Vorgeblättert

Leseprobe zu Christopher Isherwood: Löwen und Schatten. Teil 3

08.02.2010.
(Kapitel 5, S. 178-182)

Auf meiner Schule war während der letzten zwei Jahre des Krieges ein Junge namens Hugh Weston gewesen - er trug den Spitznamen "Dodo junior", wegen des ernsthaften und irgendwie vogelgleichen Gesichts seines bebrillten älteren Bruders. Weston war ein stämmiger, pummeliger kleiner Junge, dessen gewöhnliche Miene das irreführend bös-strenge Stirnrunzeln sehr kurzsichtiger Leute war. Beide Brüder hatten Haar wie gebleichtes Stroh und dickes, irgendwie grob wirkendes, seltsam weißes Fleisch, als hätte man ihnen jeden Tropfen Blut aus dem Körper gepumpt - die Familie war isländischer Herkunft.
     Obwohl Weston drei Jahre jünger war als ich, hatte er die oberste Klasse erreicht, ehe ich abging. Er war frühreif altklug, unordentlich, faul, und er neigte den Lehrern gegenüber zu Frechheiten. Sein Ehrgeiz war es, Bergbauingenieur zu werden, und seine Spielkiste war voller dicker wissenschaftlicher Bücher über Geologie, Metalle und Maschinen, aus der Bibliothek seines Vaters entliehen. Sein Vater war Arzt; Weston hatte sehr früh im Leben den Schlüssel zu einem Bücherschrank entdeckt, der anatomische Handbücher mit kolorierten deutschen Illustrationen enthielt. Mehreren von uns, darunter mir, verschaffte er die ersten unanständigen, bestürzenden, atemberaubenden Andeutungen über die Realität des Sexus. Meine Erinnerungen an ihn aus dieser Zeit haben sich vor allem wegen dieser überlegenen Unanständigkeit festgesetzt, wegen seiner Dreistigkeit, seinem bedeutsamen Grinsen, das anzeigte, daß er über ungehörige und aufregende Geheimnisse verfügte. Mit dieser Suggestion verbotenen Wissens und mit seinem Repertoire falsch ausgesprochener wissenschaftlicher Fachausdrücke genoß er unter uns, seinen halbwilden leichtgläubigen Schulkameraden, den Status einer Art von Medizinmann. Ich sehe ihn vor mir, wie er ein unanständiges Bild an die Tafel der vierten Klasse malt, die stummeligen Finger mit den stumpf abgebissenen Nägeln tintenverschmiert; ich sehe ihn, wie er mit seinem strengen, wilden Blick gegen einen doppelt so großen Jungen boxt; ich sehe ihn die Stirn runzeln, während er mir gegenüber im Schulchor singt, im Chorhemd und mit einem enormen Eton-Kragen, über dem die großen roten Ohren zu beiden Seiten seines schmalen, böse dreinschauenden, puddingweißen Gesichts wegstehen. Bei unseren religiösen Diskussionen im Schlafsaal, die häufig waren, höre ich ihn noch verachtungsvoll gegen jene Kirchenwettern, in welchen das Kreuz lediglich an die Wand hinter dem Altar gemalt war; die sollte man, sagte er, kurzerhand niederbrennen, und ihre Pfarrer gehörten ins Gefängnis. Seine Familie war, wie wir hier mitbekamen, äußerst hochkirchlich gesinnt. Als Abkömmling eines puritanischen Richters fühlte ich mich ehrenhalber verpflichtet, ihm zu widersprechen, und tat dies auch gelegentlich, doch brachte ich nie besonders viel Enthusiasmus auf, weil mich selbst damals in jener argumentativen Epoche Fragen des Rituals kaum interessierten.
     Weston und ich begegneten einander durch puren Zufall sieben Jahre später wieder. Kurz vor Weihnachten 1925 brachte ihn ein gemeinsamer Bekannter zum Tee mit. Ich fand ihn kaum verändert. Gut, er war enorm gewachsen, aber seine kleinen hell-blassen Augen waren immer noch in dem selbem kurzsichtigen Stirnrunzeln zusammengekniffen, und seine stummeligen kindlichen Finger zeigten immer noch abgebissene Nägel und Flecken - nun vermengte sich allerdings die Tinte mit Nikotin. Er war teuer, doch unordentlich gekleidet. Sein schokoladenbrauner Anzug, zu dem er eine der neuerdings modischen zweireihigen Westen trug, gehörte gebügelt. Seine grobwollenen Socken waren hinabgerutscht und ließen die infantil ungeformten Knöchel sehen. In einem der eleganten braunen Schuhe war der Schnürsenkel gerissen. Während ich und der Mann, der ihn mitgebracht hatte, uns unterhielten, saß er stumm da und rauchte aggressiv eine große Pfeife, die Stirn in tadelnde, kindliche Falten gelegt. Unbeholfen und streng hakte er wiederholt einen stumpfen schmutzigen Finger oben in eines der Bücher in meinem Regal, ließ es sich in den Schoß kippen und dann, wenn seine müßige Neugier befriedigt war, mit dem Gesicht nach unten auf den Boden fallen - sich meiner zornigen Blicke ganz unbewußt.
     Doch als mein Bekannter, der noch eine weitere Verabredung hatte, gegangen war, verlor Weston viel von seiner linkischen akademischen Aggressivität - wir fingen an zu schwatzen und zu klatschen; die einstige Schulstimmung hatte uns wieder. Wir belebten die alten Scherze neu - wir machten nach, wie Pillar beim Abendessen Brot schnitt ("Da kommt es schon! Da kommt es! Die Rettung ist unterwegs, Waters! Schon enden die Qualen! Nur noch einen winzigen Augenblick, ehe der entsetzliche Hunger befriedigt wird ! Kämpf so lange noch dagegen an, Waters! Kämpf dagegen an!"). Wir erinnerten uns daran, wie Spem uns in die Arme kniff, wenn wir unsere unregelmäßigen Verben nicht konnten, und wie er uns mit stundenweisem Tannenzapfensammeln bestrafte. Wir versuchten, die große Szene in Reggys Drama Die Wellen zu rekonstruieren, wo der Schurke sich dem Gespenst des ermordeten Knaben gegenübersieht, das ihm gegenüber Platz genommen hat: "Die Wellen ? Die Wellen? Könnt ihr sie nicht hören, wie sie rufen? Fort mit dir, verfloocht, fort mit dir! Hahaha - ich habe keine Angst! Wer sagt, ich hätte Angst? Starr mich nicht an, Verfloochter, mit deinen großen Augen ? Ich habe im Leben nie Angst vor dir gehabt, und ich habe jetzt keine, da du - tooht bist! Haha! Haha! Hahahahahaha!" Weston imitierte brillant eine der Predigten von Papa - wie er seine Brille putzte, wie er hustete, wie er mit den Fingern schnipste, wenn einer einschlief: "Snkt-Edmnds-Tag ? Snkt-Edmnds-Tag ? Was bedeudeder? Was bedeudeder? Näächt - was hat er damals, dott, jenen Mnschn bedeuded? Sondern: Was bedeudeder ooons, hier und heude?" Wir lachten so sehr, daß ich Weston ein Taschentuch reichen mußte, damit er sich die Augen trocknen konnte.
     Als er dabei war, aufzubrechen, begannen wir noch über Literatur und das Schreiben zu sprechen. Weston sagte mir, er schriebe jetzt Gedichte. Bei dieser Ankündigung sprach er mit bewußter, übergroßer Beiläufigkeit. Ich war überrascht, sogar ziemlich irritiert. Daß jemand wie Weston (wie ich ihn mir dachte) Gedichte schreiben sollte, das widersprach meiner Auffassung von der Ordnung der Dinge. Tiefer als alle soeben von I. A. Richards übernommenen ästhetischen Theorien saß das Vorurteil des Altsprachlers gegen den Mann des modernen Zuges. Leute, die sich mit Maschinen auskannten - so empfand ich es immer noch insgeheim -, waren zum Analphabetismus verurteilt. Ich hatte sofort ein inneres Bild von ein paar kindischen, rührend grobschlächtigen Versen, die mit schwankend unsicherer Handschrift, begleitet von vielen Klecksen und Rechtschreibfehlern, auf ein Blatt kariertes Zeichenpapier mit vielen Fingerabdrücken gemalt waren. Ein wenig herablassend fragte ich, ob ich etwas davon sehen dürfte. Weston gefiel, wie ich glaubte, diese Frage. Aber er antwortete mürrisch: "Na gut, wenn du wirklich möchtest." Seine schlechten Manieren kehrten mit der Verlegenheit sofort zurück. Wir trennten uns hastig und mit knappen Worten, als würde es uns nie wieder der Mühe wert sein, einander zu sehen.
     Ein großer Umschlag voller Manuskriptseiten kam ein paar Tage später mit der Morgenpost an. Die Handschrift war in der Tat genau so, wie ich es erwartet hatte, und noch schlimmer. Tatsächlich gab es ganze Zeilen, die ich bis auf den heutigen Tag nicht entziffert habe. Doch die Überraschung, die mich erwartete, steckte in den Gedichten selbst. Sie waren weder erstaunlich gut noch erstaunlich schlecht, sie waren etwas viel Seltsameres - effizient, imitativ und verblüffend wirkungsvoll. Effizienz war die letzte Qualität, die ich in Westons Werk gesucht hätte - er war mir als ein wesentlich konfuser, improvisatorischer Mensch erschienen. Was die Imitation betraf, musste man kein großer Experte sein, um zwei der Haupteinflüsse zuerkennen: Hardy und Edward Thomas. Ich hätte auch Robert Frost dort finden können, doch den hatte ich zu jener Zeit noch nicht gelesen.


Mit freundlicher Genehmigung des Berenberg Verlages


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