Vorgeblättert

Leseprobe zu J.J. Voskuil: Das Büro. Teil 3

09.07.2012.
"Herr Koning", sagte Slofstra. "Kann ich Sie eben sprechen?"
     "Ja, Herr Slofstra", antwortete Maarten. Er blieb stehen.
     Meierink blickte träge auf und lauschte.
     "Ich habe meinem Schwager erzählt, dass Frans weggeht, und der sagte: Kannst du die Stelle nicht kriegen?" Er sah Maarten listig an. "Der Name des Schwagers ist Balk! Doctorandus T. Balk, Referendar bei der Stadt Utrecht. Er hat Ökonomie studiert."
     Maarten zögerte.
     "Wenn Sie bei Herrn Beerta vielleicht ein gutes Wort für mich einlegen würden."
     "Aber können Sie das denn?"
     "Aber natürlich. Und sonst frage ich einfach Nijhuis, der hat doch nichts zu tun. Der sitzt den ganzen Tag da und dreht Zigaretten."
     "Ich werde Herrn Beerta sagen, dass Sie die Stelle gern haben würden", entschied Maarten.
     "Vielen Dank, mein Herr." Er richtete sich auf, als wollte er Haltung annehmen.

"Slofstra möchte gern Veens Stelle haben", sagte Maarten, als er den Raum betrat.
     Beerta drehte sich langsam um und sah ihn an. "Kann er das denn?"
     "Wenn Fräulein Haan und ich die Briefe schreiben. Die normalen Routinearbeiten kann er."
     "Er ist ein Roboter", gab Beerta zu. "Aber ein Roboter kann sehr nützlich sein, zumindest solange andere die Kopfarbeit erledigen." Er sah Maarten forschend an, als erwartete er von ihm die Entscheidung.
     "Ich finde, dass ein Büro wie das unsere in erster Linie eine soziale Funktion hat. So ein Mensch fi ndet nirgendwo anders eine Stelle."
     "Ich werde darüber nachdenken." Beerta machte sich wieder an die Arbeit.
     Eine Weile waren sie, jeder für sich, beschäftigt. Maarten las den Jahresbericht. "Haben Sie eigentlich noch mit der Frau dieses Zigeuners gesprochen?", fragte er.
     "Ich hatte eine interessante Unterhaltung mit ihr", antwortete Beerta, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.
     "Weil Sie darüber nichts im Jahresbericht schreiben."
     "Ich habe vor, die Kommission darüber mündlich zu informieren."
     Aus seinem Ton schloss Maarten, dass Beerta momentan anderes im Kopf hatte, so dass er nicht weiterfragte.
     "Wenn ich nun van der Haar sage, dass der Mann ein Roboter ist, nimmt er ihn nicht", sagte er eine halbe Stunde später, wobei er sich umdrehte. "Was glaubst du?"
     "Damit hat van der Haar doch nichts zu schaffen? Das entscheiden doch Sie?"
     "Es ist immer klug, ihm das Gefühl zu geben, dass er mitmischt. Vor allem jetzt, wo er gerade den Rang eines Direktors bekommen hat."
     "Das halte ich für Unsinn."
     "Natürlich ist das kein Unsinn. Du hast keinen Takt!" Seine Stimme klang gereizt. Er zuckte mit den Achseln. "Nun gut." Er machte sich erneut an die Arbeit. Wieder eine halbe Stunde später sagte er: "Ich werde van der Haar doch sagen, dass er ein Roboter ist, denn wenn es mir dann später vorgeworfen wird, kann ich mich darauf berufen." Er wandte sich um, um zu sehen, wie Maarten darauf reagierte.
     "Ich habe nichts dagegen", sagte Maarten gereizt, "aber ich fi nde es nach wie vor idiotisch."

           *

Nach einigen großen Bränden in der Innenstadt hatte van der Haar beschlossen, dass Gerbrandy und Dekker, Hausmeister und Telefonist des Hauptbüros, sowie de Bruin jeden Abend die Gebäude auf mögliche Brandherde kontrollieren sollten. Einige Tage später ließ er eine Stechuhr bestellen, und der Tischler erhielt den Auftrag, an zwölf verschiedenen Stellen ein Kontrollschloss anzubringen, das sie betätigen mussten. Letzteres war für de Bruin unannehmbar. "Das muss man sich mal vorstellen, Koning", sagte er zu Maarten, als der morgens ins Büro kam. "Ich arbeite hier jetzt dreizehn Jahre, und sie haben nie auch nur so viel an mir auszusetzen gehabt", er schnippte mit den Fingern, "auch wenn sie drauf bestehen, mach ich es nicht! Und das werde ich van der Haar auch sagen! Dann kann er sich ja jemand anderen suchen. Ich habe meine Ehre, auch wenn ich nicht Jura studiert habe."

"Und, was hat van der Haar gesagt?", fragte Maarten, als de Bruin den Kaffee brachte.
     "Ich bin noch nicht bei ihm gewesen, denn offi ziell weiß ich noch von nichts, nicht wahr? Gerbrandy weiß es schon, der hat die Gerätschaft ausgepackt, aber er darf es noch keinem erzählen. Aber ich hab jetzt Gerbrandy und Dekker so weit, dass sie sich auch weigern. Wenn man uns nicht traut, dann machen wir es eben nicht!"
     "Was ist denn los?", fragte Beerta und drehte sich um.
     "De Bruin hat Wachdienst", antwortete Maarten.
     "Wachdienst?", wiederholte Beerta erstaunt.
     "Wenn mal ein Feuer ausbricht", verdeutlichte de Bruin, "aber jetzt will Herr van der Haar, dass wir eine Stechuhr benutzen, so eine mit Schlüsseln, die man umdrehen muss, obwohl man nie auch nur irgendetwas an mir auszusetzen gehabt hat, das wissen Sie ja selbst."
     "Und bekommst du dafür auch etwas?"
     "Fünfzig Gulden."
     "Fünfzig Gulden! Das würde ich sofort übernehmen! Fünfzig Gulden! Dafür würde ich gern so einen kleinen Schlüssel umdrehen! Eine Stechuhr! Herrlich! Ich wollte immer schon eine Stechuhr haben!" Er rieb sich die Hände. "Sag Herrn van der Haar nur, dass ich es mache, wenn ihr nicht wollt. Fünfzig Gulden! Unglaublich!"
     De Bruin lächelte matt. "Das sagen Sie jetzt, Herr Beerta, aber wenn man Ihnen nicht vertrauen würde, würden Sie anders reden, und so denken Gerbrandy und Dekker auch darüber." Er nahm das Tablett und verließ den Raum.
     "Ich glaube, dass es van der Haar zu Kopf gestiegen ist, dass er Direktor geworden ist", sagte Beerta, sobald de Bruin draußen war. "Der will sich aufspielen. Lächerlich! Solange ich hier arbeite, hat es noch nie einen Brand gegeben."

"Und, was macht die Sache jetzt?", erkundigte sich Maarten nachmittags.
     De Bruin saß in seinem Verschlag und war dabei, aus den Zeitungen Artikel auszuschneiden, die Beerta zuvor angestrichen hatte. Er legte die Schere hin. "Stell dir vor, Gerbrandy hat mal nachgefragt, aber wir haben Pech. Die können uns vertraglich verpflichten. Und Dekker sagt, dass er auf das Geld nicht verzichten kann. Na, ich könnte gut drauf verzichten. Meine Ehre ist mir noch immer mehr wert als die lumpigen fünfzig Gulden. Und das werde ich van der Haar auch sagen. Dafür hat man sich jetzt dreizehn Jahre krummgelegt. Nie ist was verschwunden. Jeden Morgen bin ich vor den anderen da, um es schön warm zu machen. Dafür krieg ich keinen Cent. Ist mir egal, mach ich gern, aber dann müssen sie mir nicht mit sowas kommen."
     "Ich würde es mir nicht so zu Herzen nehmen."
     "Du hast gut reden, dir ist es nicht passiert. Aber ich werde es ihm sagen!"
     "Stell dich dann ein bisschen weiter rechts hin", sagte Maarten, "dann kann ich dich sehen."

Später am Nachmittag sah er sie zu viert aus dem Hauptbüro durch den Garten in Richtung des Büros schlendern: Gerbrandy und Dekker in gelben Kitteln, de Bruin in seinem alten, gestopften Pullover und der Tischler halb in Leder. Es regnete ein wenig, und es wehte ein starker Wind. Bevor sie das Büro betraten, bückte sich Dekker noch kurz, um eine Pfl anze zu betrachten. Wenig später kamen sie herein. Der Tischler, ein schon etwas älterer Mann mit einer Glatze, schritt voran. Er grüßte. Gerbrandy und Dekker murmelten etwas, de Bruin sagte nichts. "Und hier", sagte der Tischler. Die anderen folgten ihm zu der Ecke hinter Beertas Schreibtisch und blickten schweigend auf die angegebene Stelle. Beerta hatte aufgehört zu arbeiten und sah zu. "Das ist dann der zehnte", sagte Gerbrandy trübsinnig.

"Und?", fragte Maarten, als er um fünf Uhr an de Bruins Verschlag vorbeikam, um das Büro zu verlassen.
     "Ich hab es ihm gesagt", sagte de Bruin träge, "aber er sagt: De Bruin, du musst mir glauben, das ist keine Frage von Trauen oder Nicht-Trauen, aber ich bin dem Staat gegenüber verantwortlich. Er hatte die Unterlagen schon fertig, um mich zwingen zu können. Das hatte ich von Gerbrandy. Ich sag: Herr van der Haar, möchte der Staat denn etwa, dass wir uns den Hals brechen? Denn du wirst es nicht glauben, aber da war ein Schlüssel dabei, da musste man auf eine kleine Leiter steigen und mit einer Hand die Leiter festhalten, während man mit der anderen den Schlüssel umdreht, und das auch noch mit diesem Ding vor dem Bauch! Er sagt: De Bruin, sagt er, ich werde sofort den Auftrag geben, dass das geändert wird! Das ist doch auch zu verrückt! Auf so einer Leiter! Und dann vielleicht auch noch mit einer Hand den Schlüssel umdrehen! Das geht gar nicht! Auch wenn man es wollte!"

           *

"Ich habe mir doch überlegt, mal mit dem Bruder von Veen zu reden", sagte Beerta. "Ich fi nde, dass wir den Jungen nicht so einfach seinem Schicksal überlassen können."
     "Ich wusste nicht, dass er einen Bruder hat", sagte Maarten.
     "Er hat einen Bruder. Und an dem hängt er sehr."
     "Und glauben Sie, dass er wegen des Bruders seine Meinung ändern könnte?"
     "Das weiß ich nicht. Aber ich will es trotzdem versuchen. Er darf nur nicht wissen, dass ich den Bruder anrufe, und jetzt habe ich mir überlegt, dass ich ihn anrufe und frage, ob Frans Veen da ist, und wenn er dann Ja sagt, lege ich den Hörer auf, ohne meinen Namen zu nennen. Und wenn er nicht da ist, verabrede ich mich mit ihm. Was hältst du davon?"
     "Und was wollen Sie dem Bruder sagen?", fragte Maarten skeptisch.
     "Ich werde ihm sagen, dass er seinen Bruder überzeugen soll, etwas sozialer zu werden, denn er ist nicht sozial! Der Bruder ist es schon! Er hat also ein Vorbild."
     Maarten lachte.
     "Du bist anderer Meinung?", fragte Beerta etwas verstimmt.
     "Ja, aber ich finde es nett."
     Beertas Gesicht erstarrte. "Ich habe nicht die Absicht, nett zu sein", sagte er steif. "Ich fühle mich verantwortlich!"
     "Dann finde ich es verantwortlich", verbesserte sich Maarten lachend.

           *

"Haben Sie schon die Ausstellung über die Amsterdamer Juden im Historischen Kabinett gesehen?", fragte Maarten. Das Historische Kabinett befand sich schräg gegenüber dem Hauptbüro, und er hatte seine Mittagspause genutzt, um die Ausstellung zu besuchen.
     "Nein", antwortete Beerta, bei der Arbeit. Er sah nicht auf. "Muss ich das denn?"
     "Ja. Es ist eine gute Ausstellung."
     "Ach", er legte den Stift weg, "warum erzählst du mir das jetzt? Ich habe überhaupt keine Lust, die Ausstellung zu besuchen." Er stand auf und drehte sich mürrisch zu Maarten um. "Du solltest doch wissen, dass ich überhaupt keine Zeit habe, Ausstellungen zu besuchen!"
     "Dann gehen Sie eben nicht." Maarten zog den Stuhl unter seinem Schreibtisch hervor, um sich wieder an die Arbeit zu machen.
     "Ich habe genug von all den Ausstellungen! Sie sollen mir eine Einladung schicken! Im Übrigen will ich überhaupt keine Ausstellungen sehen."
     "Weil Sie da Leute treffen."
     "Da treffe ich Leute, ja! Und dann weiß jeder, dass ich dort gewesen bin!"
     "Na, dann gehen Sie eben nicht. Es ist eine nette Ausstellung, aber Sie hätten auch zu spät davon erfahren können."
     "Das ist es ja gerade! Dass es eine nette Ausstellung ist! Dann sagt demnächst jeder: Ach herrje, bist du nicht in der Ausstellung gewesen? Die solltest du aber gesehen haben. Du hältst doch so viel von den Juden." Er tippelte zum Tisch und kramte in den Papierstapeln. "Ach, wie ärgerlich." Er sah nach draußen. "Und es regnet auch noch! Ich habe überhaupt keine Lust darauf!" Er stampfte mit dem Fuß auf.
     Maarten gab darauf keine Antwort mehr. Er machte sich an die Arbeit. Fünf Minuten später packte Beerta seine Tasche und verließ den Raum. "Na, dann bis gleich", sagte er knapp.

Anderthalb Stunden später war er zurück. Er blieb neben Maartens Schreibtisch stehen, die Tasche in der Hand. "Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie etwas so genossen!", sagte er feierlich. "Alle Erinnerungen an früher kamen zurück! Es war herrlich! Ich hätte es dir sehr übel genommen, wenn du mir diese Ausstellung verschwiegen hättest!" Er sah Maarten streng an. "Und ich nehme es dir sehr übel, dass du nicht mit mehr Nachdruck gesagt hast: Da musst du hin!"
     "Ich duze Sie doch gar nicht."
     "Dann hättest du sagen müssen: Da müssen Sie hin!"

           *

Mit freundlicher Genehmigung des C.H. Beck Verlages
(Copyright Verlag C.H. Beck)

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