Vorgeblättert

Leseprobe zu Richard Yates: Ruhestörung. Teil 2

22.03.2010.
Alles wurde etwas besser mit Charlies Ankunft, mit der "Stärkung" und den Stationszigaretten. Das Licht war weniger gleißend, die Schatten waren weniger düster, und es gab neue Entdeckungen zu machen: eine lange Holzbank an einer Wand, weitere Sitzgelegenheiten zwischen den hochgeklappten Betten und sogar ein Platz zum Liegen - vier schmutzige Matratzen auf dem Boden einer Nische am anderen Ende des Flurs, ein gutes Stück weit entfernt von den gehenden Männern. Doch die Gummizellen waren immer noch da, sechs an der Zahl, und in einer lag jetzt die verkrampfte Gestalt des Mannes, der vor dem Frühstück schattengeboxt und geschrien hatte. Er lag da mit vor Empörung geöffnetem Mund, als wollte er auch in seinem Drogenschlaf noch schreien, und in seinem dunklen Haar schimmerte Schweiß.
"Wer hat Dr. Spivack eine Spritze gegeben?", fragte Charlies tiefe Stimme.
"Roscoe, Charlie. Er hat sich wirklich schlimm aufgeführt."
"Was ist mit seiner Hose passiert?"
"Hat sie selbst zerrissen, er wollte wie ein Boxer aussehen. Dann hat er angefangen zu brüllen von wegen Behandlungsfehler und so weiter. Es gab keine andere Möglichkeit, mit ihm fertigzuwerden."
"Das verstehe ich nicht. Ich dachte, er macht sich ganz gut."
"Er hat gute und schlechte Tage, Charlie."
"Mhm." Und Charlie holte erneut seine Schlüssel heraus. "Das Mindeste, was wir tun können, ist, die Tür aufzumachen. Ich möchte nicht, dass er aufwacht und die Tür ist zugesperrt. Er braucht auch einen neuen Schlafanzug."
"Okay, Charlie."
"Ah, Charlie, Sie sind ein Fürst", sagte ein zerbrechlicher lahmer Mann von siebzig Jahren oder mehr. "Ein Fürst unter den Männern. Ich schwöre bei Gott - ich schwöre bei Gott, Sie sind ein Heiliger, Charlie."
"Mr. Foley, ich danke Ihnen für das Kompliment, aber ich habe die Zigaretten schon verteilt und weiß zufälligerweise, dass Sie eine bekommen haben, weil Sie versucht haben, zwei zu nehmen."
"Ach, liebe Muttergottes, wie können Sie nur an Zigaretten denken? Ich brauche spirituelle Hilfe, Charlie. Spirituelle Hilfe."
"Dafür bin ich nicht der Richtige. Warum setzen Sie sich nicht eine Weile hin? Ich muss mich noch um andere Leute kümmern. Sie, Sir, sind Sie einer der Neuen? Wie heißen Sie?"
"Wilder. John Wilder."
"Haben Sie Ihre Stärkung genommen, Mr. Wilder?"
"Ja, 'Stärkung' ", sagte der alte Mann. "Wissen Sie, was das ist? Es ist Formaldehyd."
"Jetzt ist es genug, Mr. Foley, gehen Sie weiter." Dann sagte er: "Es ist Paraldehyd, Mr. Wilder. Sie bekommen es dreimal am Tag, es ist sehr gut für Sie. Beruhigt Ihre Nerven."
"Ich verstehe. Und sind Sie der Stationspfleger oder - oder was?"
"Ich bin eine männliche Krankenschwester. Es hat immer einer Dienst. Meine Schicht ist von acht bis fünf."
"Aha. Also, hören Sie, es ist sehr wichtig, dass ich so bald wie möglich telefonieren ka - "
"Oh, nein, Mr. Wilder, Sie werden hier nicht telefonieren."
"Also, wie schnell - ich meine, wann kann ich mit einem Arzt sprechen?"
Und da erfuhr er, dass die Psychiater erst am Dienstag wiederkämen, dass es durchaus Donnerstag werden könnte, bis sie mit ihm sprechen würden, und dass danach die Länge seines Aufenthalts von ihrer Entscheidung abhinge. "Deswegen schlage ich vor", sagte Charlie, "dass Sie versuchen, es sich in der Zwischenzeit hier gemütlich zu machen."
Er schlenderte träge davon, weitere Bittsteller im Schlepptau, und Wilder stand da und sah ihm eine scheinbar unerträglich lange Zeit nach. "Gemütlich", sagte er, und dann ging er ihm plötzlich hinterher, lief, trat wieder in Schleim und war selbst überrascht, dass seine Stimme so schrill klang: "Gemütlich in dieser Scheißanstalt? Haben Sie komplett den Verstand verloren?"
Charlie wandte sich um, mit einem langen, warnend erhobenen Zeigefinger die plappernden Männer hoch überragend. "Mr. Wilder. Ich ermahne Sie jetzt, nicht zu schreien und sich zu beherrschen. Ich möchte es nicht noch einmal sagen müssen."
Gelb und grün und braun und schwarz; schwarz und braun und grün und gelb. Die einzige Möglichkeit, die Geräusche und Gerüche auszublenden, bestand darin, sich auf die Farben zu konzentrieren und einen Fuß vor den anderen zu setzen. An der Latrine vorbei bis zu der Stelle, wo der Polizist saß, umkehren, am Speisesaal vorbei bis zum anderen Ende, umkehren. Ein kleiner Mann konnte sich unbemerkt in einer Menge wie dieser bewegen, wenn er den Mund hielt, den Blick nach vorn richtete und die Arme an den Körper presste, um niemanden zu streifen. Er konnte regelmäßig atmen und sich mit sich selbst beraten; er konnte sogar in Tränen ausbrechen, wenn er es lautlos tat, und niemand würde ihn bemerken.
Statt zu weinen, setzte er sich auf den einzigen freien Platz auf einer Bank im Flur, und eine braune Hand legte sich ihm auf den Oberschenkel.
"Es ist in Ordnung."
"Was?"
"Es ist in Ordnung. Du kannst mich küssen, wenn du möchtest, aber nur wenn du zuerst 'Ich liebe dich' sagst."
Er stand auf und setzte wieder einen Fuß vor den anderen, und er hatte drei Runden durch die Station gedreht, als er eine freie Matratze in der Nische am Ende fand. Sitzen war besser als Gehen, und Liegen war noch besser, auch wenn er dabei tief in dem Geruch nach Schweiß und stinkenden Füßen versank. Er wand sich und brach mit dem Gesicht nach unten zusammen - zum Teufel mit allem -, und er schlief sogar eine Weile oder glaubte es zumindest, bis er die Augen öffnete und sah, dass die Männer, die neben ihm lagen, masturbierten.
Nach dem Mittagessen wurde wieder "Stärkung, meine Herren!'" gerufen und eine weitere Runde Stationszigaretten verteilt, und dann reihte er sich neben Dr. Spivack in die Schlange der gehenden Männer ein. Zuerst erkannte er ihn nicht, weil er einen frischen Schlafanzug trug und sich das Haar gekämmt hatte und sein verkniffenes, höhnisches Gesicht keinerlei Anzeichen von Hysterie aufwies.
"Sie sind gestern Abend eingeliefert worden?"
"Ja."
"Die Hälfte der armen Kerle hier weiß nicht einmal, wo sie sind. Wissen Sie, wo Sie sind?"
"Bellevue."
"Da müssen Sie schon etwas genauer werden, Kumpel.
Das Krankenhaus Bellevue ist eine große öffentliche medizinische Institution. Es ist - "
"Okay, auf der psychiatrischen Station."
"Und Sie glauben ernsthaft, dass es davon nur eine gibt? Mein Gott, Mann, im Bellevue gibt es einen ganzen psychiatrischen Gebäudeflügel. Sieben Stockwerke, eines schlimmer als das darunter, und das hier ist das oberste. Das Schlimmste. Die Station für gewalttätige Männer. Sind Sie blind? Sehen Sie die Clowns in den Zwangsjacken nicht? Sehen Sie den Polizisten nicht? Hier muss immer ein Polizist Dienst schieben, weil ein paar von den Insassen Fälle für die Polizei sind. Verbrecher. Niemand weiß, wer, ich glaube, nicht einmal die Pfleger wissen es. Ich glaube, nicht einmal Charlie weiß es." Er war so forsch ausgeschritten, dass Wilder stolpern und hasten musste, um mit ihm mitzuhalten, doch jetzt blieb Spivack wie angewurzelt stehen, packte Wilder am Arm, drehte ihn zu sich und hielt ihm einen steifen Zeigefinger vors Gesicht. "Was ist mit Ihnen? Sind Sie ein Fall für die Polizei?"
"Nein: Wie wär's, wenn Sie meinen Arm loslassen?"
Spivack lachte und boxte ihn gegen die Schulter. Es sollte wohl ein kameradschaftlicher Stups sein, doch es tat weh. "War nur Spaß, ich hab Ihrem Gesicht angesehen, dass Sie okay sind. Wissen Sie, wie Sie aussehen? Wie ein kleiner Junge, der in einem Kaufhaus seine Mama verloren hat. Wie heißen Sie?"
Und Dr. Spivack redete mindestens eine Stunde lang, während er Wilder durch die Männer zu beiden Seiten des Korridors hindurch dirigierte. Nur hin und wieder blieb er stehen, um ihm kleine Ratschläge zu geben - "Legen Sie sich niemals dort hin, außer Sie können wirklich nicht anders", sagte er über die Nische mit den Matratzen, "das ist die Abspritz-Ecke" -, und was er erzählte, war überwiegend autobiografisch.
Er stammte aus einer, wie er es nannte, Medizinerfamilie. Alle seine männlichen Vorfahren waren berühmte Ärzte in Deutschland gewesen, bis sein Vater in den dreißiger Jahren mit seiner Familie nach Amerika floh. Sein ältester Bruder war "Spitze: ein erstklassiger Herzspezialist im Cornell Medical Center", und der zweite hatte es auch geschafft, obwohl er nicht der hellste Kopf der Welt war; er war Radiologe im Mount Sinai - "Wissen Sie, er ist dumm, aber so, dass man es nicht merkt. Und er ist mit dem glorreichsten Stück Arsch verheiratet, das Sie jemals gesehen haben, mit diesem großen blonden Mädchen spotten." Dann folgte seine Schwester, die mit einem Psychiater verheiratet war - und war das nicht völlig irre? Seine eigene Schwester, Herrgott noch mal, verheiratet mit einem dieser Sigmund-Freud-Freaks? Und dann kam der jüngste Sohn, der Lieblingssohn, seine eigene Wenigkeit.
"Mann, was habe ich alles durchgemacht, als wir hierherkamen. Meine Mutter starb, in der Schule nannten sie mich Jammerjude und schlugen mir ein paarmal die Nase blutig, aber keine Sorge, ich versuche nicht, auf die Tränendrüse zu drücken. Ich hab immer gewusst, ich würde es schaffen, und so war es auch. Sexprobleme hatte ich auch nie. Hab nie gedacht, dass ich schwul bin oder so. Meine Jungfräulichkeit ging mit fünfzehn am Strand von Far Rockaway drauf, und seitdem schwelge ich in Mösen. Schwelge darin. Sind Sie verheiratet, Wilder?"
"Ja."
"Na ja, manchen Leuten scheint das zu reichen, aber ich will verdammt sein, wenn mich irgendeine Frau an die Angel kriegt, bevor ich dafür bereit bin. Was machen Sie beruflich? "
"Ich verkaufe."
"Ja? Komisch. Sie sehen schlauer aus. Ich dachte immer, Verkäufer sind Knallköpfe. Was verkaufen Sie?"
"Platz."
Der Arzt wich erstaunt zurück. "Himmel, gibt es denn nichts mehr umsonst auf dieser Welt? Sie verkaufen Platz? Was für Platz? Auf der Erde oder im Himmel?"
"Sie wissen schon", sagte Wilder. "Platz für Anzeigen. In einer Zeitschrift."
"Ach so, ich verstehe. Platz für Anzeigen. Für welche Zeitschrift?"
"The American Scientist."
"Im Ernst? Beeindruckend. Die veröffentlichen manchmal ziemlich abstruses, schwieriges Zeug. Wenn Sie das verstehen, müssen Sie ziemlich - "
"Ich verstehe es nicht. Ich verkaufe es nur."
"Wie können Sie etwas verkaufen, was Sie nicht verstehen?"
"Machen Psychiater das nicht auch so?"
Und das brachte ihm einen weiteren schmerzhaften Stoß und lautes Lachen seitens Spivacks ein. "Sie sind in Ordnung, Wilder", sagte er. "Wie auch immer, ich wusste, ich würde es schaffen, und so war es. Glatte Einsen im College und in der Uni, dann habe ich mein Praxisjahr im Johns Hopkins absolviert, und vor zwei Jahren kam ich als Assistenzarzt hierher. Ich bin Internist. Ich dachte, es wäre eine Ehre, im Bellevue zu arbeiten, und meine Familie hat das auch gedacht. Und ich war verdammt gut. Das ist keine Angeberei: Ich bin zufälligerweise ein hervorragender Arzt, das ist alles. Und dann, wumm!, das alte Doppelspiel der Verwaltung, und schauen Sie nur, wo ich gelandet bin. Und da soll noch einer was von Ironie des Schicksals faseln, was?"
Wilder hätte gern mehr über das alte Doppelspiel der Verwaltung gehört, hütete sich jedoch davor, nachzufragen; und als Spivack wieder zu sprechen begann, hatte er das Thema gewechselt.
"Wo wir schon bei den Schwulen sind", sagte er, "ist Ihnen aufgefallen, dass es auf der Station nur so wimmelt von denen? Schwuchteln, Drogensüchtige, abgestürzte Alkoholiker. Und noch etwas: Haben Sie das Rette-mich-Gerede bemerkt? 'Rette mich, Kumpel' und so? Angeblich soll es um Zigaretten gehen - sie wollen, dass du ihnen die Kippe aufhebst, wenn du fertig geraucht hast -, aber tatsächlich ist es so was wie ein bescheuertes Gebet, denn sogar Typen, die gar nicht rauchen, sagen es. Sie wollen errettet werden. Hier gibt's jede Menge religiöser Irrer. Da ist ein Mann, der glaubt, dass er der Messias ist. Wahrscheinlich ist er da nicht der Einzige - die Wahnvorstellung ist ziemlich weit verbreitet -, aber der Typ ist unglaublich amüsant. Meistens bleibt er für sich, aber hin und wieder zieht er eine Schau ab. Bleiben Sie in der Nähe, Sie werden es erleben. He, und noch was: Ist Ihnen schon aufgefallen, dass sie hier nur Bimbos einstellen? Wissen Sie, warum?"
"Nein. Warum?"
"Was denken Sie denn? Weil sie so 'sanft' sind oder so 'freundlich'? Ja, klar, sie haben auch ein angeborenes Gespür für Rhythmus. Sie haben Angst vor Gespenstern, und sie sind verrückt nach Wassermelonen. Was zum Teufel sind Sie, von gestern? Der Grund ist, dass kein Weißer für das Geld hier arbeiten würde. Wissen Sie, was so jemand verdient? Sogar so jemand wie unser Charlie dort? Hm?"
"Entschuldigen Sie, Mr. Wilder", sagte Charlie und versperrte ihnen den Weg. "Ihr Schlafanzug passt Ihnen nicht richtig, oder?"
"Nein, ich - Nein, er passt nicht."

Teil 3