Vorgeblättert

Leseprobe zu Peter Nadas: Parallelgeschichten. Teil 2

26.01.2012.
Ich zog mich in die dunkle Ecke des Rücksitzes zurück.
Sein schmaler, jungenhafter Nacken war mir näher, nicht nur im physischen Sinn des Wortes. Dichtes dickfädiges, glänzendes schwarzes Haar hing darauf herunter. Von dort strahlte diese verschreckte Befriedigung ab. Nicht nur sein Ledermantel hatte einen schweren Geruch, sondern aus seinem ganzen Körper kam der Duft der Schwarzhaarigen. Ich bedauerte und beneidete ihn und hasste diese Frau, die ihn so behandelte. Ich verstand überhaupt nicht, was sie voneinander wollten und was mit mir geschehen würde. Da war keine Tür, durch die ich mit meiner Anteilnahme für den Mann still hinausspazieren konnte, ich war in der Anziehungskraft der Frau gefangen. Eigentlich wollte ich eher wegen der beiden aussteigen, nicht meinetwegen. Er hatte den Beweis für eine ungute Vorahnung geliefert bekommen, so viel jedenfalls ließ sich nachvollziehen. Das bereitete ihm Freude. Vielleicht verlor er andererseits tatsächlich etwas, aber dieser greifbare Beweis war wichtiger, war die Wahrheit, die vollständige, nackte Wahrheit, der er jetzt ins Auge blicken konnte.
Nicht das Glück, sondern die Wahrheit war ihm wichtig. Die Frau war die Stärkere und Mächtigere, ja, aber die Wahrheit war auf seiner Seite, recht hatte er, und so blieb er unbeugsam. Und auch wenn sie beide jetzt starben, die vollständige Wahrheit war nunmehr für alle Zeiten in seiner Hand.
Was vorher als Hochmut, Zank und Prahlerei dahergekommen war, nahm jetzt in der langen Stille eine andere Gestalt an. Ich spielte nicht einmal in dem Sinn eine Rolle, dass sie mir irgendetwas vormachen oder vor mir verbergen mussten. Ich glaube, sie hatten völlig vergessen, dass ich hinter ihnen im Dunkeln saß. Darin lag etwas ganz Unbekanntes, Ungewohntes, so etwas war mir noch nie zugestoßen. Der Mann war nicht mehr aufgebracht, sie hatten beide ihre Gefühle rasch zurückgenommen. Auf dem Rücksitz zusammengekauert, kam ich nicht vom Gedanken los, dass das meinetwegen so abgelaufen war. Sie blieben im Dunkeln sich selbst überlassen, jeder führte die Diskussion für sich fort. Der ursprüngliche Gegenstand ihres Streits war belanglos geworden, jetzt lieferten jede kleine Regung oder auch gerade die Reglosigkeit und das unerträgliche Schweigen des anderen neuen Stoff für die innere Auseinandersetzung. Sie hatten nicht nur mich vergessen, sondern auch den Wind, der durch die offene Wagentür den Sprühregen ungehindert weiter hereinfegte.
Ich war wütend, warum hatte sie mich da hineingezogen. Sie hatte doch voraussehen müssen, wie die Sache laufen würde. Wieso musste ich das mitmachen, und überhaupt, was würde zwischen ihnen noch passieren. Wer würde der Glückliche sein, der dem anderen das erste Wort abtrotzte, wer der Sieger, wer würde die im Schweigen aufgestaute Irritation auf geschicktere Art heimlich freilassen. Die Straße schimmerte schwarz im spärlichen Laternenlicht. Zart, müde, gelb fiel etwas davon durch die regengesprenkelten Scheiben des Wagens herein. Das Kirchentor wurde von innen dröhnend geschlossen, der Schlüssel quietschte im Schloss. Von meinem Platz aus konnte ich ihr Profil ausmachen, das Dröhnen ließ es erzittern, wegen des Quietschens vibrierten ihre Wimpern, sie verabschiedete sich von ihrem Bruder, von der verpassten Theologie, für heute war genug der Philosophie. Für nichts hätte sie den Mann angeblickt, mich schon gar nicht. Und ich durfte mich über ihre Schamlosigkeit aufregen. Dass sie mit ihrem Ehekrach nicht warten konnten, bis ich weg war. Aber wie hätte ich weggehen können. Auch ich führte bei mir meine eigene stupide Diskussion. Ich wollte die Frau beleidigen, wollte sie im Verdacht haben, dass sie mich benutzte, um ihren Mann eifersüchtig zu machen. Ich hätte es gern ausgesprochen. Bestimmt habe sie mehr als genug zu beichten. Hauptsächlich ihre verdammte Doppelzüngigkeit und Heuchelei, die benimmt sich wie eine abgebrühte Dame der höheren Schicht, eine wohldressierte höhere Tochter. Mir gesteht sie keine zehn Minuten zu, ihr Mann genügt ihr nicht, aber für die Kirche, da hätte sie Zeit, für die Theologie, auch wenn das Flitterding nach eigener Angabe in Sünde lebt, und was soll dann das alles. Dass ich schon wieder auf eine solche idiotische Frau hereinfalle. Bei solchen armseligen inneren Monologen wird man natürlich noch einsamer, verheddert sich immer stärker in den Tang seiner Irritationen. Es war auch komisch, dass mich mit dem Nacken des unbekannten Mannes jetzt schon mehr körperliche Gefühle verbanden als mit der Frau, dieser Hure, und ich dennoch alles daran maß, wie sie auf das reagierte, was geschah.
Das glänzende Profil ihres Gesichts ließ natürlich auf nichts eine Antwort erkennen, weder auf Zweifel noch auf Anklagen. Ihre reglosen Wimpern, die Nase mit den starken Flügeln, ihre vollen Lippen, ihr weiches Kinn waren wie eine mondbeschienene Berglandschaft, die von der Außenwelt höchstens gestreift wurde; und ihre Antwort war nach wie vor gleichgültiges Schweigen.
Überhaupt schien ich sie bei jedem einzelnen Mal, wenn ich sie anschaute, zum ersten Mal zu sehen. Sie hatte viele Gesichter. Ich musste mich daran gewöhnen, dass ich immer nur eins sah, und das hatte nichts Physisches. Nicht einmal Anziehung war im Spiel, da ich ja nicht wissen konnte, welches ihrer vielen unbekannten Gesichter mich gerade erwartete. Und Anziehung muss in irgendeiner Art von Sicherheit gründen. Die Frau, die ich hier im Auto auf dem Vordersitz sah, hatte nicht viel mit der Frau gemein, die ich im Lokal hinter der Kaffeemaschine im hochzischenden Dampf gesehen oder mit der ich mich gerade auf der Straße gezankt hatte. Ich weiß nicht, wie sie das machte. Ich war völlig damit beschäftigt, sie insgeheim zu beschimpfen und ihren Anblick zu studieren, ihre Schönheit weitete mir noch immer die Brust, auch wenn ich nicht die geringste Vorstellung davon hatte, was ich von einer solchen Schönheit lernen konnte, und noch weniger begriff, warum ich ihr so ausgeliefert war. Was für ein Irrwitz. Meine Lage schien ziemlich aussichtslos, ich hatte keine Ahnung, wie ich mich befreien könnte.
Jetzt konnte ich sie also nach Herzenslust betrachten, beschnüffeln, verantwortungslos, schonungslos, aber gerade in dieser unbezähmbaren und lächerlichen Sehnsucht war ich eingeschlossen. Man möchte ausbrechen, während die Befriedigung gerade daher rührt, dass man das nicht kann. Und so war es wirklich mein Körper, der den Mann verstand, als er diese Frau nicht länger ertrug und gegen seine Absicht die Reglosigkeit aufgeben musste. An seiner Stelle hätte ich dasselbe getan. Er kapitulierte nicht vollständig, er begann in seinen Taschen zu kramen, aber trotzdem, er tat etwas, und das verriet Schwäche, Ausgeliefertsein, Wankelmütigkeit. Ich war nicht weniger ausgeliefert, nur fand ich nicht einmal einen Vorwand, sie hatte mich mit ihrer Willkür völlig gelähmt. Er legte ihr etwas, einen Gegenstand, ein heimliches Geschenk, ich sah es nicht, in den Schoß.
Du bist ja verrückt geworden, bist völlig verrückt geworden, rief sie.
Ja, das scheint mir auch, sagte er.
Dann musste er auch noch über ihre Knie hinweggreifen, um etwas aus dem Handschuhfach zu holen. Wahrscheinlich wollte er sich eine anzünden, fand aber dort keine einzige verdammte Scheißzigarette, und um doch etwas zu tun, sich nicht so zu erniedrigen, stellte er wütend die Scheibenwischer ab.
Dann könnten wir vielleicht doch losfahren, Simon, sagte die Frau und ließ den bewussten Gegenstand in der Tasche verschwinden.
Er gab seine Schwäche bereitwillig zu, was sie wahrscheinlich immer wieder mit neuer Unbarmherzigkeit erwiderte.
Was heißt, vielleicht doch, kannst du mir sagen, was das bedeuten soll.
Statt hier zu hocken.
Wenn du so gütig wärst, die Tür zu schließen, könnten wir vielleicht tatsächlich losfahren, Klara.
Das brauchst du nicht zweimal zu sagen, Simon.
Dass sie sich beim Namen nannten, geschah offensichtlich immer noch aus Verärgerung. Es schien zu heißen, was immer geschieht, wir dürfen und werden die Geduld nicht verlieren. Auch wenn sie die Geduld schon längst verloren hatten, und überhaupt stellten sie ja die Geduld des anderen auf die Probe. Wahrscheinlich war auch das ein eingeübtes Spiel zwischen ihnen. Der eine tat, als sei seine Geduld unerschöpflich, was dem anderen den Kragen platzen ließ. Obendrein fand er seine Zigaretten nicht, während sie ihre Wut schön abreagieren konnte, indem sie die Tür laut zuknallte. Trotzdem geschah nichts. Er fuhr nicht los.
Sie blickten beide nach vorn, abweisend und reglos. Jetzt hätte sie ihre Niederlage irgendwie kompensieren müssen oder das Ganze aufgeben, aber keiner der beiden durfte das.
Darf ich mich erkundigen, Klara, fragte er ganz still und verstummte.
Dann brüllte er aus Leibeskräften ins Dunkel hinaus, an welchen Fotzenort du mich hinbefiehlst. Befiehl mir, befiehl. Du weißt ja, ich erfülle dir jeden Wunsch.
Statt zu antworten, wandte sie sich rasch um und warf mir einen kurzen Blick zu, als wolle sie sich in dieser unmöglichen Lage doch vergewissern, dass ich noch da war, auch wenn sie mich überhaupt nicht vergessen hatte. Ich hatte in meinem Leben noch nie gehört, auch noch nie gedacht, dass ein Mann so zu einer Frau sprechen darf. So etwas kam nicht einmal in Romanen oder Filmen vor. Tatsächlich aber beschäftigte sie sich nicht mit mir. Mit ihrem Blick verriet sie zwar ihre Scham, dass ich hierhergeraten war, als hier festsitzender Ohren- und Augenzeuge der Szene, aber trotzdem führte sie ihren Sanftheitsangriff schamlos weiter.
Ich hoffe ehrlich, sagte sie leise, dass du nicht deshalb so bezaubernd freundlich bist, weil ich dich irgendwie beleidigt habe.
Im Gegenteil, sagte er nicht weniger leise, es gereicht mir immer zur Freude, deine Aufmerksamkeit erwidern zu dürfen.
Wahrscheinlich hast du dir die feinen Manieren in der Schlacht um Woronesch angeeignet.
Ich hätte sie gern an der Sorbonne erworben, wenn ich gewusst hätte, dass ich mit so vornehmen Persönlichkeiten zu tun haben würde.
Ich finde es toll, mit Kneipenbrüdern im Kontakt zu sein.
Ich hingegen kann deine Klasse nicht ausstehen.
Na, was du nicht sagst.
Sie blickten sich an und fanden es lustvoll, man kann es nicht anders sagen. Zwei trotzige, starrsinnige, wütende Profile, zwei großartige Mähnen, zweimal Selbsthass, sogar ich fand es lustvoll, sie in ihrer Wildheit zu sehen.
Dann sag mir doch, Lieber, was los ist, was ist los, mein Einziger, was, was ist los, wiederholte sie immer gröber, schärfer und mit gleichmäßig zunehmendem Stimmvolumen, wie jemand, der endgültig genug hat und durchdrehen würde, falls er sich nicht mit Hysterie Luft verschaffen kann.
Trotzdem nahm sie den drohenden Ton gleich wieder zurück, war fähig dazu. Ich wollte wirklich nicht spotten, sagte sie, wieder leise. Ich möchte nur, dass du dich ein wenig beruhigst. Das ist alles.
Du hast meine Frage nicht beantwortet.
Ich habe aber die Tür ordentlich zugemacht.
Sehr löblich.
Ich bin ja ein braves Mädchen.
Und du meinst, damit sei alles erledigt.
Ich weiß nicht, was ich sonst noch tun könnte, damit wir fortkommen, sagte sie mit einem rohen Grinsen.
Dass ich vergesse, darauf hoffst du, dass ich vergesse und alles vergebe.
Es gibt nichts zu vergessen, mein Süßer und Einziger, nichts zu vergeben.
Sie sahen sich lange an, als spielten beide auf einem besonderen Instrument, zwei voneinander bezauberte, stolze Menschenköpfe. Ihrer Kopfhaltung war anzusehen, dass ihnen, was immer sie für- oder gegeneinander taten, die kreativen Einfälle nie ausgehen würden. Wieder musste zuerst er aufgeben, ihr Grinsen hatte ihn angesteckt, auch wenn er sich zwang, sich mit ernster Miene noch einige Augenblicke dagegen zu wehren. Wie zwei Lausebengel am Ende eines gemeinsamen Streichs lachten sie gleichzeitig kurz und leise auf. Das Lachen half ihm bestimmt über die erneute Niederlage hinweg. Es schmerzte mich, die beiden zusammen lachen zu hören. Als sagten sie, das haben wir wirklich gut gemacht, aber unser gemeinsamer Erfolg bedeutet, dass der Wunsch nach Glück stärker ist als der nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Und so war doch wieder er mit seiner Suche nach Wahrheit der Verlierer, sie mit ihrer Suche nach Glück die Siegerin. Ihre Anziehung war so stark, dass ich ihr nicht widerstehen konnte. Ich spürte die Niederlage des Mannes in meinem Schwanz, der vor Angst zusammengeschrumpelt und an die Unterhose geklebt war, aber doch vor Verlangen leise sickerte. Dann beugte sie sich zart über ihn und wollte ihn vor meiner Nase auf den Mund küssen. Und ich auf dem harten, fürs Gepäck gedachten Rücksitz wusste nicht, was ich tun sollte.
Sie berührte ihn nur flüchtig, wich erschrocken zurück, auf ihrem Gesicht sah ich echte Betroffenheit.
Du hast getrunken, rief sie verzweifelt wie ein Kind, was darauf deutete, dass er schon wieder ein Versprechen nicht eingehalten hatte.
Ja, einen Wodka, stimmt. Es war nicht zu vermeiden.
Nicht nur einen, ich riech?s doch.
Nur damit du zufrieden bist, kann ich nicht mehr sagen als was stimmt.
Dann sei so lieb und bring mich nach Hause.
Und ich soll allein hingehen.
Allein oder mit sonst jemandem. Wohin du willst, und wie immer es dir passt.

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