt. Sie späht über mich hinweg. Schaut mal, die Blöde. Was schleppt sie denn da? Fragt Msia: Wer ist das? Sie hält sich wegen der Sonne die Hand vor die Augen. Sag ich: Das ist Tebro. Sagt Msia: Kannst du sehen, was sie da anschleppt? Ich kanns von hier nicht erkennen. Sagt Ninzo: Eine Schaufel. Sie schleppt eine Schaufel. Sagt Dodo: Die alte Jungfer war schon immer ein bisschen plemplem. Der Krieg hat ihr jetzt den Rest gegeben. Sagt Dodo: Grüß dich, Tebro, woher kommst du denn? Sagt Tebro: Aus der Schlucht. Sie bleibt stehen, ganz rot im Gesicht. Fragt Ninzo: Aus der Schlucht?, und schaut mich an. Fragt Msia: Warum läufst du mit einer Schaufel herum? Sagt Tebro: In der Schlucht liegt eine Leiche. Sagt Dodo: Das wissen wir auch, es ist aber nicht unsere Leiche. Sagt Tebro, ganz außer Atem: Es ist nicht unsere Leiche, aber sie stinkt. Egal, wessen Leiche das ist, sie gehört unter die Erde. Fragen Ninzo und ich gleichzeitig: Hast du sie begraben? Begraben? Ich? Nein, ich konnte sie nicht anfassen, hab nur etwas Erde drüber geschaufelt. Sagt Ninzo: Ist besser als nichts, wir haben uns auch nicht an sie rangetraut. Sagt Dodo: Wofür schindest du dich denn so, Alte? Die Toten von denen verdienen keine Erde. Sagt Tebro: Tote sind Tote. Bei Toten ist es gleich, ob es unsere sind oder ihre. Sie nimmt ihre Schaufel, schaut weder uns noch die Frauen an und macht sich eilig davon. Sagt Dodo: Die redet immer so wirres Zeug. Den Toten hätte sie besser mal liegen lassen sollen. Sagt Msia: Mensch, die Leiche ist am Verwesen, und dort spielen ja oft die Kinder. Ditos Sohn war neulich auch in der Schlucht. Hast du das nicht gewusst? Die Kinder aus unserem Ort gehen jeden Tag fünfmal dahin, um die Leiche anzugucken. Warum haben sie den Toten nicht irgendwo begraben, warum haben sie ihn liegen lassen? Sagt Dodo: Hätte ihn doch gleich der begraben, der ihn getötet hat. Sagt Ninzo: Lass uns gehn, ich kann das Gelaber nicht mehr hören. Machts gut, sagen wir im Gehen und legen einen Schritt zu. Schreit uns Dodo hinterher: Komm doch auch, Ninzo! Und bring einen Besen mit! Ich warte auf dich! Wir fangen nicht ohne dich an! Sagt Ninzo, ohne sich umzudrehen: Du kannst mich mal. Fragt mich Ninzo nach einer Weile: Und? Wirst du ihr helfen? Sag ich: Die kann uns mal. Wenn sie unbedingt will, sing ich am Tag der heiligen Maria im Chor mit. Sagt Ninzo: He, Zknapi, so hab ich dich am liebsten. Und strahlt dabei übers ganze Gesicht.

                                              *

Mit freundlicher Genehmigung des Unionsverlages
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