Vorgeblättert

Leseprobe zu Magdalena Tulli: Getriebe, Teil 1

Welten erschaffen! Nichts ist leichter als das. Angeblich werden sie aus dem Ärmel geschüttelt. Und wozu? Um das Auge mit ihrem Schillern zu erfreuen, wenn sie zitternd wie Seifenblasen ins Licht aufsteigen. Dann verschlingt sie wieder das Dunkel. Während sie emporsteigen, sind sie schon so gut wie versunken. Doch sind sie nicht schön? Ohne tieferen Gedanken werden sie heraufbeschworen, dann leichthin ins Leere geworfen, niemandem ist daran gelegen, sie zu retten. Mehr weiß auch der Erzähler nicht, eine eher untergeordnete Figur. Mit Bedauern gesteht er es ein. Allein vollendeten Fakten gegenübergestellt, ist er vor allem um eines besorgt: nur nicht gleich mit dem ersten Satz in Banalitäten zu verfallen. Wenn er könnte, würde er am liebsten die Hände in die Taschen stecken und davonschlendern, die ganze Sache dem Schicksal überlassen, auf das er keinen Einfluss nehmen darf, zumindest jedoch in einem hartnäckigen, beredten, arroganten Schweigen verharren. Doch der Erzähler sieht ein, dass er nirgendwo hingehen kann. Mit dem Privileg der Arroganz ist er auch nicht ausgestattet. Die Art Leben, die ihm zuteilgeworden ist, sofern man das überhaupt als Leben bezeichnen kann, bietet keine Wahl, für den ganzen Sinn seiner Existenz muss eine kleine, von irgendjemandem nachlässig aus dem Ärmel geschüttelte Geschichte herhalten. Nach Objekten und Prädikaten gierend, verkrallt sich diese in ihr Gewebe wie ein seltener Parasit. Der Erzähler würde gerne darauf vertrauen, dass derjenige, der ihn berufen hat, mehr weiß, das Ganze im Griff hat und den Schluss kennt. Doch der tritt weder auf dieser Seite noch auf den folgenden persönlich in Erscheinung, lässt auch Briefe und Faxe unbeantwortet. Vielleicht faulenzt er schon seit Wochen im Bett herum, zwischen zerwühlten Decken, mit dem Rücken zur Welt, umgeben von leeren Flaschen oder benutzten Spritzen, wer weiß? Sobald nun eine tragische Wendung in den hinteren Sitzreihen für Kichern sorgt oder ein Scherz in trübsinniger Stille erstarrt, begreift der Erzähler, dass niemand hinter ihm steht, dass alles allein auf seine Kappe geht. Er ist gehalten, kleinlaut einen Punkt zu setzen und zum nächsten Satz überzugehen, als wäre nichts geschehen. Wie ein Clown in karierten Hosen, der, kaum ist er unter den Lachsalven des Publikums vom Schemel gefallen, eine wacklige Leiter hinaufklettert, ohne seinen Monolog zu unterbrechen, eine bemitleidenswerte Gestalt, unwiderruflich in die sägemehlgelben Niederungen der Manege verbannt, immer wieder auf ebener Erde stolpernd, lebenslänglich in der Ausweglosigkeit des Spektakels befangen. Die Nummern, die man in einer sägemehlbestreuten Arena zeigen kann, sind jedem in den Sitzreihen bis zum Überdruss bekannt, selbst den kleinen Kindern, die in Erwartung der Kunststücke des Elefanten unruhig hin- und herrutschen. Auch die Monologe kennt man dort, auswendig kennt man sie, bis hin zum runden Knopf des Schlusses, an dem die Knopfschlinge des Anfangs befestigt wird, bis hin zur fragwürdigen, kaum überzeugenden Pointe, auf die nur mit Schulterzucken reagiert wird. Jedes Wort hat man schon mindestens hundertmal gehört. Vielleicht in anderen Sätzen, aber was hat das schon zu sagen? Für die Einzelheiten interessiert sich niemand. Das alles ist sich so ermüdend ähnlich, sagen die trüben Blicke. Und deshalb eben ist es besser, Leser zu sein als Erzähler. Es macht Spaß, kaugummikauend die raschelnden Seiten mit schnellen Bewegungen umzublättern und nach der letzten Seite den Band mit leichter Hand wieder ins Regal zu stellen. Das ist eine bessere Schicksalsfügung als die alberne Jagd nach dem fliehenden Erzählstrang, verheddert in halsbrecherische Darbietungen der Seiltänzer und betrügerische Tricks der Illusionisten, nur um zu guter Letzt noch einen von einem Unbekannten geworfenen glitschigen Apfelbutzen mitten auf die Nase zu bekommen. Dort, in der Mitte der Arena, auf die etliche hundert Blicke gerichtet sind, ist fast alles möglich, und nichts überrascht - nur gehört es sich nicht, mit demselben großen gepunkteten Taschentuch, das eben noch als Requisit gedient hat, sich die Stirn abzutupfen. Eher schickt es sich, mit einem breiten, grellrot auf die Wangen geschminkten Lächeln etliche Verbeugungen zu vollführen. Und ohne Rücksicht auf das Wohlergehen der eigenen Hand ein ums andere Mal mit einer speckigen Melone durch die Luft dicht über dem Boden zu fegen. Kaum hat der Erzähler die erste Gelegenheit für einen Punkt erreicht, da bezweifelt er schon, ob eine Zirkusfarce imstande ist, die ganze Schwere dessen zu tragen, was hier eigentlich gesagt werden soll. Möglicherweise können die gelangweilten Zuschauer, die den Blick auf das Rund der Arena richten, für die Außenwelt nur so viel Gespür aufbringen, dass sie jede Verbeugung ganz wörtlich nehmen. Wenn die Stimme des Erzählers zu beharrlich Aufmerksamkeit heischt, zieht sie Ärger und Verdruss auf sich, selbst die bescheidene Bitte um ein paar Groschen würde ein geneigteres Ohr finden. Keine Chance gibt es für ein einvernehmliches Zwinkern, nicht den Schatten einer Gemeinsamkeit. Keine Rettung vor der Einsamkeit in Sicht. Doch da wir schon bei Vergleichen sind - ist es nicht besser, Erzähler zu sein als Person?

Teil 2