Vorgeblättert

Leseprobe zu Esther Kinsky: Sommerfrische. Teil 3

09.02.2009.
Zuckerfabrik

Der große Schornstein der Zuckerfabrik warf einen schiefen Schatten auf den schiefen Hof. Einen Morgenschatten, an dessen Rand die fleischwütigen Hunde ihre Zähne in blutleeres Altbrot schlugen, sie schäumten über Schimmelkrusten, Wurstpellen, Käserinde. Die große Hundearmut. Drei Frauen mit Eimern und Besen standen am Tor. Es war kühl vor Stille hinter dem Hundegebell. Sie rüttelten an dem Gitter, es hallte über den Hof, Fenster und Türen blieben geschlossen. Die Hunde rasten, eine Frau trat gegen eine Gitterritze mit gefletschter Hundeschnauze, Ildi, lass das, sagte eine andere, lass doch den Hund, Ildi, aber Ildi trat nochmal gegen das Gitter, die Hundeschnauze war verschwunden, zu den Wurstpellen zurückgekehrt. Die drei Frauen traten an die Ufermauer, unten trieb der Fluss, seicht wie ein Rinnsal, die borstige Brombeerböschung dürr, Sand- und Kieselbänke wie Brandblasen im braunen Wasser. Die Frauen rauchten. Schnipsten die Asche in die welken Brennnesseln jenseits der Mauer. Sie waren allein. Eine Straßenbahn fuhr über die Eisenbrücke. Die Fabrik lag grell im Morgen. Blau und gelb, dazwischen Schienen, schmale Schienen, in denen die Sonne sich stumpfweiß spiegelte. Früher waren kleine Waggons mit hochgetürmten Rüben von der Brücke bis in die Fabrik gerollt, früher, in der Großen Spielzeugzeit, als ein Schlüssel, der fast so aussah wie ein Herz mit zwei kleinen Löchern darin, die Welt beiderseits des Flusses so aufzog, dass der Weg von der erdbraunen Rübe bis zur weißen Zuckertüte glatt und makellos war, gesäumt von Pferden, Straßenbahnen, winkenden Fischern, beschürzten Reinmachfrauen mit klappernden Eimern, Arbeitern mit groß gewölbten Muskeln unter den blauen Jacken, mit Schnurrbärten und Lachmund, und Rauch bauschte sich weiß am Schornstein.

Niedriges gelbblütiges Unkraut spross zwischen allen Ritzen, ob Eisen, ob Stein, der Schatten des Schornsteins wurde kürzer, die Frauen schlugen mit den Eimern ans Tor, die Hunde rasten. Ein Mann mit Mütze stand in der Tür vom Pförtnerhaus, was sollte diese Mütze, vielleicht eine Sonnenmütze, gegen das grelle Licht dieses Sommers, das die Haarwurzeln auszehrte, die Hitze, die durch den Schädel drang, eh man sich versah? Eine Aufsehermütze, die die Augen zum Schweifen über leeres Gelände beschattete.

Geht weg! rief er, Geht nach Hause! Alles dichtgemacht!

Die Hunde kläfften jetzt hell zwischen dem Mützenmann und den Frauen hin und her.

Er kam ans Tor, ein Fremder, aber die Hunde kläfften spitz und wild, als hätten sie im Laufe kürzester Zeit gelernt, ihn zu lieben, er warf den Hunden Fleisch vor, und Fliegen sammelten sich in Schwaden aus dem Nichts, summten über den knurrenden Ohren der Hunde, die die Brocken im Flug schon rissen. Fffitt, sagte der Mützenmann, der ihnen so fremd war, mit dem Arm schnitt er quer durch die Luft, Hier wird alles abrasiert, sagte er.

Die Frauen nickten. Der Schornstein würde fallen, Hunde und Mützenmann unter sich begraben. Baggerzähne würden Pflasterstein, Schienen und gelbblütiges Kraut aus der Erde fressen, die gelben und blauen Mauern stumm und langsam in sich zusammensinken, die Wucht des Zusammenbruchs würde die Eisenrahmen der Fenster verziehen und die Scheiben splittern lassen, die Uferpappeln am Rand des Fabrikgeländes mit in den Schutt reißen, ein herrliches Trümmerfeld würde entstehen, über das man hinwegschauen könnte bis ins weite Land, in fernere Ortschaften, zu den holprigen Straßen, an denen die Häuser der Frauen lagen, wo ihre Hühner in staubigen Höfen pickten, der Sommer reglos hing, klebrige Fetzen zwischen Tor, Schuppen, Brunnenschwengel, dem wütend rankenden Wein der Veranda. Ein Trümmerfeld, über das mit langsamen Schritten die Sammler schweifen würden, die scharfäugigen Geduldigen, die immer suchen, Frauen mit langen Röcken und großen Körben, Männer in breitkrempigen Hüten, in spitzen festen Schuhen, mit denen sie Ziegel und Putzbrocken beiseiteschieben konnten, um das zu finden, von dem sie selbst noch nicht wussten, dass es existierte, die Schatzsucher der neuen Welt.

Die Frauen gingen über den Brennnesselpfad. Er war eng und stank. Auf der einen Seite die Ufermauer, auf der anderen die Mauer um das Fabrikgelände. Ein Düsterpfad mit altem Pappelschaum und besudelten Kleiderfetzen, am Ende ein Müllfeld, wo stets kleine Feuer glommen, gehütete Feuer in der Nachbarschaft übellauniger Männer, die ihre kleine Feuerschar versorgten, farblose Flackergruppen über dem Boden, unsichtbare Flammen, die die Sonne verzehrte, während die Flammen ihrerseits den Kunststoffmantel um Drähte verzehrten, Kupfer für den Schrott- und Altmetallhändler, bescheidene Tageseinkunft für Hungerkünstler, die dem Schnaps freund waren.

Die drei Frauen saßen in einer Kneipe, Sonne im Rücken, zwischen fernen Pappeln stak der ferne Schornstein in den mittagsgrauen Himmel, sie tranken langsam, eine Hand abwesend um Besen und Eimergriff gelegt, die Instrumente ihrer verblühten Tätigkeit.

Katica, sagte der Kneipenwirt und langte der größten von ihnen an den Hals, Katica, mein Edelstein, was kommst du so früh, noch hat der Wind meine Stube nicht leergeblasen.

Katica biss ihm in den Finger, der Wirt grinste, aller Frauen Lippen lagen müde und faltig um die Strohhalme. Das Radio spielte ein Lied, das alle kannten, und sie summten fast unhörbar mit. Alte Schnulze, sagte der Wirt und drückte auf die Austaste. Eine Frau lachte im Hinterzimmer. Wind kam auf. Wie heißt du, fragte der Wirt die jüngste Frau, Kriszti, sagte sie, hast du Arbeit für mich? Vielleicht, sagte der Wirt.

Auf dem Heimweg folgte ihnen ein Hund. Langsam trabte er hinten ihnen her, vorbei am weißen Friedhof, im süßen Lindenschatten, durch die rosaroten Malven, So viele Rots wie sie im Buche stehen, sagte Katica, Alle Rots der süßen Welt.

Ein sandfarbener Hund mit einer großen schwarzen Nase, die den Frauen immer näher kommen wollte, ihren nackten Waden, den schmutzigen Füßen in den Schlappen mit letzten Spuren von abgeblättertem Glitzer, ihren ausgebeulten Dreiviertelhosen, ihren Trage- und Baumelhänden. Hunde sind wie Männer, sagte Kriszti. Nein, sagte Katica, das stimmt nicht. Nichts ist wie was anderes. Oder alles ist wie alles. Bäume wie Blumen und Hunde wie Hasen, und Männer wie Hasen und Frauen wie Hunde, und Hasen wie Blumen. Ildi bückte sich nach einem Stein und hob die Hand, der Hund scheute weg, buckelte sich mit geducktem Kopf durch die Malven auf die Straße, vor ein rotes Auto, man hörte fast nichts, das Auto schlenkerte zur Seite, und die Frauen gingen weiter. Erst bewegte der Hund noch die Beine, dann lag er ganz still. Es war Mittag, und der heiße Wind trug Staub herbei.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Matthes & Seitz

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