Vorgeblättert

Leseprobe zu Hannah Arendt, Gershom Scholem: Der Briefwechsel. Teil 3

30.08.2010.
[133 Arendt an Scholem
New York, 20. Juli 1963
Briefkopf Hannah Arendt]

HANNAH ARENDT

370 Riverside Drive
New York 25, New York

den 20. Juli 1963

Lieber Gerhard,
ich fand Ihren Brief vor, als ich vor acht Tagen nach Hause kam. Sie können sich ja vorstellen, wie das aussieht, wenn man fünf Monate weg war. Ich schreibe Ihnen wirklich in dem ersten ruhigen Augenblick und vielleicht doch nicht so ausführlich, wie ich sollte.
     Es gibt in Ihrem Brief einige Behauptungen, die nicht strittig sind, weil sie einfach falsch sind, und ich will sie vorwegnehmen, damit wir zu den Dingen kommen, die es wirklich wert sind, diskutiert zu werden.
     Ich gehöre nicht zu den "Intellektuellen, die aus der deutschen Linken hervorgegangen sind". Das konnten Sie nicht wissen, weil wir uns in der Jugend nicht gekannt haben. Es ist eine Tatsache, deren ich mich keineswegs rühme und die ich ungern profiliere, besonders seit der McCarthy-Zeit hier im Lande. Ich habe Marx? Bedeutung erst sehr spät erkannt, weil ich mich in der Jugend weder für Geschichte noch für Politik interessierte. Wenn ich überhaupt aus etwas "hervorgegangen" bin, so aus der deutschen Philosophie.
     Bei dem zweiten Faktum kann ich leider nicht sagen, dass Sie es nicht wissen können. Es hat mich in der Tat merkwürdig berührt, dass Sie schreiben "ich betrachte Sie durchaus als Angehörige dieses [nämlich des jüdischen] Volkes und als nichts anderes". Tatsache ist, dass ich nicht nur niemals so getan habe, als sei ich etwas anderes als ich bin, ich habe niemals auch nur die Versuchung dazu verspürt. Es wäre mir vorgekommen wie zu sagen, dass ich ein Mann sei und nicht eine Frau, also verrückt. Ich weiss natürlich, dass es ein Judenproblem auf dieser Ebene gibt, aber es ist niemals das meine gewesen. Nicht einmal in der Kindheit. Judesein gehört für mich zu den unbezweifelbaren Gegebenheiten meines Lebens und ich habe an solchen Faktizitäten niemals etwas ändern wollen. Eine solche Gesinnung grundsätzlicher Dankbarkeit für das, was ist wie es ist, gegeben und nicht gemacht, physei und nicht nomoi ist präpolitisch, hat aber doch unter aussergewöhnlichen Umständen wie etwa den Umständen jüdischer Politik auch gleichsam negativ politische Folgen: sie macht bestimmte Verhaltungsweisen unmöglich, und zwar scheint mir genau diejenigen, die Sie in meine Ausführungen hineinlesen. (Um ein anderes Beispiel zu geben: In seinem Nachruf auf Blumenfeld sprach Ben-Gurion sein Bedauern darüber aus, dass Blumenfeld in Israel nicht seinen Namen geändert habe. Dass Blumenfeld das nicht getan hat, kam natürlich aus genau der gleichen Gesinnung, die ihn in der Jugend zum Zionisten gemacht hatte.) Meine Denkungsart in diesen Dingen war Ihnen, scheint mir, bekannt, und mir ist unerklärlich, warum Sie mich in eine Schublade einordnen, in die ich nicht passe und auch nie gepasst habe.
     Nun zur Sache selbst. Um an das letzte gleich anzuschliessen, will ich mit der Ahabath Israel beginnen. (Ich wäre Ihnen übrigens sehr dankbar, wenn Sie mir sagen würden, seit wann dieser Begriff in der hebräischen Sprache und im Schrifttum eine Rolle spielt, wann er zum ersten Mal aufgetreten ist, etc.) Sie haben vollkommen recht, dass ich eine solche "Liebe" nicht habe, und dies aus zwei Gründen: Erstens habe ich nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv "geliebt", weder das deutsche, noch das französische, noch das amerikanische, noch etwa die Arbeiterklasse oder sonst was in dieser Preislage. Ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig. Zweitens aber wäre mir diese Liebe zu den Juden, da ich selbst jüdisch bin, suspekt. Ich liebe nicht mich selbst und nicht dasjenige, wovon ich weiss, dass es irgendwie zu meiner Substanz gehört. Um Ihnen klar zu machen, was ich meine, möchte ich Ihnen von einer Unterhaltung mit Golda Meir berichten, die mir übrigens sehr gut gefallen hat, so dass ich Sie bitte, in das, was folgt, keinerlei persönliche Animosität hineinzulesen. Wir sprachen über die meines Erachtens verhängnisvolle Nicht-Trennung von Religion und Staat in Israel, die sie verteidigte. Dabei sagte sie sinngemäss, ich besinne mich auf den genau- en Wortlaut nicht mehr: "Sie werden ja verstehen, dass ich als Sozialistin nicht an Gott glaube, ich glaube an das jüdische Volk." Ich bin der Meinung, dass dies ein furchtbarer Satz ist, und ich habe ihr nicht geantwortet, weil ich zu erschrocken war, aber ich hätte antworten können: Das Grossartige dieses Volkes ist es einmal gewesen, an Gott zu glauben, und zwar in einer Weise, in der Gottvertrauen und Liebe zu Gott die Gottesfurcht bei weitem überwog. Und jetzt glaubt dieses Volk nur noch an sich? Was soll daraus werden? - - Also, in diesem Sinne "liebe" ich die Juden nicht und "glaube" nicht an sie, sondern gehöre nur natürlicher- und faktischerweise zu diesem Volk.
     Man könnte über diese Dinge auch politisch sprechen, und dann würden wir uns über die Frage des Patriotismus zu unterhalten haben. Dass es keinen Patriotismus geben kann ohne ständige Opposition und Kritik, darüber dürften wir uns beide einig sein. Ich kann Ihnen in dieser ganzen Frage nur eine Sache zugeben, nämlich, dass Unrecht, begangen von meinem eigenen Volk, mich selbstverständlich mehr erregt als Unrecht, das andere Völker begehen.
     Es ist schade, dass Sie das Buch erst gelesen haben, als von israelischer und amerikanisch-jüdischer Seite eine Entstellungskampagne dagegen in Gang gekommen war. Es gibt leider sehr wenig Menschen, die von solchen Dingen unbeeinflusst sind. Ich kann mir nicht gut denken, dass Sie die folgenden Dinge missverstanden hätten, wenn Sie das Buch unvoreingenommen und unbeeinflusst von der sog. Öffentlichen Meinung, die in diesem Falle manipuliert ist, gelesen hätten: Ich habe natürlich Eichmann nie zu einem "Zionisten" gemacht. Wenn Sie die Ironie dieses Satzes nicht verstanden haben, der ja ausserdem deutlichst in indirekter Rede, nämlich so, wie sich Eichmann selbst darstellte, spricht, dann kann ich mir wirklich nicht helfen. Ich kann Ihnen nur versichern, dass dutzende von Lesern vor der Publikation des Buches hierüber nie einen Zweifel gehabt haben. Ferner, die Frage, warum die Juden "sich haben töten lassen", habe ich nie gestellt, sondern habe Hausner angeklagt, sie gestellt zu haben. Es hat kein Volk und keine Gruppe in Europa gegeben, die sich unter dem unmittelbaren Druck des Terrors anders verhalten hat als die Juden. Die Frage, die ich aufgeworfen habe, ist die der Kooperation jüdischer Funktionäre, von denen man nicht sagen kann, dass sie einfach Verräter waren (die hat es auch gegeben, das ist aber uninteressant), und zwar zu Zeiten der Endlösung. Mit anderen Worten, bis 1939 oder 1941, wie man es nun ansetzen will, ist alles noch verständlich und entschuldbar. Das Problem beginnt danach. Über diese Sache wurde während des Prozesses gesprochen, ich konnte sie also nicht vermeiden. In ihr liegt das Stück "unbewältigte Vergangenheit", das uns angeht. Und wenn Sie vielleicht recht haben, dass es ein "abgewogenes Urteil" noch nicht geben kann, obwohl ich es bezweifle, so glaube ich, dass wir mit dieser Vergangenheit nur fertig werden können, wenn wir anfangen zu urteilen, und zwar kräftig. Mein Urteil in der Angelegenheit habe ich klar ausgesprochen, aber Sie haben es offenbar nicht verstanden. Es gab keine Möglichkeit des Widerstandes, aber es gab die Möglichkeit, nichts zu tun. Und um nichts zu tun, brauchte man kein Heiliger zu sein, sondern man brauchte nur zu sagen: ich bin ein poscheter Jude und ich will mehr nicht sein. Ob diese Leute in allen Fällen verdient haben, gehängt zu werden, ist eine ganz andere Frage. Was hier zur Debatte steht, sind die Argumente, mit denen sie sich vor sich selbst und vor andern gerechtfertigt haben. Über diese Argumente steht uns ein Urteil zu. Diese Leute standen auch nicht unter dem unmittelbaren Druck des Terrors, sondern nur unter dem mittelbaren. Über die Gradunterschiede in diesen Dingen weiss ich Bescheid. Es gab da immer noch einen Raum des freien Entschlusses und des freien Handelns. Genau so, wie es bei den SS-Mördern, wie wir heute wissen, einen begrenzten Raum der Freiheit gab: sie konnten sagen, ich mache dies nicht mit, und es passierte ihnen gar nichts. Da wir es in der Politik mit Menschen und nicht mit Helden oder Heiligen zu tun haben, ist diese Möglichkeit der non-participation offenbar für die Beurteilung des einzelnen, nicht des Systems, entscheidend.
     Und mit einem einzelnen haben wir es im Eichmann-Prozess zu tun gehabt. Ich habe in meinem Bericht nur über Dinge gesprochen, die im Prozess selber vorkamen. Ich konnte infolgedessen gar nicht die Heiligen vorbringen, von denen Sie sprechen. Ich habe statt dessen mich auf die Widerstandskämpfer beschränken müssen: deren Widerstand, wie ich auseinandersetzte, deshalb so hoch angerechnet werden muss, weil er unter Bedingungen erfolgte, unter denen es Widerstand eigentlich gar nicht geben konnte. Unter den Zeugen, die Herr Hausner vorführte, gab es keine Heiligen, es gab nur einen völlig reinen Menschen, das war der alte Grynspan, über den ich ausführlich berichtete. Es hat ja auch von deutscher Seite immerhin etwas mehr gegeben, als was ich erwähnte. Ich musste bei dem einzigen Feldwebel Schmidt bleiben, weil im Prozess kein anderer Name erwähnt und kein anderer Fall genannt wurde.
     Dass die Grenze zwischen Opfern und Verfolgern in den Konzentrationslagern selber verwischt worden ist, und zwar berechnet und absichtlich, habe ich in den "Elementen totaler Herrschaft" ausführlich dargestellt. Um zu wiederholen: dies meine ich nicht mit dem jüdischen Anteil an Schuld. Dies gehörte zu dem System und hat in der Tat mit den Juden nicht das geringste zu tun.
     Wie Sie zu der Meinung haben kommen können, dass mein Buch "ein Hohn auf den Zionismus" ist, wäre mir ganz und gar unverständlich, wenn ich nicht wüsste, bis zu welchem Masse man es in zionistischen Kreisen verlernt hat, Meinungen auch nur zu hören, die nicht von vorneherein abgestempelt sind und auf die jedermann bereits gefasst ist. Ein zionistischer Freund von mir sagte ganz naiv, dass ja vor allen Dingen das letzte Kapitel ausserordentlich pro-Israel sei, (Zuständigkeit des Gerichts, Rechtfertigung der Entführung), was es natürlich ist. Was Sie dabei verwirrt, ist, dass meine Argumente und meine Denkweise nicht vorgesehen sind. Oder mit anderen Worten, dass ich unabhängig bin. Und damit meine ich einerseits, dass ich keiner Organisation angehöre und immer nur im eigenen Namen spreche; und andererseits, dass nur Selber-Denken fett macht und dass, was immer Sie gegen die Resultate einzuwenden haben, Sie selbige nicht verstehen werden, wenn Ihnen nicht klar ist, dass sie auf meinem Mist gewachsen sind und niemandes sonst.
     Es ist schade, dass Sie Ihren Brief nicht mit Ihrem Argument gegen die Vollstreckung des Todesurteils "belastet" haben. Denn ich glaube, dass wir in der Diskussion dieser Frage am klarsten unsere wirklich bestehenden und nicht nur unsere vermeintlichen Differenzen hätten klarstellen können. Sie sagen, es war "historisch falsch". Meiner Meinung nach war es politisch (das Historische interessiert hier nicht) nicht nur richtig, es wäre schlechterdings unmöglich gewesen, das Urteil nicht zu vollstrecken. Man hätte das Todesurteil nur dann nicht vollziehen brauchen, wenn man Jaspers? Vorschlag gefolgt wäre und Eichmann sozusagen an die United Nations "ausgeliefert" hätte. Das hat ja niemand gewollt, und es war vermutlich auch unmöglich, also musste man ihn hängen.
Gnade kam nicht in Frage, nicht aus juristischen Gründen - - sie steht ja ausserhalb des Rechtsapparates - - sondern weil sie der Person gilt im Unterschied zur Tat: der Gnadenakt verzeiht nicht den Mord, sondern begnadigt den Mörder, weil er mehr ist als seine Tat.
     Ganz zum Schluss komme ich zu der einzigen Sache, in der Sie mich nicht missverstanden haben, bei der ich mich gefreut habe, dass Sie sie entdeckt haben, und zu der ich mich jetzt doch nur ganz kurz äussern will. Sie haben vollkommen recht, I changed my mind und spreche nicht mehr vom radikal Bösen. Wir haben uns lange nicht gesehen, sonst wären wir vielleicht darauf zu sprechen gekommen. Unklar ist mir, warum Sie die Wendung von der "Banalität des Bösen" ein "Schlagwort" nennen. Soviel ich weiss, hat noch niemand dies Wort gebraucht; aber das ist ja egal. Ich bin in der Tat heute der Meinung, dass das Böse immer nur extrem ist, aber niemals radikal, es hat keine Tiefe, auch keine Dämonie. Es kann die ganze Welt verwüsten, gerade weil es wie ein Pilz an der Oberfläche weiterwuchert. Tief aber, und radikal ist immer nur das Gute. Wenn Sie über das radikal Böse bei Kant nachlesen, werden Sie sehen, dass er nicht viel mehr meint als ordinäre Schlechtigkeit, und das ist ein psychologischer, kein metaphysischer Begriff. Aber, wie gesagt, ich möchte mich über diese Dinge nicht weiter äussern, da ich die Absicht habe, darüber noch einmal in anderem Zusammenhang und ausführlich zu handeln. Aber das konkrete Modell für das, was ich meine, wird Herr Eichmann wohl bleiben.
     Sie schlagen vor, Ihren Brief zu veröffentlichen und fragen mich, ob ich etwas dagegen habe. Ich möchte von einer Transformation in die dritte Person abraten. Der Wert dieser Auseinandersetzung besteht darin, dass sie Briefcharakter hat und auf dem Boden der Freundschaft geführt wird. Wenn Sie also bereit sind, Ihren Brief mit meiner Antwort zugleich zu veröffentlichen, so habe ich selbstverständlich nichts dagegen. Aber lassen wir es bei der Briefform.
     Über Ihr ausserordentliches Buch zur Philosophie der Kabbala, das ich immer noch nicht habe zuende lesen können, ein ander Mal.
In alter Freundschaft Ihre
Hannah [handschriftl.]

[NLI, Scholem-Nachlaß; Original; Typoskript.]



Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages

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