Vorgeblättert

Leseprobe zu Nicole Nottelmann: Die Karrieren der Vicki Baum. Teil 2

22.02.2007.
Am 24. Januar 1888, fast auf den Tag genau zehn Monate nach der Hochzeit, wurde Vicki Baum geboren. Ihren eigenen Worten zufolge verlief die Hausgeburt nicht ohne Komplikationen. Zwar kann man davon ausgehen, dass Mathilde ? anders als die Wiener Arbeiterfrauen, die in entsetzlichen Gebäranstalten unter miserablen hygienischen Bedingungen entbinden mussten ? sehr gut betreut wurde. Dennoch ging diese Niederkunft, wie damals noch jede, mit einem hohen, unkalkulierbaren Risiko einher. Bei Mathilde setzte eine Nachblutung ein, sodass die Hebamme einen Arzt rufen musste. Die entkräftete Wöchnerin überlebte den nasskalten, stürmischen Geburtstag ihrer Tochter zwar, doch wollte oder konnte sie danach keine weiteren Kinder empfangen. Vicki war also etwas Zeituntypisches, ein Einzelkind.

Als sie heranwuchs, erspürte sie mit kindlichem Instinkt die Spannungen zwischen ihren Eltern, die feindselige Ablehnung ihrer damals noch vergötterten Mutter gegenüber ihrem Vater, einem Haustyrannen, wie er in den bürgerlichen Familien der Jahrhundertwende freilich keine Ausnahme, sondern eher die Regel war. In ihren autobiographischen Anmerkungen, den wenigen brieflichen Äußerungen und ihren literarischen Versuchen zum Thema zeichnete Vicki Baum das Bild eines zwanghaften, eigenbrötlerischen, zuweilen exzentrischen, dabei extrem "preußischen " Mannes. In Hermann Baum schien ein unterschwelliger Zorn zu gären, der sich beim kleinsten Anlass ein Ventil suchte. Äußerlich ging sein alltägliches Bestreben darauf, nicht aufzufallen und sich anzupassen. Dessen ungeachtet - oder gerade deshalb - eckte er überall an. In Hermanns Welt drehte sich schon von Berufs wegen alles um das Materielle, Greif- und Zählbare. Mathilde musste ihm jeden Samstag ihre Rechnungsbücher vorlegen, was, ihrer Tochter zufolge, zu "endlosen Streitereien" zwischen den Eheleuten führte.

Vicki fühlte sich von ihm nie angenommen. Wie so viele Väter in seiner Zeit konnte Hermann mit einem Kind nichts anfangen, schon gar nichts mit einer erstgeborenen Tochter. Und tatsächlich hatte er sich so sehr einen Sohn gewünscht, den er "Viktor" nennen wollte, dass er nach der Geburt seiner Tochter ganze zehn Tage brauchte, bis er den Namen "Hedwig" für sie ins Geburtsbuch der Israelitischen Kultusgemeinde eintragen ließ. "Hedwig" selbst hasste ihren Namen und ließ sich später im privaten Kreis lieber mit dem androgynen "Vicki" oder "Vickerl" rufen.

Mathilde glitt während der Ehe immer mehr in eine Depression hinein. Vermutlich war Vickis Geburt das entscheidende traumatische Moment, das ihr die Endgültigkeit ihrer unerträglichen Situation verdeutlichte. Was Mathilde Baum für ihre Tochter empfand, wissen wir nicht, doch Vickis Gefühle in der Lebensphase zwischen fünf und sieben Jahren kennen wir aus Frühe Schatten und Meine Mutter. Ihr erschien die abgemagerte Mathilde ätherisch und beinahe unwirklich schön. Manchmal überschüttete ihre Mutter sie mit Zärtlichkeiten, steckte sie in farbenfrohe gerüschte Seidenkleidchen und staffierte sie mit passenden kleinen Sonnenschirmen aus. Sie kämmte morgens Vickis widerspenstiges, dickes Haar, flocht es ihr zu schweren Zöpfen um den Kopf und verzierte es mit lustigen bunten Bändern. Dann wieder war Mathilde unzugänglich, körperlich zwar anwesend, aber im Geiste weit entfernt, und flüchtete sich in Tagträume, reagierte unwirsch, wenn Vicki ihre Wange streicheln wollte.(9) Mathilde häkelte jetzt "endlose Meterrollen einer feinen Hemdspitze", saß stundenlang auf dem blauen Sofa im Salon, ließ ihre lange Perlenkette durch ihre Hände gleiten und starrte vor sich hin. Vicki, neben ihr, mochte sich kaum rühren oder sprechen, aus Furcht, ihre zarte "Muttel" "nervös" zu machen.

Obwohl Vicki Baum ihn erst mit vierzig Jahren zu Papier brachte, lässt der autobiographische Bericht Meine Mutter erahnen, wie verzweifelt sie als Kind mit Geschenken um die Zuneigung ihrer Mutter warb und wie sehr sie sich nach der Erwiderung ihrer Gefühle gesehnt haben muss. Wenn es galt, sich drollige Präsente für Mathildes Geburtstag oder zu Weihnachten auszudenken, kannte Vickis Phantasie keine Grenzen: Sie pflückte Blumen, die sie überall in der Wohnung verteilte, oder klebte als Perlenersatz angelutschte Drops auf Mathildes Kopfkissen. Aber sie konnte es ihrer Mutter nicht recht machen. Vicki verdoppelte daraufhin ihre Anstrengungen und verehrte ihr als Nächstes einen selbstgestrickten Topflappen, aus dem noch die Fäden heraushingen. Wieder war die Mutter nur "schwach gerührt": "Mit ergebenem Lächeln ließ sie die 'Missgeburt' auf dem Tisch liegen und sagte erklärend zu unseren Gästen: Es ist die erste Handarbeit ? das Kind hat es gestrickt'", schrieb Vicki Baum. Daraufhin habe sie "dunkel die Notwendigkeit" gespürt, "geglücktere Dinge" zu schenken. Also nahm sie sich als Nächstes das Porträt von Mathildes Lieblingstante vor. Sie bemalte den schlichten Kirschholzrahmen mit Goldlack und beklebte ihn mit Grießkörnern und Muscheln, wie sie es im Hausfrauenblatt Herzblättchens Zeitvertreib gesehen hatte. Wieder keine Reaktion von Mathilde. Als sich Vicki zu Mutters Geburtstag vier Zähne ausriss, um an die ausgelobte Prämie von fünfzig Kreuzern pro Zahn zu gelangen und ihr dafür zwei goldbestrichene Teller vom Neunzigkreuzerbasar zu kaufen, "rührte" das Mathilde immerhin zu Tränen. Doch als Vicki auf die Idee kam, den ganzen Salon, die Tischbeine, Vasen, den Palmenständer, den Kohleneimer, den Ofen, die Empireuhr und Mathildes Lieblingsstück, eine patinabesetzte griechische Statue, mit einer Mischung aus Goldbronze, Terpentin und Deckgrün zu verschönern, verlor Mathilde die Fassung. Ohne jede weitere Erklärung verbannte sie weinend alle Geschenke aus der Wohnung. Jahre später, so berichtete Vicki Baum, fand sie beim Aufräumen in Mathildes Schränken die "Gräuel" ihrer Kindheit wieder: "alle sauber gehalten, mit Seidenpapier verpackt, mit Bändchen gebunden, mit Zettelchen versehen, auf denen das Datum stand, treu und vergilbt, erst da begriff ich, dass meine erste große Liebe erwidert worden war... ?".

Meine Mutter erzählt nicht nur von einem nicht wiedergutzumachenden, tragischen Missverständnis. Diese Geschichte illustriert auch die Art, mit der Vicki Baum als Erwachsene über ihre Kindheit reflektierte. Es ist die Art, wie sie auch als Schriftstellerin mit ihren Figuren umging: distanziert, aber nicht ohne Pathos, ironisch, also immer mit leisem Mitgefühl für sich selbst und andere.

Mathilde Baums körperlicher, zunächst aber vor allem seelischer Niedergang erreichte im Winter 1895/96 einen traurigen Höhepunkt. Die "Weinkrämpfe, Wutanfälle, konvulsivischen Zuckungen und Schreie"(10), die ihre Tochter später beschreiben sollte, deuten darauf hin, dass Mathilde an einer pathologischen Hysterie litt, einer Zeitkrankheit, die sich in Gereiztheit, Apathie sowie auch in Depressionen äußern konnte. Für viele Frauen aus dem Bürgertum war eine solche Flucht in die Krankheit die einzig mögliche Reaktionsform gegen den "goldenen Käfig", in den sie von einer patriarchalen Gesellschaft gesperrt wurden.(11) Der 4. März 1896 war ein weiteres Datum, das sich in Vicki Baums Gedächtnis einbrannte. An diesem Tag holte sie ihre Mutter in Begleitung ihres Vaters aus der Privatheilanstalt Inzersdorf ab. Wochen zuvor, als sie mit einer Scharlacherkrankung im Bett gelegen hatte, war Mathilde einfach aus ihrem Leben verschwunden und durch eine furchteinflößende Pflegerin in Hemdblusen ersetzt worden. Niemand hatte Vicki über den Verbleib ihrer Mutter informiert. Erst durch eine Zugehfrau hatte sie die schockierende Wahrheit erfahren: Mathilde war in ein "Narrenhaus" eingeliefert worden.

Als sie diesen schrecklichen Ort kennenlernte, entsprach er jedoch so gar nicht den düsteren Vorstellungen, die sie sich von ihm gemacht hatte. Inzersdorf war damals noch ein sehr ländlicher, idyllischer Vorort am Fuße des Wienerberges, anderthalb Stunden von Wien entfernt. Die Anstalt war in einer Villa auf einem parkähnlichen Gelände untergebracht und wurde von einem grünen Zierrasen, einem Blumengarten und gleichmäßig gestutzten Hecken umgeben.

Tatsächlich war die "Privat-Heilanstalt für Nerven- und Gemütskranke" eine kleine, exklusive Einrichtung für die Angehörigen der Oberschicht. Anders als in staatlichen Heilanstalten praktizierte man in Inzersdorf eine progressive "freie Behandlung" und verzichtete auf menschenunwürdige Zwangs- und Strafmittel wie Kaltbäder, ständige Fixierung oder Zwangsjacken. Stattdessen ermunterte man die Patienten zu künstlerischer Betätigung und zur Teilnahme an Gesprächskreisen. Leichteren "Pfleglingen " war es sogar erlaubt, sich unbeaufsichtigt auf dem Gelände zu bewegen oder Gäste zu empfangen.

Vickis kindliche Vorfreude auf das Wiedersehen mit ihrer Mutter wurde jäh zerstört, als ihr eine untersetzte, aufgeschwemmte Frau im einfachen braunen Kleid entgegentrat - Mathilde. Mit dem exakten Gespür der Schriftstellerin für dramatische Höhepunkte schrieb Vicki Baum später in ihren Erinnerungen, in diesem Moment sei ihre Kindheit mit einem Mal beendet gewesen: "Es ist ein Erlebnis, das einem durch Mark und Bein geht, einen Menschen wiederzusehen, den man früher geliebt hat und nun auf einmal nicht mehr liebt, und ich habe diese Erfahrung sehr früh machen müssen ? Es ist auch eine Erfahrung, die Freiheit schenkt, die einen erlöst aus den drückenden Banden altgewohnter Gefangenschaft, die Ironie lehrt, Humor und Lachen."(12)

So stellte es sich aus der großen intellektuellen Distanz der über-70-Jährigen dar. Wie es jedoch um die schockierte Kinderseele stand, darüber gibt der Roman Frühe Schatten. Das Ende einer Kindheit viel beredter Auskunft. Kaum verfremdet, beschrieb die zwanzigjährige Vicki Baum hier das Wiedersehen mit ihrer Mutter im Sanatorium. Beim Anblick der fremden, unförmigen Frau, die ihre Mutter ist, erstarrt Vicki Baums literarisches Alter Ego Martha Drost innerlich. Martha möchte weinen, doch sie spürt, wie hilflos ihr Gegenüber ist, und schlüpft deshalb fürsorglich in die Rolle der Trösterin. Martha/Vicki steht von nun an allein auf der Lebensbühne, um sie herum fremde Menschen, die dem pittoresken Schauspiel zwischen Mutter und Tochter amüsiert zuschauen.

Gnadenlos, unbarmherzig - so zeichnet die zwanzigjährige Vicki Baum die Welt, so muss die achtjährige Vicki sie seit ihrem Besuch in Inzersdorf empfunden haben. Eine solche Welt ist in der Tat nur erträglich, wenn man ihr mit viel "Ironie, Humor und Lachen" entgegentritt. Als wolle sie sich unbewusst immer wieder die Kälte ihrer Kindheit vergegenwärtigen und weiter verarbeiten, wird die Schriftstellerin Vicki Baum in jedem ihrer Romane aufs Neue kalte, gottlose Welten erschaffen, in denen die Figuren auf Erlösung hoffen, wie Martha und ihre Mutter. Aber niemand wird erlöst, außer durch sich selbst. Vicki Baums einsame Figuren sehnen sich nach Geborgenheit und "mütterlicher" Wärme, obwohl diese längst für immer verloren sind.

Leseprobe Teil 3

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