Vorgeblättert

Leseprobe zu Kenzaburo Oe: Licht scheint auf mein Dach. Teil 1

17.11.2014.
Bemitleidenswerte Dame

1
Eines Morgens Mitte Februar betrachtete ich die Geburtstagskarten meiner Frau, die, wie es bei uns an Geburtstagen Tradition ist, innen an der Wohnzimmertür hängen. Unser ältester Sohn Hikari, den wir in der Familie Puh nennen, hatte auf seine Karte große gelbe und blaue Blumen gemalt und daneben, genauso bunt und groß, ein Mädchen, das die Blumen gießt. Darunter hatte er in lateinischen Buchstaben den Namen meiner Frau geschrieben, allerdings auf seine Art: UKARI anstatt Yukari. Wenn man Hikari nicht kennt, mag das merkwürdig erscheinen.
     Unser ältester Sohn kam mit einer Missbildung am Kopf zur Welt. Er wurde operiert, doch danach traten neue Probleme auf, vor allem litt er unter epileptischen Anfällen. In jener Zeit stand uns der Arzt Dr. Nobuo Moriyasu, der für unsere Familie sehr wichtig wurde, mit Rat und Tat zur Seite. Leider lebt er nicht mehr. Ich würde gern ausführlicher über ihn schreiben, denn durch ihn habe ich verstanden, worin für einen Arzt die "kulturelle Frage" besteht, eine Frage, die sich mir im Laufe meines Lebens im Kontakt mit anderen Menschen und Kulturen immer wieder gestellt hat.
     Hikari ist jetzt sechsundzwanzig Jahre alt und geistig zurückgeblieben. Welchem geistigen Alter würde man ihn zuordnen? Wir in unserer Familie denken nicht in solchen Kategorien.
     Doch was an jenem Tag auf Hikaris Karte meine Aufmerksamkeit erregte, war nicht so sehr das, was er gemalt, als das, was er geschrieben hatte:
     "Es ist schon lange her, dass wir das Jahr begonnen haben, aber ich spüre oft eine bemitleidenswerte Dame. Noch eine Weile Geduld, verehrte Yukari. Wenn du mir viele lateinische Buchstaben beibringst, wird es ein schöner Tag. Nicht du bist bemitleidenswert, sondern nur Oma. Das beruhigt mich."
     Was mich auch bei nochmaligem Lesen überraschte, war die Art und Weise, wie Hikari das Wort "bemitleidenswert" benutzte. Ich wusste nicht, dass es sich in seinem Wortschatz befand. Bis dahin hatte er es nie benutzt.
     Wenn Hikari einer seiner kleinen Klavierkompositionen einen Titel gibt, tauchen plötzlich Wörter auf, die sich ihm, obwohl man sie im täglichen Umgang nicht gebraucht, auf irgendwelchen Wegen tief eingeprägt haben. Eins seiner Klavierstücke heißt zum Beispiel Traurigkeit. Ich glaube, dass Hikari das Wort bis dahin nie benutzt hat, auch nicht das Adjektiv 'traurig'. Aber eines Tages lag vor dem Klavier auf dem Boden eine Partitur mit dem Titel Traurigkeit.
     In solchen Momenten muss ich an das Gedicht von Utsubo Kubota denken, das er in jungen Jahren verfasst hat: "Im Meer des schweigenden Herzens schwebt, ohne auftauchen zu können, ein Wort."
     Wir fragten uns, wie Hikari das Wort "bemitleidenswert" kennengelernt und wie er es in seinem Herzen gespeichert hatte, bei welcher Gelegenheit? Benutzte er "bemitleidenswerte Dame" nicht auf eine spezielle Art? War das Wort vielleicht von innen aus ihm hervorgedrängt und ihm nicht einfach nur zu Ohren gekommen?
     Allen von uns ist klar, was Hikari meint, wenn er seine Großmutter als "bemitleidenswerte Dame" bezeichnet. Die Mutter meiner Frau, die mittlerweile weit über achtzig ist, lebt bei uns im Haus. Wir haben ihr das ehemalige Empfangszimmer überlassen, das direkt neben dem Eingang liegt, und nun geht sie ständig zur Tür und begrüßt Menschen, die nur in ihrem Kopf existieren und von denen sie glaubt, dass sie heimkehren oder zu Besuch kommen. An manchen Tagen läuft sie alle vier bis fünf Minuten zur Tür, von frühmorgens an bis in die Dämmerung.
     Meine Schwiegermutter war mit Mansaku Itami verheiratet, einem sehr bedeutenden Filmregisseur, wenn ich das trotz der Verwandtschaft sagen darf. Er erkrankte im Krieg an Tuberkulose und ist früh gestorben. Mit seinem letzten Werk, dem Drehbuch zu dem Film Der Rikschamann, in dem Tsumasaburō Bandō die Hauptrolle spielt, wird er uns für immer im Gedächtnis bleiben.
     Itami hat zu diesem Film ein minutiöses Storyboard angefertigt, das ich mir als Student einmal genau angesehen habe. Auch die Besetzung der Rollen hat er gründlich geplant - interessanterweise sagt sein Sohn Jūzō Itami, der ebenfalls Filmregisseur und der Bruder meiner Frau ist, dass man mit der Wahl der Schauspieler den Film eigentlich schon im Kasten hat. Der Rikschamann wurde exakt nach dem Storyboard gedreht.
     Als Vorbild für die Offizierswitwe im Film, eine guterzogene, vornehme und gebildete, aber durchaus humorvolle Frau, diente Mansaku Itami seine eigene Frau. Mit der filmischen Beschreibung der Beziehung zwischen der Offizierswitwe und ihrem Sohn hat Itami seiner Frau ein Erziehungskonzept für die gemeinsamen Kinder hinterlassen. So hat es jedenfalls sein Sohn Jūzō meiner Frau erzählt.
     Bis vor zehn Jahren verkörperte meine Schwiegermutter für uns und auch für Freunde, die sie länger kannten, die vom Rikschamann verehrte Offizierswitwe im Film. Jetzt aber empfand Hikari sie als "bemitleidenswerte Dame" …
     Möglicherweise zeigt sich auf der Geburtstagskarte aber auch Hikaris schwarzer Humor: "Noch eine Weile Geduld, verehrte Yukari." Eigentlich hätte er wünschen müssen, dass seine Großmutter bald von der so lange währenden, "bemitleidenswerten" Krankheit genesen möge.
     Für Hikari ist der Tod eines Menschen etwas Schreckliches, etwas, das negiert werden muss. Dr. Moriyasus Tod war für ihn eine extrem schmerzliche Erfahrung. Auf den folgenden Seiten möchte ich beschreiben, wie im Prozess von Krankheit und Genesung beim Betroffenen und seinen Angehörigen auch Freude entstehen kann, wie man daran wachsen und sich vervollkommnen kann. Auch wenn Hikari das so nicht sagt, hat er es doch an seinem Körper deutlich erfahren.
     Wie "bemitleidenswert" aber sind unheilbare Krankheiten und vor allem der physische und geistige Verfall im Alter? "Es ist schon lange her, dass wir das Jahr begonnen haben, aber ich spüre oft eine bemitleidenswerte Dame." Können Kranke und deren Familien, wenn sie nicht an die Erlösung der Seele und an ein Jenseits glauben, überhaupt Trost empfinden angesichts des Todes, der am Ende eines solchen "bemitleidenswerten" Verfalls steht? Wenn sich der Kranke daher kurzfristig erholt, ist das - einem warmen Herbsttag gleich - ein Ansporn für die ganze Familie.
     Zumindest zum jetzigen Zeitpunkt kann ich nichts über die Erlösung der Seele oder das Jenseits sagen. Mein geistig zurückgebliebener Sohn aber empfindet seine Großmutter als "bemitleidenswert". Ich habe jedoch das Gefühl, als schwebe über den beiden ein zarter Lichtschimmer.

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