Vorgeblättert

Leseprobe zu John Williams: Stoner. Teil 2

29.07.2013.
Im zweiten Jahr war er auf dem Campus eine vertraute Gestalt. Bei jedem Wetter trug er denselben Anzug aus schwarzem Tuch, dazu ein weißes Hemd mit schmaler Krawatte, die Handgelenke ragten aus den Jackenärmeln hervor, und die Hose schlotterte ihm um die Beine, als gehörte sie zu einer Uniform, die zuvor von jemand anderem getragen worden war.
     Mit der zunehmenden Gleichgültigkeit seiner Verwandten wuchs die Zahl seiner Tätigkeiten auf der Farm; außerdem verbrachte er lange Abende auf dem Zimmer damit, seine Universitätsaufgaben methodisch abzuarbeiten. Er hatte den Studiengang begonnen, der mit einem Bakkalaureat in Naturwissenschaften abgeschlossen wurde, und musste während des ersten Semesters seines zweiten Studienjahres zwei Grundkurse in Naturwissenschaft belegen, einen Kurs in landwirtschaftlicher Bodenanalyse sowie einen Kurs, der für alle Studenten vorgeschrieben war, obwohl ihm keine besondere Bedeutung beigemessen wurde - eine Einführung in die englische Literatur.
     Schon nach wenigen Wochen hatte er mit den Kursen in Naturwissenschaft kaum noch Probleme, obwohl es so viel zu tun gab, so vieles, was er sich merken musste. Der Kurs in landwirtschaftlicher Bodenanalyse weckte auf eine eher allgemeine Weise sein Interesse, da ihm noch nie der Gedanke gekommen war, dass jene bräunlichen Klumpen, die er nahezu sein Leben lang bearbeitet hatte, etwas anderes als das sein könnten, was sie allem Anschein nach waren, und er begann zu ahnen, wie seine wachsende Kenntnis von Nutzen sein würde, wenn er denn erst einmal zur Farm des Vaters zurückgekehrt war. Nur der vorgeschriebene Einführungskurs in die englische Literatur verstörte und beunruhigte ihn auf eine Weise wie nichts zuvor.
     Der Dozent, ein Mann gesetzteren Alters, Anfang fünfzig, Archer Sloane mit Namen, ging seinem Lehrauftrag offenbar nur widerwillig und mit scheinbarer Geringschätzung nach, so als registriere er zwischen seinem Wissen und dem, was er vermitteln konnte, eine derart profunde Kluft, dass sich keinerlei Mühe lohnte, sie schließen zu wollen. Bei den meisten seiner Studenten war er gleichermaßen gefürchtet wie unbeliebt, worauf er amüsiert und mit ironischer Distanz reagierte. Archer Sloane war ein Mann mittlerer Größe mit langem, zerfurchtem, glatt rasiertem Gesicht, der die Angewohnheit besaß, sich mit den Fingern ungeduldig durch die
graue, lockige Haarmähne zu fahren. Seine Stimme klang flach und trocken, drang über sich kaum bewegende Lippen, die ihr weder Gefühl noch Betonung verliehen, doch die langen, schlanken Finger bewegten sich mit einer Anmut und Überzeugung, als wollten sie den Worten zu einer Ausdruckskraft verhelfen, die seine Stimme ihnen nicht geben konnte.
     Wenn Stoner seinen Pflichten auf der Farm nachging oder in der fensterlosen Dachkammer im Dämmerlicht der Lampe blinzelnd seine Bücher studierte, gewahrte er oft, wie das Bild dieses Mannes vor seinem inneren Auge auftauchte. Obwohl es ihm keineswegs leichtfiel, das Gesicht eines anderen Dozenten aufzurufen oder sich an etwas Besonderes aus einem der übrigen Seminare zu erinnern, wartete an der Schwelle seiner Wahrnehmung stets die Gestalt von Archer Sloane auf ihn, seine trockene Stimme und seine so verächtlich wie beiläufig vorgebrachten Worte über irgendeinen Passus in Beowulf oder über einige Verse von Chaucer.
     Er spürte, dass er mit dem Einführungskurs nicht wie mit den anderen Kursen zurechtkam. Obwohl er sich an die Autoren und ihre Werke erinnerte, an Daten und Einflüsse, hätte er den ersten Test fast verpatzt, auch mit dem zweiten erging es ihm nicht viel besser. Er las die Bücher, die auf der Leseliste standen, und las sie so oft wieder, dass die Arbeit für die übrigen Kurse darunter zu leiden begann, dennoch blieben, was er las, nur Worte auf dem Papier, und er begriff nicht, welchen Sinn sein Tun hatte.      
     Also grübelte er über das, was Archer Sloane im Unterricht sagte, als könnte er hinter den im flachen, trockenen Ton vorgebrachten Worten einen Hinweis entdecken, der ihn dorthin führte, wohin er zu gehen hatte. Stoner beugte sich über das Pult seines Schreibstuhls, der zu klein für ihn war, um bequem darauf sitzen zu können, und umklammerte die Tischkanten mit so kräftigem Griff, dass die Knöchel weiß unter der braunen, ledrigen Haut hervortraten; dabei runzelte er konzentriert die Stirn und biss sich auf die Unterlippe. Doch je verzweifelter Stoner und dessen Mitstudenten sich anstrengten, desto erbarmungsloser wurde Archer Sloanes Verachtung. Einmal aber steigerte sich diese Verachtung zu heller Wut und richtete sich allein gegen William Stoner.
     Im Seminar hatten sie zwei Stücke von Shakespeare gelesen, und die Woche endete mit dem Studium seiner Sonette. Die Studenten waren gereizt und verwirrt, fast verängstigt von der wachsenden Spannung zwischen ihnen und jener gebeugten Gestalt, die sie hinter dem Rednerpult hervor ansah. Sloane hatte ihnen das dreiundsiebzigste Sonett laut vorgelesen; und nun schweifte sein Blick durch den Raum, die Lippen zu humorlosem Lächeln zusammengepresst.
     "Was bedeutet dieses Sonett?", fragte er abrupt, schwieg wieder und suchte den Raum mit einer grimmigen, beinahe freudigen Hoffnungslosigkeit ab. "Mr Wilbur?" Keine Antwort. "Mr Schmidt?" Jemand hustete. Sloane drehte sich mit dunkel blitzenden Augen zu Stoner um.      "Mr Stoner, was bedeutet das Sonett?"
     Stoner schluckte und versuchte, den Mund zu öffnen.
     "Es ist ein Sonett, Mr Stoner", erklärte Sloane trocken, "eine lyrische Komposition aus vierzehn Zeilen in einer bestimmten Anordnung, die Sie fraglos auswendig gelernt haben. Es wurde in der englischen Sprache geschrieben, die Sie, wenn ich nicht irre, bereits seit einigen Jahren beherrschen. Der Verfasser heißt William Shakespeare, ein Dichter, der zwar schon tot ist, aber in den Köpfen nicht weniger Menschen dennoch einen Platz von einiger Bedeutung einnimmt." Er blickte Stoner noch einen Moment an, dann wurde der Blick ausdruckslos, während die Augen einen unsichtbaren Punkt außerhalb des Seminars fixierten. Ohne ins Buch zu schauen, trug er das Gedicht erneut vor, wobei seine Stimme tiefer und weicher klang, so als wären Wort, Ton und Rhythmus einen Moment lang er selbst geworden:

Den späten Herbst kannst Du in mir besehen:
Die letzten gelben Blätter eingegangen
An Zweigen, die dem Frost kaum widerstehen,
Und Chorruinen, wo einst Vögel sangen.
In mir siehst Du den späten Tag sich neigen,
Das Dunkel in die graue Dämmrung dringen,
Die Nacht mit ihrer Schwärze langsam steigen
Und Todes Bruder, Schlaf, die Welt umschlingen.
In mir siehst Du die Glut von alten Bränden,
Gebettet auf die Asche bessrer Zeiten -
Ein Sterbelager, wo sie muss verenden,
Verzehrt vom Brennstoff eigner Lustbarkeiten.
Siehst Du all dies, wird's Deine Liebe steigern:
Denn was Du liebst, wird Tod Dir bald verweigern.


In einem Augenblick der Stille räusperte sich jemand. Sloane wiederholte die letzten Zeilen, und seine Stimme wurde flach, er wieder er selbst.

Siehst Du all dies, wird's Deine Liebe steigern:
Denn was Du liebst, wird Tod Dir bald verweigern.

Sloanes Augen richteten sich wieder auf William Stoner, und er meinte trocken: "Über drei Jahrhunderte hinweg redet Mr Shakespeare mit Ihnen, Mr Stoner. Können Sie ihn hören?"
     William Stoner fiel auf, dass er mehrere Sekunden lang die Luft angehalten hatte. Behutsam atmete er nun weiter und war sich bis ins Detail bewusst, wie die Kleidung über seinen Leib glitt, als ihm der Atem aus den Lungen fuhr. Er wandte den Blick von Sloane ab und ließ ihn durch den Raum wandern. Licht fiel schräg durch die Fenster auf die Gesichter seiner Mitstudenten, doch so, als leuchtete die Helligkeit aus ihnen heraus in die frühe Dämmerung; ein Student blinzelte, und ein dünner Schatten fiel auf eine Wange, in deren Härchen sich Sonnenschein verfing. Stoner spürte, wie sich der feste Griff lockerte, mit dem seine Finger das Schreibpult umklammerten. Er drehte die Hände vor den Augen und staunte, wie braun sie waren, wie passend die Nägel in stumpfen Fingerkuppen ausliefen, und meinte, das unsichtbare Blut durch die winzigen Adern und Arterien strömen, es zart und schutzlos von den Fingerspitzen durch den Körper pochen zu spüren.
     Sloane redete wieder. "Was sagt er Ihnen, Mr Stoner? Was bedeutet das Sonett?"
     Stoner hob langsam und zögerlich den Blick. "Es bedeutet", sagte er und streckte mit vager Bewegung die Hände in die Höhe, wobei er spürte, wie sein Blick die Gestalt von Archer Sloane suchte und zugleich glasig wurde. "Es bedeutet", sagte er noch einmal, konnte aber nicht beenden, was er zu sagen begonnen hatte.
     Sloane sah ihn neugierig an. Dann nickte er abrupt, sagte: "Der Unterricht ist beendet" und verließ, ohne jemanden anzusehen, den Raum.
     William Stoner war sich der Studenten kaum bewusst, die um ihn herum murmelnd und murrend von den Plätzen aufstanden und nach draußen drängten. Noch mehrere Minuten, nachdem sie gegangen waren, saß er da, ohne sich zu rühren, und starrte vor sich auf die schmalen Bodendielen, deren Lack von den ruhelosen Füßen so vieler Studenten abgetragen worden war, von Menschen, die er nie sehen oder kennenlernen würde. Er ließ die eigenen Füße über den Boden gleiten, hörte das trockene Scharren der Schuhsohlen und konnte das raue Holz durch das Leder spüren. Dann stand er auf und ging langsam nach draußen.
     Die leichte Kühle des späten Herbsttages drang durch seine Kleider. Er schaute sich um und sah die kahlen, knorrigen Äste der Bäume, wie sie sich in den fahlen Himmel rankten und wanden. Über den Campus zu ihren Seminaren hastende Studenten rempelten ihn an; und er hörte das Gemurmel ihrer Stimmen, das Klappern der Schuhe auf den Wegen, sah die vor Kälte geröteten Gesichter, die gegen den aufkommenden Wind gesenkten Köpfe. Er musterte sie so neugierig, als hätte er sie nie zuvor gesehen, und fühlte sich ihnen zugleich fern und nah. Er behielt dieses Gefühl, als er zur nächsten Unterrichtsstunde eilte, behielt es auch während der Vorlesung seines Professors für Bodenanalyse, behielt es trotz der monotonen Stimme, die vortrug, was in Notizbücher niedergeschrieben und gelernt werden sollte, eine mühselige Plackerei, die ihm jetzt schon fremd zu werden begann.
     Im zweiten Semester dieses Studienjahres meldete sich William Stoner aus beiden Grundkursen Naturwissenschaft ab und schied auch aus dem Studiengang Agrarwirtschaft aus, stattdessen belegte er Einführungskurse in Philosophie und Frühgeschichte sowie zwei Kurse in englischer Literatur. Im Sommer kehrte er wieder auf die Farm seiner Eltern zurück und half dem Vater bei der Ernte; sein Studium an der Universität erwähnte er mit keinem Wort.

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