Vorgeblättert

Leseprobe zu Stephanie Gleißner: Einen solchen Himmel im Kopf. Teil 2

02.07.2012.
Es kam nie heraus, wer Karl Rieder so zugerichtet hatte. Er hatte sich geweigert, Auskunft zu geben, und man hatte ihn dann auch nicht weiter bedrängt, denn im Grunde wollte man es auch nicht wissen, und der stotternde Karl Rieder, redete man sich heraus, war auch so schon gestraft genug, man musste ihn nicht auch noch mit Reden plagen. Mich hatte diese Gleichgültigkeit aufgeregt. "Das geht doch nicht", hatte ich zu Johanna gesagt, "dem muss nachgegangen werden, auch wenn er das vielleicht nicht will, was ich nicht glaube. Und auch wenn, das geht doch nicht nur ihn was an, wenn einer so zugerichtet
wird."
     "Ja, und genau deswegen will man es auch nicht so genau wissen", sagte Johanna.
     Wir hatten Karl Rieder gefunden, weit hinten auf den wackligen Anschlussblechen zwischen zwei Waggons. Er kauerte vornübergebeugt auf den eingelassenen Stufen. Wir erkannten ihn an seinem khakifarbenen Bundeswehrparka, der bis zur Kapuze hinauf mit Schneematsch vollgesogen war. Er wippte leicht vor und zurück. Johanna fiel, ohne zu zögern, ohne ihn vorher angesprochen zu haben, neben ihm auf die Knie. Sie drückte ihre Knie in den zentimeterdicken Schneematsch, umfasste mit einem Arm seine Schultern, mit der anderen Hand strich sie ihm über das Haar. Es war unangenehm, die beiden zu betrachten, die Intimität von Johannas Gesten beschämte mich. Sie zog seinen Kopf zurück. Er wandte ihr das Gesicht zu - von der Augenbraue quer über die Stirn eine Wunde. Blut lief ihm über die rechte Schläfe und Wange, seine Oberlippe war geplatzt. Johanna hielt seinen Oberkörper im Arm, sein Kopf lag jetzt auf ihrer Brust, sie redete auf ihn ein, leise und beschwörend - "Wo hast du Schmerzen? Wer war das?" -, und als er dann den Mund öffnete und hinter den quellenden Blutblasen die angebrochenen Zähne zu erkennen waren, murmelte sie: "Sch. Sch. Ist ja gut, ist ja gut." Sie zog ihre Lederjacke aus, breitete sie über dem Schneematsch aus und legte dann Karls Oberkörper und sein blutendes Gesicht auf das Lammfellfutter. Dabei rutschten ihm das offene Schulheft und der Zirkel, mit dem er gerade noch eine Mittelsenkrechte konstruiert hatte, von den Oberschenkeln. Johanna hatte meine Anwesenheit vergessen. Sie erschrak, als sie mich an die Wand gelehnt stehen sah, und befahl dann: "Hol den Zugführer, der soll einen Krankenwagen zum Bahnhof kommen lassen."

Johanna hatte nichts mit Karl Rieder zu schaffen, niemand hatte etwas mit ihm zu schaffen, niemand wollte ihn kennenlernen, er interessierte nicht. Er saß bei den Alten auf den Bänken vor der Kirche, und auch sie interessierten sich nicht für ihn, ihnen genügten die Kenndaten einer äußeren Existenz: Vater Kfz-Mechaniker, spezialisiert auf Landwirtschaftsnutzgeräte, Mutter geborene Schwaiger, trägt das Kirchenblatt aus, keine weiteren Kinder. Warum? - Wird halt nicht geklappt haben, wer kann das schon sagen? Verschämtheit, die sofort in Unverschämtheit und Derbheit wechselte. Sie ließen ihn bei sich sitzen, das Reden übernahmen sie, und bald schon bemerkten sie seine Anwesenheit nicht mehr. Das war die Art des Rieder Karl, dass man ihn so schnell nicht mehr bemerkte. Und eine andere Art des Rieder Karl war es, dass, hatte man ihn einmal bemerkt, man sich fragte, was mit ihm gewesen war all die Jahre, in denen man ihn nicht bemerkt hatte. Er hatte etwas Verschlagenes, schaute einem nicht ins Gesicht, sondern seitlich vorbei oder auf den Boden. Und geredet hat er auch nicht, dafür hatte man ja Verständnis, aber er hätte doch auch anders grüßen können, mit einem Blick, einem Nicken. Und wenn er einen dann doch einmal anschaute, dann durchdringend und verachtungsvoll. Ein Blick, wie ich ihn haben würde, wenn ich zurückkehrte ins Hinterland. Es fehlte nur noch, dass er ausspuckte, aber das tat er nie. Meist stierte er gleich wieder zu Boden. Ich mochte Karl Rieder nicht.

Ich war erleichtert, dass Johanna sich damit begnügte, ihn im Arm gehalten, sein ramponiertes Gesicht an ihre Brust gedrückt und sein Blut auf dem Futter ihrer Lederjacke zu haben. Jedenfalls zeigte sie kein Interesse mehr an ihm, nachdem er am Bahnhof auf einer Trage abtransportiert worden war. Wenn sich unsere Wege mit dem von Karl Rieder kreuzten, dann sagte sie: "Hallo, Karl", und das war tatsächlich eine Besonderheit, denn Johanna grüßte immer nur förmlich, und sie nannte dabei nie den Namen des Gegrüßten. Karl Rieder nickte ihr dann zu, was genauso ungewöhnlich war. Es blieb bei diesen kleinen Ungewöhnlichkeiten, darüber hinaus kam es zu keiner weiteren Annäherung zwischen den beiden.


2.

Wir waren auf das Hinterland eingeschworen. Wir kannten jede Hausfassade, kannten die darauf abgebildeten Heiligenlegenden, und die Menschen, die diese Häuser bewohnten, kannten die Verzweigungen ihres Clans, wussten, dass sie eigentlich keinen Sinn für die pastellfarbene Heiligkeit auf ihren Häusern haben, und trotzdem halten sie sie instand seit Jahrhunderten und gehen in die Messe und können auch damit die meiste Zeit nichts anfangen. Sie beten gern und viel, am liebsten immer dasselbe und sehr schnell. Über die Worte, aus denen ihre Gebete zusammengesetzt sind, möchten sie nicht nachdenken. Sie mögen den Rosenkranz ganz besonders und daher auch die Feiertage, an denen sie sich verkleiden und ihn fortwährend skandieren dürfen. Sie mögen den neuen Pfarrer nicht, der sie immerzu ausbremst beim Beten, der nicht richtig singen kann, der zu viel redet.

Wir trafen die Hinterlandbewohner täglich auf ihren Wegen zum Friedhof und Metzger, wir wussten, in welchen Hollywoodschaukeln sie im Hinterland träumten, auf welchen Eckbänken, an welchen Stammtischen sie einschliefen und sich beim Erwachen benommen die Speichelfäden aus den Mundwinkeln wischten. Wir wussten, wenn am Fenster eine Kerze angezündet wurde, wer gestorben war, dass es nicht viel bedeutete, dass man hier kein großes Aufheben um den Tod macht, nur um die Gräber. Wir wussten, wie wir sie zu grüßen hatten, manche schon von weitem, laut und ausführlich mit Fragen nach dem Befinden der übrigen Familienmitglieder, anderen genügte ein leichtes Nicken, auch Johanna wusste das, aber sie hielt sich nicht daran. Sie sorgte mit ihrem "Guten Tag" oft für Verstimmungen. Ob sie denn nicht wisse, wo sie herkomme, fuhren sie die Hinterlandbewohner dann an. Doch Johanna ließ sich davon nicht beeindrucken, sie wusste, wohin sie gehen würde, sie war bereits auf dem Weg dorthin, und dieser Ort lag sicher nicht im Hinterland.

Mit freundlicher Genehmigung des Aufbau Verlages
(Copyright Aufbau Verlag)


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