Vorgeblättert

Leseprobe zu Angelika Klüssendorf: April. Teil 2

30.01.2014.
Frühmorgens wacht sie als Erste in ihrem Zimmer auf, ihre Freunde liegen in Schlafsäcken auf dem Boden, es riecht nach Alkohol und kaltem Rauch. April ist zittrig und müde. Vor dem Fenster entdeckt sie einen funkelnden Eiszapfen, von dem sich Tropfen lösen, sie glaubt, die Tropfen mit einem Knall platzen zu hören. Frieder liegt neben ihr auf dem Sofa. Sie versucht, sich an die gestrige Nacht zu erinnern, doch ihr fällt nur die Knutscherei ein. April ist verliebt, was nichts bedeutet, sie ist oft verliebt. Sie kann mit einem Fremden einen Blick wechseln und nächtelang von ihm träumen, eine kurze Begegnung reicht aus, um ihr Herz höherschlagen zu lassen, aber es hält nie lange an. Frieder hat einen schönen Mund, allerdings sind seine Küsse hart und trocken. Er hat sich für drei Jahre bei der Armee verpflichtet, weil er Arzt werden will. Bei den Mädchen steht er nicht nur wegen seines Aussehens hoch im Kurs, er trägt Levi's und versteht was von Musik. Sie klettert vorsichtig über ihn hinweg, und während sie in der Küche den Wasserkessel aufsetzt, hört sie keinen einzigen Vogeltriller aus dem Zimmer der Jungnickel. Nach und nach werden alle wach, Mücke findet noch eine Flasche Bergmannsschnaps in seinem Rucksack, das Gesöff ist hochprozentig, sie nippt nur daran. Irgendwann kommt
Schwarze Paul auf die Idee, der Alten und ihrem Vogel einen Besuch abzustatten. Obwohl April über seinen Vorschlag nicht begeistert ist, stimmt sie zu.
Lass uns eine Münze werfen, sagt Mücke, Kopf oder Zahl, und der Sieger muss vor der Alten nackt ein Lied trällern.
Kopf, sagt Schwarze Paul und gewinnt. Er zieht sich aus, als sei nichts dabei, Sputnik pfeift anerkennend, alles an ihm ist Furcht einflößend groß. Spätestens jetzt möchte April die ganze Sache rückgängig machen, doch da ist Schwarze Paul schon unterwegs.
Sie hören seine Stimme, laut und schmetternd: Ramona, zum Abschied sag ich dir goodbye, dann ein schrilles Kreischen, das sich Oktave um Oktave höher schraubt, dazwischen irres Vogelgezeter, und als Schwarze Paul zurückkommt, sieht er bleich aus. Die hat noch nie 'nen nackten Mann gesehen, sagt er, das ist mal klar.
Nachdem die Freunde sich abends von ihr verabschiedet haben, traut sich April nicht auf den Flur. Sie hört es draußen rumoren, als würden Möbel verrückt, das dauert bis spät in die Nacht, und sie stellt sich vor, wie das Fräulein sich hinter ihrem Schrank verbarrikadiert hat und an Schwarze Paul denkt.

2

An einem der ersten Frühlingstage trägt sie frühmorgens ihre zerschlissene Levi's und den Nicki mit der amerikanischen Flagge. Das Krakeelen der Vögel hat sie übermütig werden lassen. Die Abteilungsleiterin schickt sie empört nach Hause, sie soll sich umziehen und ihre Arbeitszeit nachholen. Das kann sie aber nicht, es gibt einen Kobold in ihr, der sich solchen Anweisungen zwanghaft widersetzt. Stattdessen geht sie in den Zoo, beobachtet ihren Lieblingsaffen, die restlichen Stunden vertrödelt sie in der Innenstadt. Am liebsten würde sie sich in ein Café setzen, doch sie traut sich nicht. Abends läuft sie unruhig in ihrem Zimmer umher, die Vögel draußen vorm Fenster, es müssen Tausende sein, scheinen für ein großes Konzert zu proben.
Sie fährt später noch einmal mit der Straßenbahn in die Stadt, nimmt all ihren Mut zusammen und betritt den »Thüringer Hof«. Der Eingang ist mit einem Seil verhängt, und schon während sie sich in die Reihe der Gäste stellt, die hinter der Absperrung auf ihre Platzierung warten, möchte sie sich in Luft auflösen. Als ein mürrischer Kellner ihr einen Platz am Ende des Raumes zuweist, will sie nur noch schnell und unauffällig wieder verschwinden. Aber der Weg zur Tür ist weit, also bleibt sie sitzen, bestellt ein Bier nach dem anderen und verlässt als Letzte die Kneipe.
Am nächsten Morgen kann sie die Augen kaum öffnen, in ihrem Kopf ein hartes Pochen. Sie trägt wieder ihre zerschlissene Levi's und den Nicki. In der Straßenbahn verspürt sie den Drang, vor all den Alltagstrottgesichtern auszuspucken, ganz schwindlig ist ihr vor Hochmut.
Im Büro muss sie zum Hauptabteilungsleiter, doch der scheint nur halb bei der Sache, er gibt ihr zu verstehen, dass sie bei der Arbeit besser einen BH tragen sollte. Sie glaubt zuerst, sich verhört zu haben. Die amerikanische Flagge auf ihrem Nicki erwähnt er mit keinem Wort. Macht er sich über sie lustig? Sie kann in seinem Gesicht nichts dergleichen entdecken, nur ein hungriges Leuchten, und als sie begreift, worauf er hinauswill, zeigt sie ihm böse grinsend die Zähne, bedeckt ihn im Stillen mit ihrem Vorrat an Flüchen.

Manchmal, wenn sie früh aufwacht, fühlt sich ihre Zunge dick und pelzig an. Dann weiß sie einen Moment lang nicht, wo sie ist. Die Freunde fehlen ihr, aber sie hat keine Lust, aufs Dorf zu fahren, oder vielleicht ist es sogar Angst. Als gäbe es eine Ansteckungsgefahr, wenn sie an die Orte ihrer Jugend zurückkehrte, und sie müsste dann für immer dableiben. Der Einzige aus der Clique, der sie besucht, ist Frieder. Wenn er Armeeurlaub hat, liegen sie stumm auf dem Sofa, und obwohl er mehr will als nur fummeln, lässt sie ihn nicht ran. So jedenfalls hat sie es einmal Frieder zu Schwarze Paul sagen hören: Rippchen lässt mich nicht ran. Der Satz gibt ihr ein Gefühl von Macht, sie ist also jemand, der gewähren lassen kann oder nicht. Nun, sie will es nicht oder noch nicht. Wartet sie auf den Richtigen? Ihr genügt diese Art von Erregung, dieses folgenlose Gerangel, sie fühlt sich sicher im Bereich der Spiele.
Die Frühlingstage verstärken ihre Unruhe. Wenn vor Einbruch der Dunkelheit die Vögel lärmen, zieht es sie nach draußen. April hat festgestellt, dass spät am Abend im »Thüringer Hof« nicht mehr platziert wird, sie sucht sich einfach einen freien Tisch und tut so, als würde sie die Blicke der anderen Gäste nicht bemerken. Alkohol schmeckt ihr nicht, sie würde Limo vorziehen, doch ihre Anspannung weicht, sobald sie das erste Bier trinkt.
Einmal setzt sich ein Pärchen zu ihr an den Tisch. Der Mann trägt einen Schlips, obwohl er gar nicht wie ein Schlipsträger aussieht. Eher ähnelt er einem verkleideten Tapir, beim Sprechen zittert seine große Nase. Seine Freundin hingegen könnte auch im Kombinat arbeiten, nur ihr Mund ist eine Spur zu rot und geformt wie ein Herzchen. Der Mann bestellt eine Runde Schnaps, und als der Kellner die Gläser serviert, schiebt der Tapir ein Glas in Aprils Richtung. Dann beugt er sich zu ihr und sagt: Man nennt mich Adam Schlips. Sein Ton ist der eines beschwipsten Angebers. Er weist auf seine Freundin und sagt, das ist Eva, du weißt schon, die von Adam.
Der Mann kommt ihr merkwürdig vor, zumindest so lange, bis sie drei Gläser Schnaps auf ex getrunken hat. Dann findet sie Schlips - er besteht auf dieser Anrede - ganz lustig. Sie hätten für diese Nacht keine Bleibe, sagt Schlips im Laufe des Abends, ob sie bei ihr übernachten könnten?
Spät in der Nacht haben es sich die beiden auf ihrem Sofa bequem gemacht. April liegt in einen alten Wintermantel gehüllt auf dem Boden.
Sie schafft es, am nächsten Morgen aufzustehen, doch im Büro wird sie von der Abteilungsleiterin kopfschüttelnd betrachtet. Sie sehen aus wie eine Leiche, sagt sie, wo haben Sie die Nacht verbracht?
Während sich alle über ihre Augenringe auslassen, muss April an das Pärchen in ihrem Zimmer denken, und sie wünscht sich, dass der Mann und die Frau verschwunden sind, wenn sie nach Hause kommt. In der Frühstückspause versucht sie auf einem Toilettendeckel sitzend zu schlafen, Arme und Kopf auf den Knien. Die restlichen Stunden verbringt sie in einem Dämmerzustand, verliert sich in Träumereien, starrt aus dem Fenster, doch spätestens als die Frau zu ihrer Linken laut und vorwurfsvoll hustet, spürt sie die Blicke ihrer Kollegen. Herr Blümel ruft ihr zu: Verehrtes Fräulein, schlafen Sie nicht ein. Schadenfroh registriert April, dass die Kopfhaut unter seinem dünnen Haar zu zucken beginnt. Das geschieht immer, wenn er sich aufregt.
Als sie abends schlecht gelaunt die Wohnung betritt, hört sie Schlips aus der Küche rufen: Heute gibt es Gulasch.
April möchte allein sein, sie möchte, dass die beiden gehen, doch sie ist zu feige, ihre Wünsche zu äußern. Sie versucht, das Beste daraus zu machen, trinkt ein Bier nach dem anderen und redet sich ein, Gulasch wäre eine willkommene Abwechslung zur Tütensuppe. Stunden später sind die Bierflaschen ausgetrunken. Schlips erzählt Geschichten, verliert den Faden, raucht Kette, keucht und hustet beim Lachen. Schläfrig hört sie, wie er Pläne entwirft, für einen Museumsraub, Banküberfall. Dann spricht er von einem kinderleichten Einbruch bei der bedepperten Alten, und April braucht eine Weile, ehe sie begreift, dass Fräulein Jungnickel gemeint ist.
Dienstags hat die Alte Toilettendienst, da kommt sie später nach Hause, sagt er, und seine große Tapirnase zittert.
So erfährt sie, wie Fräulein Jungnickel sich Geld dazuverdient. Er hat sie in ein Gespräch verwickelt: Die Alte sei zwar verkalkt, doch habe sie bestimmt eine Menge Kohle unter der Matratze versteckt.
Das ist nicht dein Ernst, sagt sie, die Alte bekommt einen Schlaganfall. April versucht, seinen Plan ins Lächerliche zu ziehen, führt eine Slapsticknummer nach der anderen vor, lässt das Fräulein nach ihrem Vogel japsen oder sich die schütteren Haare raufen.
Du bekommst deinen Anteil, sagt Schlips, und seine Freundin tätschelt ihr den Arm.
Am nächsten Tag wird April zu Hause von der Polizei erwartet. Sie streitet ab, von dem Einbruch gewusst zu haben. Fräulein Jungnickel sitzt heulend in der Küche und zeigt anklagend mit dem Finger auf sie. April spürt kein Mitleid, sie ist nur froh, Schlips und seine Freundin los zu sein.

Sie sieht Schlips erst vor Gericht wieder. Der Einbruch scheint eines seiner kleineren Vergehen gewesen zu sein. April ist als Komplizin angeklagt worden. Sie war beim Friseur, trägt einen dunklen Samtrock, den Herr Blümel von seiner ältesten Tochter ausgeliehen hat. Er hat auch die Patenschaft für sie übernommen - das Kollektiv stehe hinter der Angeklagten -, und als er diesen Satz mit leiser Stimme furchtlos ausspricht, zuckt nicht einmal seine Kopfhaut. April bekommt ein halbes Jahr auf Bewährung, sie ist wieder einmal davongekommen.
Ich soll dich von deinem Vater grüßen, sagt Schlips, als sie an ihm vorbeigehen will. April ist seinen Blicken während der Verhandlung ausgewichen, doch die Nachricht von ihrem Vater ändert die Lage. Sie bleibt stehen und sieht ihn an. Wir saßen in der U-Haft zusammen, flüstert Schlips und zwinkert ihr zu, meine Güte, der hat mir Geschichten erzählt. Sie versucht, sein komplizenhaftes Zwinkern zu übersehen, und kann sich die Geschichten nur allzu gut vorstellen: die Jugendstreiche ihres Vaters, abenteuerliche Sauftouren, Frauenepisoden, Splitter einer Künstlerkarriere, Erlebnisse, die er sich wahrscheinlich ausgedacht hat. Immer erzählte er ihr Geschichten, wenn er zwischendurch in ihrem Leben auftauchte.
Der Gruß von Schlips ist ihr unangenehm, so will sie nicht mit ihrem Vater verbunden sein. Wenn er nun stolz ist, weil sein Kind nach ihm geraten ist? Oder wird er sich Vorwürfe machen? Aus irgendeinem Grund wäre ihr das lieber. Sie kann sich nicht entsinnen, wann sie ihren Vater das letzte Mal gesehen hat, es ist etliche Jahre her. Anders als ihre ewig grausame Mutter hatte ihr Vater eine Art Gerechtigkeitssinn; er hat April nur mit der Hand geschlagen, er schlug auch nicht gern, es kam sogar vor, dass er sich danach entschuldigte. Trotz allem wünscht sie sich, dass ihr Vater sie auf seine Weise liebt.

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