Vorgeblättert

Leseprobe zu John Lanchester: Kapital. Teil 1

08.10.2012.
ERSTER TEIL
Dezember 2007


1
An einem regnerischen Tag Anfang Dezember saß eine zwei­undachtzigjährige Frau in ihrem Wohnzimmer in der Pepys Road Nummer 42 und schaute durch ihre Spitzenvorhänge auf die Straße hinaus. Ihr Name war Petunia Howe, und sie wartete auf den Lieferwagen von Tesco.
     Petunia war der älteste Mensch, der in der Pepys Road lebte, und sie war auch der letzte Mensch, der in der Straße geboren worden war und jetzt noch immer dort wohnte. Aber ihre Verbindung mit diesem Ort ging viel weiter zurück. Ihr Großvater hatte das Haus sozusagen vom Reißbrett weg gekauft, noch bevor es gebaut wor­den war. Er hatte als Rechtsanwaltsgehilfe in einer Kanzlei in Lin­coln's Inn gearbeitet und war privat wie politisch sehr konservativ gewesen. Und wie bei Rechtsanwaltsgehilfen so üblich, hatte er seinen Beruf an seinen Sohn vererbt, und als der nur Töchter be­kam, weiter an den Mann einer seiner Enkelinnen. Und das war Petunias Mann gewesen, der vor fünf Jahren gestorben war.
     Petunia sah sich selbst nicht gerade als jemanden, der ein beson­ders aufregendes Leben geführt hatte. Sie war eher der Ansicht, dass es ziemlich übersichtlich und belanglos gewesen war. Im­merhin hatte sie zwei Drittel der gesamten Geschichte der Pepys Road miterlebt und eine ganze Menge dabei gesehen. Sie hatte mehr bemerkt, als sie je zugeben würde, und hatte versucht, so wenig wie möglich über die Dinge zu urteilen. Sie fand, dass Albert genug Urteile für sie beide zusammen gefällt hatte. Die einzige Lücke in ihrem Leben in der Pepys Road war entstan­den, als sie Anfang des Zweiten Weltkriegs evakuiert worden war und von 1940 bis 1942 auf einem Bauernhof in Suffolk le­ben musste. So hatte man verhindern wollen, dass sie der Bom­bardierung ausgesetzt war. Das war eine Zeit, an die sie auch heute noch lieber nicht dachte, nicht etwa weil jemand grausam zu ihr gewesen wäre - der Bauer und seine Frau waren so freundlich gewesen wie möglich und wie es ihnen die ununterbrochene schwere körperliche Arbeit, aus der ihr Leben bestand, erlaubt hatte -, sondern einfach, weil sie ihre Eltern vermisste und sich nach dem behaglichen und vertrauten Familienleben sehnte, wenn der Vater von der Arbeit nach Hause kam und pünktlich um sechs der Tee serviert wurde. Die Ironie der Geschichte war, dass sie die Bombardierung dann doch mitbekam. Es war 1944, um vier Uhr morgens, als eine V2-Rakete gerade mal zehn Häuser weiter einschlug. Petunia konnte sich noch gut daran erinnern, dass die Explosion weniger ein Geräusch als vielmehr eine körper­liche Empfindung gewesen war. Sie wurde mit unwiderstehlicher Kraft aus dem Bett gestoßen, so als hätte ein neben ihr liegender Liebhaber sie nicht mehr darin dulden mögen, ohne ihr aber Übles zu wollen. Zehn Menschen starben in dieser Nacht. Das Begräb­nis, das in der großen Kirche am Park abgehalten wurde, war ganz fürchterlich. Begräbnisse sollten eigentlich besser an regnerischen Tagen stattfinden, wenn man den Himmel nicht sehen kann. An diesem Tag aber war das Wetter hell, klar und frisch gewesen, und noch Monate später musste Petunia immer wieder daran denken.
     Ein Lastwagen kam die Straße entlanggefahren, wurde langsa­mer und hielt vor ihrem Haus. Der Dieselmotor war so laut, dass er die Fenster zum Klirren brachte. Vielleicht war das endlich ihre Lieferung? Aber dann legte der Lastwagen einen anderen Gang ein und verschwand die Straße hinunter, wobei er mit zweima­ligem lauten Gepolter - einmal hoch, einmal runter - über die Straßenschwellen fuhr. Die hatten eigentlich dazu dienen sollen, den Verkehr in der Straße zu reduzieren, aber ihr einziger Erfolg schien zu sein, dass es noch mehr Krach gab, und auch mehr Ab­gase, denn die Autos wurden vor den Schwellen langsamer und beschleunigten danach umso mehr. Seit man sie eingebaut hatte, war kein einziger Tag vergangen, an dem Albert sich nicht über sie beschwert hätte: buchstäblich kein einziger, von dem Tag an, als die Straße wieder für den Verkehr geöffnet wurde, bis zu dem Tag, an dem er ganz plötzlich starb.
     Petunia hörte, wie der Lastwagen weiter unten in der Straße hielt. Eine Lieferung - wohl keine Lebensmittel, und auch nicht für sie. Das war etwas, das ihr in diesen Tagen hauptsächlich an der Straße auffiel: die Lieferungen. Sie wurden immer mehr, wäh­rend die Straße immer vornehmer wurde. Und hier war sie nun und wartete selbst auf eine Lieferung. Es hatte mal einen Begriff dafür gegeben: das "Fuhrkutschergewerbe". Sie erinnerte sich, dass ihre Mutter davon gesprochen hatte. Irgendwie dachte man dabei an Männer mit Zylinderhüten und an Pferdegespanne. Jetzt gehöre ich auch zum Fuhrkutschergewerbe, dachte Petunia. Und das in meinem Alter. Bei dem Gedanken musste sie lächeln. Die Lieferung, das waren ihre Lebensmittel, und das Ganze war eine Idee ihrer Tochter Mary gewesen, die in Essex wohnte. Petunia hatte in letzter Zeit Schwierigkeiten mit dem Einkaufen gehabt, keine großen Probleme, aber genug, um ein wenig ängstlich zu werden auf dem Weg zur Hauptstraße und zurück, vor allem, wenn sie etwas mehr zu tragen hatte. Also hatte Mary einen Lie­ferservice für sie organisiert. Einmal in der Woche sollten alle gro­ßen und sperrigen Einkäufe direkt ins Haus geliefert werden, und zwar immer mittwochs zwischen zehn und zwölf. Petunia hätte es natürlich viel lieber gehabt, wenn Mary oder Marys Sohns Gra­ham, der in London wohnte, selbst zu ihr gekommen wäre. Dann hätten sie zusammen einkaufen gehen können, aber davon war nie die Rede gewesen.
     Jetzt hörte sie wieder einen Lastwagen, diesmal war es ein noch lauteres Poltern. Er fuhr vorbei, aber nicht weit, und sie hörte, wie er ein paar Meter die Straße hinunter parkte. Durch das Fenster sah sie das Firmenzeichen: Tesco! Ein Mann, der eine große Kiste trug, kam zu ihrem Vorgarten und öffnete die Gartentür geschickt mit der Hüfte. Petunia stand auf, sich vorsichtig mit beiden Ar­men abstützend, und hielt einen Moment lang inne, um sich zu sammeln. Dann öffnete sie die Haustür.
     "Guten Morgen! Alles okay bei Ihnen? Es ist alles so, wie Sie's bestellt haben. Soll ich es nach hinten bringen? Draußen verteilt jemand Knöllchen, aber ich habe ihm gesagt, er soll das mal schön bleiben lassen."
     Der nette Tesco-Mann trug ihre Einkäufe bis in die Küche und stellte die Sachen auf den Tisch. Mit zunehmendem Alter fiel es Petunia immer mehr auf, wenn andere Leute ihre Kraft und Ge­sundheit demonstrierten, als wäre es nichts Besonderes. So wie jetzt dieser junge Mann, der mit solcher Leichtigkeit die schwere Kiste auf den Tisch hievte und dann jeweils vier Tüten auf einmal herausnahm. Seine Schultern und Arme wurden noch breiter, während er die Tüten hochhob. Er sah dabei riesengroß aus, wie ein Eisbär beim Bodybuilding.
     Petunia war es normalerweise nicht peinlich, wenn ihre Sa­chen ein wenig alt wirkten, aber wegen ihrer Küche schämte sie sich schon ein bisschen. Wenn Linoleum einmal anfing, schäbig auszusehen, dann aber auch so richtig, selbst wenn es sauber war. Aber dem Tesco-Mann schien das nicht weiter aufzufallen. Er war sehr höflich. Wenn er die Sorte Angestellter gewesen wäre, denen man ein Trinkgeld gibt, dann hätte Petunia ihm ordentlich was zugesteckt, aber als Mary den Lieferservice beauftragt hatte, hatte sie ihr extra gesagt, dass man Supermarktlieferanten kein Trink­geld gibt. Sie hatte dabei ziemlich genervt geklungen, so als würde sie ihre Mutter gut genug kennen, um zu wissen, was sie jetzt schon wieder dachte.
     "Danke", sagte Petunia. Während sie die Tür hinter ihm schloss, sah sie, dass auf der Fußmatte eine Postkarte lag. Sie bückte sich - ganz vorsichtig - und hob sie auf. Vorne auf der Karte war ein Foto ihres Hauses, Pepys Road 42. Sie drehte die Karte um. Es gab keine Unterschrift, nur eine gedruckte Nachricht. Da stand: "Wir wollen was Ihr habt." Darüber musste Petunia lächeln. Warum in aller Welt sollte irgendjemand das haben wollen, was sie hatte?

zu Teil 2