Vorgeblättert

Leseprobe zu Britta Schröder: Zwölfender. Teil 3

09.08.2012.
Am 6. Juni stieg ich ins Flugzeug.
     In meiner Reisetasche führte ich nur etwas Wäsche zum Wechseln, einen Kompass, eine Landkarte und meine neue Taschenlampe mit.
     Wie immer, wenn ich mit dem Flugzeug oder mit der Bahn verreise, hatte ich einen Platz am Gang reserviert.
     Neben mir, am Fenster, saß ein Mann von etwa dreißig Jahren. Zunächst nahm ich nur wahr, dass er strohblondes Haar hatte. Dann bemerkte ich, dass er in ein Buch mit Hieroglyphen vertieft war. Gelegentlich tippte er etwas in den aufgeklappten Rechner vor ihm. Seine Bewegungen erschienen mir eigentümlich gesteuert und auffallend langsam.
     Irgendwann legte er sein Buch beiseite, drehte sich zu mir um und sah mich restversunken an wie jemand, der gerade aufgewacht ist.
     "Guten Abend", sagte er.

Wir kamen ins Gespräch.
     Robert litt seit seiner Geburt an einer Muskelschwäche. Seine Sprache war verzögert wie seine Bewegungen, aber die Schnelligkeit, mit der er dachte, sein Witz und seine Aufgeschlossenheit hielten unerschrocken dagegen.
     Er erzählte mir von seiner Dissertation, von seiner Freundin Fanny, seiner Familie und seinen Reisen. Ich berichtete ihm von meiner Arbeit, von Aaron und von meinem Bedürfnis, nur noch das Notwendigste zu besitzen.

Robert war Anthropologe und Dozent an der Universität von Cleveland. Seine Eltern lebten in Wiesbaden, er hatte sie gerade besucht.
     Jetzt war er auf dem Weg zu einem Forschungsprojekt in Kolumbien, gönnte sich aber zuvor einen Aufenthalt in Santiago, um, wie er sich ausdrückte, nicht nur in der Vergangenheit zu graben.

Wenn ich heute an diese ersten Gespräche zurückdenke, möchte ich mich schützend davorstellen. Ich wünschte, ich könnte … ach.

Als wir zum Zwischenstopp in São Paulo aus dem Flug- zeug stiegen, wusste ich längst, dass Robert zu jener seltenen Sorte Menschen gehörte, mit denen man im Not- fall gern das Rettungsboot teilt.
     Wir stiefelten durch das Flughafengebäude, schauten die Auslagen in den Geschäften an und blätterten gemeinsam in Zeitschriften.
     An einer Espressobar sitzend, wies ich ihn darauf hin, dass sein Hemd schief geknöpft sei.
     "Ist mir auch schon aufgefallen", entgegnete er und blickte an sich herunter. "Aber dann dachte ich: Symmetrie ist was für Simpel."

Wie ich hatte auch Robert die Reise nur unzureichend geplant.
     Als wir in Santiago landeten, stellte sich uns beiden die Frage, wo unterkommen.
     Wir beschlossen, gemeinsam auf Hotelsuche zu gehen, nahmen ein Taxi und baten den Fahrer um eine Empfehlung.
     Robert sprach exzellent Spanisch, sodass ich mich zu- rücklehnen und schweigen konnte. Die Details waren mir einerlei. Ich wollte in Santiago sein, irgendwie - und von dort aus weiterreisen.
     Der Fahrer brachte uns quer durch die frühmorgendlichen Vororte zum Haus seiner Tante und klingelte, immer wieder beteuernd, dass dies eine der schönsten Pensionen Santiagos sei.

Eine ältere Frau öffnete uns, sie wirkte verschlafen und ungehalten.
     Nach einem kurzen Disput mit ihrem Neffen aber wies sie uns freundlich an, einzutreten und auf einer kleinen Bank im Flur Platz zu nehmen.
     Wir bezahlten den Fahrer, dankten ihm und taten, wie uns geheißen.
     Die Dame des Hauses stellte sich vor uns auf und betrachtete uns eingehend. Dann sagte sie: "Ich werde euch ein Zimmer fertigmachen und nachschauen, was ich im Kühlschrank finde."

"Wie heißen Sie?", fragte Robert.
     "Rosa", antwortete sie. Auch wir stellten uns vor.
     "Seit wann seid ihr unterwegs?", erkundigte sie sich. Robert zuckte die Schultern. "Eine halbe Ewigkeit."
     Sie nickte, dann drehte sie sich um, lief in den hinteren Teil des gefliesten Entrees, öffnete einen Schrank und stieg, einen Packen Wäsche in den Armen, eine schmale Treppe hinauf.
     Robert und ich hörten sie seufzen und mit sich selber sprechen wie jemand, der in dem Bewusstsein lebt, niemandem einen Gefallen ausschlagen zu können.

Ich fühlte mich gut aufgehoben und war froh, Robert bei mir zu haben. Ich nahm seine Hand und drückte sie sacht.
     Wir warteten.
     Rosa kam wieder herunter ins Erdgeschoss, öffnete Schubladen, hantierte in der von unserer Bank aus nicht einsehbaren Küche mit Geschirr, setzte hörbar einen Topf auf den Herd und rief irgendetwas zu uns herüber.

Die Küche war geräumig. An der Wand über dem Herd baumelte allerlei Kochgerät, und über dem großen Holztisch in der Mitte des Raumes hing eine Lampe, die den Essplatz in warmes Licht tauchte.
     Rosa hatte uns zwei Schalen und Gläser, einen Glaskrug mit Wasser und einen mit Rotwein bereitgestellt.
     "Rind und Reis", sagte sie, während sie das Essen in die Schalen gab.
     Der Wein schmeckte beim ersten Schluck ein wenig zu süß, dann aber ausgezeichnet.
     Sie setzte sich zu uns und erzählte, der Bruder ihres verstorbenen Mannes arbeite als Winzer im Cachapoal- Tal und gebe seinem Sohn Javier, unserem Taxifahrer, bei jedem seiner Besuche Wein für sie mit. Dann fragte sie uns nach dem Grund unserer Reise.

Robert berichtete ihr von seinem Vorhaben und von seiner Forschung.
     "Wissenschaftler!", bemerkte sie anerkennend.
     "Und Sie? Forschen Sie auch? Oder was werden Sie in der Zwischenzeit tun?"
     "Wir sind kein Paar, Rosa", antwortete ich. "Ich bin hier, weil ich nach etwas suche. Ich möchte in die Atacamawüste reisen und dann weiter bis zur Küste."

"Was ist es, das Sie suchen?", fragte Rosa.
     Auch Robert, der mir schon im Flugzeug diese Frage gestellt, aber nur eine ausweichende Antwort erhalten hatte, schaute mich neugierig an.
     "In den letzten Wochen", erklärte ich, "hat sich so gut wie alles verändert."
     Meine Scheu ersoff im Wein.
     "Was früher Zweifel war, ist jetzt Gewissheit - und andersherum."
     "Und nun?", fragte Robert.
     "Nun gehe ich die Strecke dazwischen ab."

Beide, Robert und Rosa, schauten vor sich auf den Tisch.
     Rosa nickte, Robert schüttelte den Kopf. Dann wischte er mit einem Ärmel eine kleine Wasserlache vor sich auf, sah mich an und fragte: "Und welche Richtung hast du angepeilt?"
     "Das wird sich erst zeigen", entgegnete ich.
     Rosa atmete ein, stockte und sagte: "Wenn etwas ein- mal entzwei ist - ich glaube nicht, dass …" Sie unterbrach sich selbst, sah vom Tisch auf und fragte: "Wird das gehen, mit euch zweien in dem einen Zimmer?"
     Robert antwortete für uns beide: "Ja. Es wird ganz sicher gehen. Danke."

Rosa führte uns ins obere Stockwerk und öffnete ein Zimmer, an dessen Fensterseite ein breites Doppelbett stand. Daneben, etwas abgerückt: ein Tisch mit zwei Stühlen, ein Kruzifix an der geweißten Wand und ein vergilbtes Poster, auf dem ein Weingut und zwei Flaschen Carménère abgelichtet waren.
     Sie entschuldigte sich für das flackernde Licht im Badezimmer, legte noch zwei Handtücher auf das niedrige Waschbecken und wünschte, obwohl es draußen allmählich hell wurde, eine gute Nacht.

Ich zog mich im Badezimmer aus, legte meine Kleider zusammen, stieg in den Pyjama und putzte mir die Zähne.
     Im Spiegel verfolgte ich meine Bewegungen. Dass sich mein Gesicht in den letzten Wochen so gar nicht verändert hatte, kam mir verkehrt vor. Eine markantere Nase vielleicht, ein schmalerer Mund, eine andere Stirn, egal was: Es hätte mir eingeleuchtet.

Als ich in unser Zimmer zurückkehrte, war Robert gerade im Begriff, sich ein t-Shirt überzustreifen. Er lächelte mich an - leicht beschämt, was mich beschämte -, weil er bemerkte, dass ich die Mühsamkeit seiner Bewegungen registrierte.
     "Wenn du jetzt Mitleid oder sowas hast, lege ich dir eine von den abartigen Spinnen da oben aufs Kopfkissen."
     Ich schaute in die Zimmerecken. "Wenn du das machst, werfe ich deinen Laptop aus dem Fenster."
     "Dann wäre das ja mal geregelt." Er knipste das Licht aus.

Etwas später, wir lagen reglos nebeneinander, fragte ich ihn: "Wollen wir heute so lange schlafen, wie wir können?"
     "Gute Idee", gab er zurück. "Aber ich habe auch noch eine Frage an dich. Diese Strecke dazwischen - was soll das eigentlich sein? Ich würde dir gern helfen, sie zu finden."
     "Hast du schon", erwiderte ich.

Diesmal nahm er meine Hand in die seine.


Anfangs schlief ich hier draußen ganz unruhig. Die Geräusche waren so fremd. Und ich sah Füchse, überall.
     Gleich in der ersten Nacht habe ich mir ein Zelt aus Ästen und Farn gebaut.
     Inzwischen suche ich es selten auf.
     Ich weiß nicht mehr, wovor es mich beschützen sollte.

                                                             *


Auszug mit freundlicher Genehmigung des Verlages weissbooks.w
(Copyright weissbooks.w)

Informationen zum Buch und zur Autorin hier