Vorgeblättert

Leseprobe zu Jabbour Douaihy: Morgen des Zorns. Teil 1

16.07.2012.
I

     Man informierte uns erst am nächsten Tag. Sorglos ließ man uns schlafen, im oberen Stockwerk, im Saal des Ostflügels, wo durch die weit geöffneten Fenster der Geruch des nahe gelegenen Flusses und bei Sonnenaufgang die Stimmen der Muezzine zu uns hereindrangen; wo wir die Hitze der Juninächte zu vergessen versuchten, indem wir die wenigen Autos beobachteten, die durch die Straßen fuhren; und miteinander Streitigkeiten ausfochten, bei denen sich die frechen faulen Schüler an den Trägern dicker Brillen rächten, die uns die Lehrer als Vorbild für Fleiß hinstellten.
     Es war kurz vor sieben, als der Direktor, gefolgt vom Pförtner des Internats, ins Klassenzimmer trat. Wer von uns von Müdigkeit überwältigt worden war - und das waren viele an jenem Montagmorgen -, hob den Kopf. Frère Ambroise würde nicht in Begleitung von Dschamîl al-Râsi hier auftauchen, wenn es nur um die schlechten Ergebnisse der Mathematikarbeit ginge oder weil er Wind davon bekommen hatte, dass wir am Vortag Volkslieder mit lateinischen Kirchenhymnen vermischt und den maronitischen und katholischen Familien vorgesungen hatten, für die die Schulkirche sonntags ihre Tore öffnete. Auf solche Regelwidrigkeiten pflegte der Direktor mit seinem mit beißenden Worten verzierten Französisch zu antworten. Sein Akzent verwirrte uns indes mehr als die Namen der tropischen Vögel und Wüstenreptilien, die er der ganzen Klasse oder einzelnen von uns an den Kopf warf. Dschamîl al-Râsi hingegen war mit seiner hageren Statur und seiner schweigsamen Art das Auge der Schule und die Verbindung zur Außenwelt. Er verhandelte mit den Demonstranten, wenn die Rädelsführer in den vorderen Reihen die Menge bis zum Schulportal führten, welches auf den Markt der Kupferschmiede hinausging, weil sie hofften, dass der Unterricht - und sei es auch nur ein einziges Mal - ausfalle und sich die Schüler dem Umzug anschließen könnten, mit dem sie gegen die dreifache Aggression gegen Ägypten protestierten. Wer dringend etwas benötigte, dem lieh er Geld, und er überbrachte den Internen unter uns knapp gefasste Ratschläge der Eltern:
     - Anîs, du sollst anständig essen und darfst die Schule nicht heimlich verlassen, um dich in den Straßen herumzutreiben. Die Lage ist zu unsicher …
     Wenn einer von ihnen in die Stadt herunterkam, um Einkäufe zu erledigen oder im Rathaus eine Grundstückshypothek zu bezahlen, ging er bei Dschamîl vorbei und hinterließ bei ihm ein Stück Ziegenkäse oder ein paar Nudeln mit Zucker für uns. Es war allein seine, Dschamîls, Aufgabe, Dinge zu vermitteln, die wir, so hatten wir das Gefühl, unmöglich auf Französisch verstehen konnten. Denn die Sprache, die wir in unseren Büchern mit den melancholischen Bildern uns zu entziffern bemühten und die den schwarz gekleideten Frères so flüssig von der Zunge ging, bezeichnete unserer Meinung nach Dinge, die in anderen Milieus zu Hause waren, welche nichts mit der Welt zu tun hatten, die uns umgab. Für unsere Realität, für unsere Namen, dafür hatten wir eine eigene Sprache, unsere Sprache.
     Dschamîl al-Râsi lehnte sich mit dem Rücken gegen den Türrahmen und sagte in trockenem Ton:
     - Die Schüler aus Barka sollen ihre Bücher einpacken …
     Das war sein Auftrag: den muslimischen Schülern mitzuteilen, dass sie am Opferfest einen zusätzlichen Tag freihatten, ebenso die griechisch-orthodoxen einen Tag am orientalischen Osterfest. Oder die Kinder aus den schneebedeckten Bergdörfern zwei Stunden vor Unterrichtsende nach Hause zu entlassen. Wenn die Aufsicht durch die Lehrer nachgelassen hatte, wurden seine Ankündigungen mit Rufen und Pfiffen aufgenommen. Bei uns aber, "den Schülern aus Barka", verwandelte sich die Bekanntgabe des frühzeitigen Unterrichtsendes in Niedergeschlagenheit bei den Älteren, in stumme Freude über einen aus den Fugen geratenen Wochenbeginn bei den Kleinen. Aber uns alle erfasste eine böse Vorahnung über das Bevorstehende.
***EINRUCK**Als wir Dschamîl al-Râsis Worte vernahmen, sammelten wir nicht in aller Eile lärmend unsere Sachen ein, wie die Schüler angesichts einer solchen Ankündigung es sonst zu tun pflegten. Frère Ambroise konnte es sich trotz seiner offensichtlichen Sorge um uns nicht verkneifen, seine Befehle auf Französisch zu erteilen, und bestätigte damit unsere Vermutung, dass er zwar Arabisch verstand, es aber vor uns verheimlichen wollte, um uns in eine Falle tappen zu lassen:
     - Und macht keinen Lärm auf der Treppe!
     Augenscheinlich wollte er einen Teil seiner Autorität zurückerlangen, die durch seine allzu rasche Zustimmung zu unserer Entlassung untergraben worden war. Man hatte ihn wohl von der lebenswichtigen Notwendigkeit dieser Maßnahme überzeugt. Ein plötzliches Schweigen legte sich über Hunderte externer Schüler, die gerade erst eintrudelten. Als sähen sie uns zum ersten Mal in ihrem Leben, starrten sie uns an, wie wir, unsere Ranzen auf dem Rücken, den Hof überquerten. Wir gingen an der kleinen Holztribüne vorbei, wo wir uns, jede Klasse für sich, vor Photo Davidijân aufzustellen pflegten, um gemeinsam mit unseren Lehrern das Erinnerungsfoto aufzunehmen. In diesem unseligen Jahr 1957 würden wir Schüler von Barka jedoch nicht auf den Fotos zum Schuljahresende zu sehen sein. Dschamîl, der uns zum Tor brachte, brach trotz der ihn umschwirrenden Fragen und der Händchen, die ihn an der Schulter zogen und sich so fest in sein Jackett krallten, dass es beinahe zerriss, sein Schweigen nicht. Wie jemand, der jede Verantwortung von sich weist, sagte er schließlich:
     - Fragt Maurice.
     Den Busfahrer. Dschamîl hatte recht, die Sache Maurice zu überlassen, denn der Busfahrer war einer von uns, während Dschamîl aus einem weit entfernten Dorf in Akkar an der syrischen Grenze stammte. Maurice brachte uns zu unseren Eltern, wenn uns die Schule nach langem Drängen vielleicht einmal im Monat Freiheit gewährte. Je länger unsere Abwesenheit vom Dorf andauerte, desto größer, so glaubten unsere Eltern, sei unsere Chance auf Rettung. Wenn Maurice darauf wartete, dass wir einstiegen, hielt er das Steuer mit beiden Händen fest umklammert und starrte ins Leere.
     - Maurice!?
     Auch er antwortete nicht.
     Wir riefen ihn, stellten ihm in allen Tonlagen alle nur erdenklichen Fragen. Man hätte meinen können, er wolle nicht vor einer fremden Person sprechen, vor Dschamîl al-Râsi, der noch immer dort stand und Zeuge unseres Aufbruchs war. Er überwachte unser Verhalten auf den wenigen Metern Bürgersteig, der den Schulhof vom Autobus trennte, welcher neben dem Tor parkte - auf jenem externen Bereich, der noch Dschamîls Kontrolle unterstand.
     - Maurice! Was gibt es Neues? Wo kommst du her?
     Unzählige Fragen, eine jede von ihnen voll brennender Ungeduld, die ihm indes kein einziges Wort entreißen konnte. Er drehte sich nicht einmal nach hinten um oder blickte in den Spiegel, wie es seine Gewohnheit war, um sich zu vergewissern, dass wir uns diszipliniert verhielten und vollzählig waren. Dschamîl al-Râsi wartete, bis der letzte von uns eingestiegen war. Dann schloss er die hintere Bustür und sagte verlegen, wie jemand, der uns all sein Wissen anvertraut, oder als wollte er uns mit einer letzten Ermahnung verabschieden:
     - Passt auf euch auf!
     Maurice hörte die Tür zuschlagen, zündete den Motor und machte sich mit uns auf den Weg, ohne das Kreuz zu schlagen. Wir stritten uns nicht um die Fensterplätze und stürmten auch nicht los, um die breite Rückbank unter uns aufzuteilen, wo wir uns gerne der Länge nach breitmachten und unsere Beine nach Belieben ausstreckten, was uns die ermüdende Disziplin in den Klassenräumen vergessen ließ.
     Zuerst war Maurice ganz darin vertieft, uns aus der Stadt herauszukutschieren. Er schien die Schwierigkeiten, den Bus durch die engen Straßen zu steuern, als Vorwand zu nehmen, eine Antwort auf unsere ununterbrochenen Fragen hinauszuzögern. Und mit äußerster Beklemmung, die ihm deutlich anzusehen war, zu erklären, dass er nicht antworten könne, solange er sich darauf konzentrieren müsse, einen Zusammenstoß mit Obstkarren, umherziehenden Süßholzverkäufern oder akrobatisch durch den Verkehr steuernden Fahrradfahrern zu vermeiden, die ihren Kunden dicke Bohnen und Kichererbsenmus nach Hause brachten. Er wahrte sein Schweigen und stöhnte an jenem Tag auch nicht laut über das pulsierende Chaos auf dem Weizenmarkt. Er beschimpfte nicht die Träger, die, unter ihrer schweren Last zusammengebrochen, die Straßen verstopften. Er legte sogar Geduld mit einem Kutscher an den Tag, der mit seinem Pferd mitten zwischen dem auf dem Bürgersteig zum Verkauf ausgebreiteten Gemüse stecken geblieben war und den Verkehr behinderte. All diese Vorkommnisse waren seiner Meinung nach offenkundige Beweise für die Unfähigkeit der Araber, Kriege zu gewinnen, ohne dass er deutlich machte, ob er über diese Niederlagen glücklich war oder darunter litt. An jenem Morgen schien er unfähig zu sprechen. Mit seinen kurzen Armen, mit denen er das große Steuerrad umschlang, mühte er sich an den unzähligen engen Kurven auf der aufwärtsführenden Straße zur Schule der Amerikaner ab. Auf jeden Fall spürten wir, dass Maurice es zum ersten Mal, seit er uns nach Hause brachte, nicht eilig hatte anzukommen. Auch wir, so kann ich mich entsinnen, waren nicht in Eile.
     Wir ließen die letzten versprengten Gebäude beidseits der von Zedern bestandenen Straße hinter uns und bogen beim Wasserreservoir ab. Kaum fiel ihm das Steuern des Busses auf der geraden Strecke etwas leichter und kaum wäre es an der Zeit gewesen, uns mitzuteilen, warum er uns an einem Montag nach Hause brachte, hörten wir, als vor uns die hohen Berge auftauchten, die bis zu jener Stunde noch in einem leichten Morgennebel versanken, sein Schluchzen. Mit einem Mal wurde uns klar, dass er nicht reden würde, und so hörten wir auf zu fragen und blickten ihn in dem breiten Spiegel an, in dem sonst er uns beobachtete … Seine großen Augen hatten die Farbe von grünen Äpfeln, wie sie uns mein Großvater stets mit der Begründung zu pflücken verbot, sie seien noch nicht reif.
     Maurice weinte, und vor uns breitete sich die Ebene aus, die zum Dorf führte. Die am Fenster sitzenden Schüler steckten ihre Köpfe nicht heraus, um sich dem Wind auszusetzen und den Anblick der Olivenbäume zu genießen, die in die entgegengesetzte Richtung, zur Stadt hin, an uns vorbeirauschten und die Monotonie der Ebene durchbrachen. Mitten auf der Ebene schauten wir uns an, zählten uns gegenseitig ab. Achtzehn Schüler aus verschiedenen Klassen waren wir, aber nicht alle stammten wir aus Barka. Zwei Fremdlinge hatten sich in unsere Reihen gemischt. Tatsächlich wohnten ihre Familien im Dorf, aber es waren Fremde. Dschamîl machte keinen Unterschied zwischen uns. Sie waren Einwohner Barkas, aber nicht Barkas Söhne. Aber sie waren vorzugshalber mit uns gefahren und riskierten, die auf uns wartenden Gefahren mit uns zu teilen, statt auf den elenden Schulbänken sitzen zu bleiben.
     Maurice weinte, als wäre er allein, als starrten ihn nicht all diese Augenpaare an. Er war ganz bei sich selbst. Unser Nachbar Maurice. Er war nicht mit Kindern gesegnet worden. Nachdem er die Schüler zu Hause abgeliefert hatte, sah ich ihn immer neben seiner Frau auf einer Holzbank unter einem Brustbeerenbaum sitzen, neben sich ein Radio, das laut Lieder von Muhammad Abdelwahhâb spielte. Man hätte meinen können, sie warteten nur darauf, dass sich der Abend herabsenke. Maurice war der erste Mensch, den ich vollkommen ungehemmt habe weinen sehen. Er wischte sich die Tränen nicht ab, sondern ließ sie die Wangen bis aufs Lenkrad herunterkullern. Es war nicht üblich, auf diese Art zu weinen, außer in Liebesfilmen, die sich die älteren Schüler, die aus der Schule Reißaus genommen hatten, im Roxy-Kino zu Gemüte führten. Seine grünen Augen wirkten in dem breiten Spiegel noch größer. Während Maurice weinte und wir ihn schweigend anstarrten, nahmen wir in der Stille die unterschiedlichen Tonlagen des Quietschens und die Erschütterungen wahr, die der Omnibus erzeugte und die wir während unserer normalen Fahrten in Maurice' schwankendem Bus mit unserem ununterbrochenen Lärmen übertönten.

zu Teil 2
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