Vorgeblättert

Leseprobe zu Giwi Margwelaschwili: Der Kantakt. Teil 2

08.06.2009.
Der erste Hinweis einer Buchperson auf den leeren Leserplatz in ihrer Geschichte

Als wir nun aber am Bahnhof von Rheinsberg in die Kutsche umgestiegen waren, wurde es schlagartig anders. Ich, der leere, lesende Platz, bekam plötzlich eine textlich-thematische, eine wortwörtliche Ausdrucksform: Ich wurde in der Schilderung mitgenannt. Man stelle sich mein Erstaunen und meine Freude vor, als mir das zum ersten Mal widerfuhr! Als es mir klar wurde, glaubte ich zu träumen. Aber nein! Es war wahr, textweltwirklich wahr! Ich verhehle nicht, daß mich dieser kuriose Umstand bestimmt hat, "am Ball" zu bleiben und weiter mit den beiden mitzufahren. Denn nichts ist ja leichter für einen Leser, als die Lektüre fallen zu lassen, seinen leeren Platz in dem Lesestoff aufzugeben, ihn, indem er sich entfernt, noch leerer zu machen, als er ohnehin schon ist. Man errät, daß mich vor allem die Neugier, ob sich noch ähnliche Anspielungen auf mich in dieser Geschichte fänden, antrieb, die Reise mit dem netten Liebespaar fortzusetzen. Vielleicht, sagte ich mir, als ich mit Claire und Wolfgang in der Kutsche saß und der Wagen rollte, würde mein leerer Platz in dieser Geschichte noch schärfer konturiert werden, vielleicht würde ich mich als Leser sogar konkretisieren, aus der Leere hervorkommen und für die zwei lieben jungen Leute auch realpersönlich wahrnehmbar werden können. Gespannt, ob sich meine textologischen Erwartungen erfüllen würden, saß ich den beiden jetzt in der schaukelnden Kutsche gegenüber, und was sie miteinander redeten (ich glaube, das Gespräch drehte sich um ihre Koffer), erschien mir gleich viel weniger bedeutsam.

Was aber nun den ersten Hinweis auf mich angeht, so wird er in dem Text folgendermaßen gegeben: Zunächst wird gesagt, daß wir in die Kutsche stiegen und in dem "wir" bitte ich auch den Leser mitzuverstehen; dann wird gesagt, daß die beiden durch die holprige Fahrt auf ihren Sitzen herumrutschten, die Fenster klirrten, das Fuhrwerk knarrte und die Verständigung zwischen ihnen deswegen mit Handzeichen erfolgen mußte. Dann steht da der kurze lapidare Satz "Der Wagen war leer.". Man kann mir nun sagen, daß das eine Aussage ist, die eine Leere der Kutsche konstatiert. Das ist natürlich richtig. Aber ebenso wahr ist, daß sich meine Leere in der genannten Leere mitversteht, daß es diese thematische Leere in der Kutsche ohne die Leere, welche ich, der Leser, dort mitvorstelle, gar nicht geben könnte, die Leere ohne mich in dieser thematischen Ansicht gar nicht als leer zu empfinden wäre. Hieraus folgt: Besagter Satz ist unter anderem auch ein Hinweis auf den leeren Leserplatz. Daß dieser Hinweis sogar die Hauptsache des ganzen Satzes ist, hoffe ich mit meinen weiteren Analysen unserer Lesereisegesellschaft deutlich zu machen. Die Rheinsberger Liebesgeschichte ist ein besonders "leseroffenes" Stück Literatur. Mir jedenfalls ist sie in diesem Sinne aufgegangen und vielleicht wird sie anderen Lesern, welche mit ihrem leeren Dasein in den Buchweltbezirksgeschichten ebenfalls ein Problem haben, ebenso erscheinen.


Über eine graduelle Art der Entfernung des Lesers von seinem Platz in den Buchweltbezirksgeschichten

Aber weiter: Nach diesem, wie ich finde, überraschend direkten Fingerzeig, kommt gleich ein zweiter - auf Seite 24, und wer als Leser dieselbe Rowohlt-Ausgabe der Love Story hat wie ich, Herausgabejahr 1992, kann dort nachsehen. Er ist allerdings nicht ganz von derselben direkten Art wie der erste, und auch darin liegt, glaube ich, ein System. Sehen wir erst, wie dieser interessante, die Buchbezirksinnenwelt in meiner Richtung transzendierende Hinweis textlich aussieht. Zuerst wird gesagt, daß die Kutsche vor das Hotel fuhr und "sie ausstiegen". In dem "sie" ist wiederum der Leser mitgemeint, denn sonst sähe man keinen Wagen, kein Hotel, natürlich keine dort absteigenden Buchpersonen, und man sähe auch kein Rheinsberg. Kurz: Man sähe und wüßte nichts von alledem. Ich steige dort also zusammen mit unseren netten jungen Leuten aus. Sie haben viel Gepäck, und ich würde ihnen gerne tragen helfen. Aber als leerer Platz, der ich da nun einmal bin, geht das nicht, da muß schon der Hausknecht anpacken, der hier eine thematische Hintergrundperson ist. Wie das Pärchen mit der ganzen Bagage in seinem Zimmer ist und die Tür hinter ihm ins Schloß fällt, kommt der Satz, der mich, den Leser, mitenthält: "...sie waren allein." Man kann natürlich sagen, daß diese Worte gar nichts anders markieren als eben das Alleinsein der zwei Hauptpersonen in dem Hotelzimmer. Dagegen setze ich denselben Einwand wie vorhin: Allein könnten die beiden nicht sein, wenn die Leere des ganzen übrigen Zimmerraumes nicht auch und vor allem aus der Leere meines Leserplatzes dort bestünde. Dieses schlagende Argument ist jedenfalls mit keinen empirischen Beobachtungen in der Textweltwirklichkeit umzuwerfen. Allerdings hat der Hinweis auf den Leser, der in diesem Satz mitgegeben ist, an Unmittelbarkeit spürsam verloren. Er ist hier bloß noch durch das Prisma der buchpersönlichen Subjektivität von Claire und Wolfgang zu verstehen, denn "allein" sind in erster Linie diese beiden Buchpersonen. Aus der subjektiven Eigenschaft ihrer Befindlichkeit in dem Zimmer ist die Leere des Raumes mit meinem leeren Platz als Mittelpunkt ja nur deduzierbar. Nach meinem Empfinden ist diese plötzliche Indirektheit des Hinweises auf mich nichts Zufälliges. Vielmehr deutet sich damit ein langsames, graduelles Abrücken im Ausdruckssystem der Rheinsberger Liebesgeschichte an, eine erste Distanzierung der beiden Hauptpersonen von mir, ihrem Leser.

Das bestätigt der letzte Index, den mein leerer Leserplatz in dem Text über die Anreise von Clairchen und Wölfchen in Rheinsberg erhält. Es ist der lakonischste und somit radikalste, den man sich nur denken kann, und unterscheidet sich von den zwei vorigen Arten solcher transzendenter Fingerzeige durch seine Verbreitung und Allgemeinheit in der ganzen Weltliteratur. Es gibt keinen größeren Text, in dem er sich nicht findet. Alle Geschichten sind davon in ihrer Textstruktur intervallisch geprägt. Warum ist diese Anzeichnung des leeren Leserplatzes die lakonischste und sogar radikalste? Weil sie den leeren Platz ohne den Leser in das Blickfeld des Lesers rückt, weil der Leser, wo und wenn ihm in einem Text dieser Wink gegeben wird, ohne viel Worte sofort weiß, daß seine luftig-leere Anwesenheit in der Geschichte beendet ist und sein Geist den leeren Platz räumen muß. Er ist jetzt schlicht unerwünscht, unnötig und überflüssig. Das Zeichen, von dem ich spreche, ist immer und überall Symbol der Ausklammerung des Lesers aus der Buchwelt, und scheint es auf, ist er vor die Buchweltgeschichtstür gesetzt. Ich habe alle Symbole dieser Art bisher als einen Affront empfunden, obwohl ich zugeben muß, daß im Grunde gar nichts Verletzendes daran ist. Im Gegenteil: Der Leser bekommt dadurch die Möglichkeit, sich kurz auszuruhen oder die Lektüre für eine Zeit zu unterbrechen, was dem Überdenken des Gelesenen förderlich ist. Gewiß. Und doch ist es wenig vergnüglich, wenn einem beim Lesen plötzlich bedeutet wird, den leeren Platz auf der Stelle zu verlassen, sich aus der Buchweltbezirkswirklichkeit hinauszubegeben und sei es auch nur für den Bruchteil einer Lese-Lebenssekunde. Was man in solchen Momenten in den Texten nur noch wahrnimmt, ist der leere Leserplatz, der jetzt umso leerer ist und einem als ein leeres, längliches und weißes Feld auf der Buchseite entgegenglänzt. Natürlich geht der Text unter dem weißen leeren Streifen meistens gleich weiter, die Tür - nennen wir sie die Buchweltbezirkstür -, die da plötzlich vor unserer Nase zugeschlagen wurde, wird gleich wieder geöffnet, wir Leser werden gebeten, unseren leeren Platz in der Geschichte einzunehmen und von da aus wieder alle thematischen Ereignisse, die in der Story noch zu erwarten sind, als Zuschauer zu begleiten. Keine Frage! Und doch hatte dieser weiße Zwischenraum in den Textgefügen für mich bisher immer etwas Unangenehmes. Warum wohl? Nun, weil man als Leser an solchen Stellen für einen Moment mit seinem eigenen Leserwesen konfrontiert ist, weil diese Momente so etwas wie eine Leserwesensschau sind, wie Momente der unmittelbaren Einsicht in die Leere des leeren Platzes, die man als Leser ja gewöhnlich immer nur sein kann. Jeder weiße Blattstreifen auf den Textflächen ist, jedenfalls nach meiner Empfindung, wie ein Spiegel, der dem Leser seine thematische Bedeutungslosigkeit in den Buchweltbezirkswirklichkeiten vorspiegelt. Man versteht nun hoffentlich, was diese Stufen für den empfindsameren - die textologischen, buchweltphilosophischen und -physikalischen Aspekte seines Lesestoffes mitregistrierenden - Leser bedeuten müssen.

Aber seltsamerweise hatte mich in der Rheinsberger Liebesgeschichte der Anblick des ersten weißen Zwischenraumes auf dem Buchblatt (auf Seite 26) gar nicht so unangenehm berührt, der Blick in den Leserspiegel oder, genauer gesagt, auf den von mir geräumten leeren Leserplatz in der Geschichte löste kein ärgerliches Gefühl mehr in mir aus. Ich nahm diese kurze rigorose Ausklammerung meiner Leserperson ganz ruhig hin, ohne mir irgendwelche finsteren Gedanken zu machen; ja, was ich in jenem Moment verspürte, war eigentlich nur eine ziemlich intensive Vorfreude auf mein Reintegriertwerden in die Geschichte. Das übrigens gleich erfolgte, denn der Leser wird an jener Stelle nur für wenige Buchweltminuten aus der Story entlassen.

Man höre noch kurz, wie die Abschiebung des Lesers geschieht. Unsere kleine Lesereisegesellschaft machte sich in dem Hotelzimmer gleich ans Auspacken. Ich stand als luftiger Niemand dabei und amüsierte mich köstlich über die Worte, die sie dabei seufzend wechseln: Clairchen nennt Wölfchen "Hulle-Pulle". Als sie fertig ausgepackt haben, gehen sie zusammen die Hoteltreppe hinunter. Ich folge natürlich und hier passiert es: Sie gehen weiter in die Buchweltbezirksstadt hinein, ich aber gerate in den weißen Zwischenraum der Buchseite Nr. 26, das heißt, ich verliere die beiden aus meiner Sicht, die Buchweltbezirksstadt Rheinsberg versinkt mir, und stattdessen starre ich nur in die weiße Leere meines Leserplatzes, auf dem es nun auch mich, den Lesergeist nicht mehr gibt. Doch, wie gesagt, es stört mich nicht. Warum nicht? Weil diese kleine weiße Ödnis nur eine Abwandlung der zwei vorher gegebenen Hinweise auf meine Leserperson ist, weil die Ausklammerung meines Lesergeistes behutsam, also schrittweise, vorgenommen worden ist und dieser Sachverhalt mich milder stimmt.

Teil 3
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