Vorgeblättert

Leseprobe zu Elif Shafak: Der Bastard von Istanbul. Teil 2

01.03.2007.
Zum Glück für Zeliha verlor der Fahrer des Toyota hinter dem Taxi allmählich die Geduld und hupte. Wie aus einem bösen Traum erwacht, kam Zeliha wieder zur Besinnung und erschrak angesichts ihrer unangenehmen Lage. Ihr Hang zur Gewalt machte ihr immer wieder Sorgen. Sofort war sie still, drehte sich zur Seite und versuchte, sich durch die Menge zu drängeln. Doch in der Eile verfing sich Zelihas rechter Absatz unter einem lokkeren Pflasterstein. Rasend vor Wut zog sie ihren Fuß aus der Pfütze unter dem Stein. Fuß und Schuh kamen zwar frei, aber der Absatz brach ab und erinnerte sie so an eine besondere Regel, die sie gar nicht hätte vergessen dürfen.

Die Silberne Regel der Vorsicht für eine Istanbuler Frau: Wenn du auf der Straße belästigt wirst, verliere nicht die Nerven, denn eine Frau, die in einer solchen Situation die Nerven verliert und dann überreagiert, verschlimmert ihre Lage nur!

Der Taxifahrer lachte, der Mann in dem Toyota hinter ihm hupte erneut, der Regen wurde heftiger und mehrere Passanten machten mißbilligende Geräusche, wobei man nicht genau sagen konnte, was sie eigentlich mißbilligten.

In dem ganzen Tumult erblickte Zeliha einen irisierenden Aufkleber, der hinten auf dem Taxi glitzerte: SAG NICHT IDIOT ZU MIR! Und: AUCH IDIOTEN HABEN EIN HERZ. Als sie so dastand und mit großen Augen diese Worte anstarrte, war sie plötzlich todmüde - so müde und konsterniert, daß es unmöglich nur um die Alltagsprobleme einer Istanbulerin gehen konnte. Vielmehr handelte es sich um eine Art rätselhaften Code, den ein weit entferntes Gehirn speziell für sie entworfen, den sie in ihrer Sterblichkeit jedoch nie zu knacken vermocht hatte. Bald fuhren das Taxi und der Toyota davon und die Passanten gingen ihrer Wege und ließen Zeliha stehen, die den abgebrochenen Absatz so zärtlich und niedergeschlagen in der Hand hielt, als wäre er ein toter Vogel.

Nun gab es unter den Dingen, die zu Zelihas chaotischem Universum gehörten, vielleicht tote Vögel, Zärtlichkeit und Niedergeschlagenheit dagegen sicher nicht. Beides war ihr fremd. Sie richtete sich auf und versuchte, so gut wie möglich mit nur einem Absatz zu gehen. Bald hastete sie durch eine beschirmte Menschenmenge, entblößte ihre atemberaubenden Beine und humpelte wie ein schiefer Ton. Sie war ein lavendelfarbenes Garn, eine höchst unpassende Schattierung auf einem Wandteppich, der nur aus Braun- und Grautönen bestand. Obwohl die Farbe nicht harmonierte, war die Menge durchlässig genug, ihre Disharmonie aufzunehmen und sie wieder in die allgemeine Melodie einzufügen. Die Menge war keine Ansammlung von Hunderten atmender, schwitzender und schmerzender Körper, sondern ein einziger atmender, schwitzender und schmerzender Körper im Regen. Regen oder Sonne machten kaum einen Unterschied. In Istanbul zu Fuß gehen heißt, sich der Menge anpassen.

Als Zeliha an Dutzenden finster wirkender Angler vorbeikam, die auf der alten Galata-Brücke schweigend nebeneinander standen, jeder in einer Hand einen Schirm und in der anderen eine Angel mit sich drehender Spule, beneidete sie sie um ihr Talent zur Reglosigkeit, diese Fähigkeit, stundenlang auf Fische zu warten, die es nicht gab oder die, wenn es sie doch gab, so winzig waren, daß sie nur als Köder für einen anderen Fisch dienen konnten, der nie geangelt werden würde. Wie erstaunlich war doch diese Fähigkeit, viel zu erreichen, indem man ganz wenig erreichte, und am Abend mit leeren Händen und dennoch zufrieden nach Hause zu gehen! In dieser Welt gebar Gelassenheit Glück und Glück gebar Glückseligkeit, jedenfalls vermutete Zeliha das. Mehr als vermuten konnte sie nicht, denn eine derartige Gelassenheit hatte sie noch nie erlebt und würde sie nie empfinden. Auf jeden Fall nicht heute. Heute ganz bestimmt nicht.

Trotz aller Eile verlangsamte Zeliha ihren Schritt, als sie sich durch den Großen Basar schlängelte. Sie hatte keine Zeit zum Einkaufen und würde nur einen kurzen Blick hineinwerfen, beschloß sie beim Betrachten der Schaufenster. Sie zündete sich eine Zigarette an und als der Rauch aus ihrem Mund quoll, fühlte sie sich besser, fast entspannt. Eine Frau, die auf der Straße rauchte, war in Istanbul nicht besonders hoch angesehen, aber wen kümmerte das? Zeliha zuckte die Achseln. Hatte sie nicht bereits einen Feldzug gegen die gesamte Gesellschaft geführt? Sie wandte sich dem älteren Teil des Basars zu.

Hier gab es Händler, die ihren Vornamen kannten, vor allem in den Schmuckläden. Zeliha hatte eine Schwäche für glitzernde Accessoires aller Art. Straßklammern, Rheinkieselbroschen, glänzende Ohrringe, Anstecknadeln mit Perlen, schwarzweißgestreifte Halstücher, Taschen aus Satin, Chiffonschals, seidene Troddeln und Schuhe, immer mit hohen Absätzen. Kein einziges Mal war sie durch diesen Basar gegangen, ohne zumindest ein paar Läden zu betreten, mit den Händlern zu feilschen und am Ende viel weniger als ursprünglich gefordert für Dinge zu bezahlen, die sie eigentlich gar nicht hatte kaufen wollen. Heute jedoch wanderte sie ziellos an ein paar Ständen vorbei und lugte hier und da in ein Schaufenster. Das war alles.

Vor einem Stand mit Krügen und Töpfen und Fläschchen voll bunter Kräuter und Gewürze aller Art blieb Zeliha stehen. Ihr fiel ein, daß eine ihrer drei Schwestern sie morgens gebeten hatte, Zimt zu kaufen, wußte allerdings nicht mehr, welche es gewesen war. Sie war die jüngste von vier Mädchen, die sich in nichts einig, aber alle gleichermaßen davon überzeugt waren, daß sie immer recht hatten und jede den anderen etwas beibringen, aber nichts von ihnen lernen konnte. Ein Gefühl, als hätte man um eine Ziffer den Lottogewinn verpaßt: Wie jede es auch drehte und wendete, sie wurde den Eindruck nicht los, Opfer einer Ungerechtigkeit zu sein, die nie wieder gutzumachen war. Trotzdem kaufte Zeliha Zimt, nicht gemahlen, sondern in Stangen. Der Händler bot ihr Tee und eine Zigarette und einen Plausch an und sie lehnte nichts davon ab. Während sie da saß und redete, wanderte ihr Blick über die Regale, bis er an einem gläsernen Teeservice hängenblieb. Auch das gehörte zu den Dingen, an denen sie nicht vorbeigehen konnte: Teegläser mit goldener Bauchbinde, dünnen, zierlichen Löffeln und zerbrechlichen Untertassen. Zu Hause gab es schon mindestens dreißig verschiedene Teeservice, allesamt von ihr gekauft. Noch eins zu kaufen, konnte nicht schaden, denn sie gingen so leicht kaputt.
"So verdammt zerbrechlich ?", murmelte Zeliha. Sie war von allen weiblichen Kazancıs die einzige, die sich schrecklich aufregen konnte, wenn Teegläser zu Bruch gingen. Die siebenundsiebzigjährige Petite-Ma dagegen hatte eine völlig andere Haltung entwickelt:

"Und wieder geht ein böser Blick dahin!" rief Petite- Ma jedesmal, wenn ein Teeglas einen Sprung bekam und zerbrach. "Habt ihr dieses unglückselige Geräusch gehört? Klirr! Oh, es hat in meinem Herzen widergehallt! Das war der böse Blick eines Menschen, so mißgünstig und boshaft. Möge Allah uns alle beschützen!"

Immer wenn ein Glas zerbrach oder ein Spiegel einen Sprung bekam, seufzte Petite-Ma erleichtert. Da man böse Menschen nicht komplett von dieser sich wie irre drehenden Welt tilgen konnte, war es immer noch besser, wenn deren böser Blick sich an einer Glasfront stieß, und nicht tief in Gottes unschuldige Wesen eindrang und deren Leben ruinierte.

Als Zeliha zwanzig Minuten später in ein schickes Gebäude in einem der reichsten Viertel der Stadt stürmte, hatte sie einen abgebrochenen Absatz in der einen und ein neues Teeservice in der anderen Hand. Sie war schon eingetreten, als ihr siedend heiß einfiel, daß sie die eingewickelten Zimtstangen im Großen Basar liegengelassen hatte.


      *


Im Wartezimmer saßen drei Frauen, jede mit fürchterlichen Haaren, und ein Mann mit fast gar keinen. Aus der Art, wie sie saßen, zog Zeliha ihre leicht zynischen Schlüsse: Die Jüngste von allen, die sich, zu träge um die Artikel eines Frauenmagazins zu lesen, nur die Photos darin anschaute, war am wenigsten beunruhigt und vermutlich hier, um sich ein neues Rezept für die Pille zu holen; die mollige Blonde neben dem Fenster, die wie Anfang dreißig wirkte und deren schwarzer Haaransatz nach einer neuen Färbung schrie, wippte, mit ihren Gedanken offensichtlich ganz woanders, nervös mit den Füßen und war vermutlich zur Vorsorgeuntersuchung und zum jährlichen Krebsabstrich hier. Die Dritte, die ein Kopftuch trug und mit ihrem Mann gekommen war, wirkte, mit ihren herabhängenden Mundwinkeln und ihren zusammengekniffenen Augenbrauen, am wenigsten entspannt von allen. Zeliha nahm an, daß sie nicht schwanger werden konnte. Das, so vermutete sie, konnte je nach Perspektive lästig sein. Für sie selbst war Unfruchtbarkeit nicht das Schlimmste, was einer Frau widerfahren konnte.

"Hallooo, Sie!" piepste die Sprechstundenhilfe und zwang sich zu einem dümmlichen, unechten Lächeln, das so perfekt einstudiert war, daß es weder dümmlich noch unecht aussah. "Sind Sie unser Drei-Uhr-Termin?"

Leseprobe Teil 3

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