Vorgeblättert

Leseprobe zu Andrzej Stasiuk: Hinter der Blechwand. Teil 1

05.09.2011.
S. 46 ff

Diese Stadt deprimierte mich, aber ich wußte, ich würde keine bessere finden. Ich betrachtete die Taxifahrer, die den ganzen Tag am Marktplatz standen, und spürte, daß ich im Grunde ein Glückspilz war. Ich hatte noch nie gesehen, daß einer von ihnen mit einem Kunden weggefahren wäre. Stundenlang standen sie da, redeten, gingen dann zu ihren Kutschen, lasen Zeitung, lösten Kreuzworträtsel: Fluß in Afrika, drei Buchstaben, erster "N", letzter "L", dann kehrten sie wie- der zu den anderen zurück, zu ihrem Gerede darüber, welches Auto wieviel auf freier Strecke verbrauchte und wieviel in der Stadt, daß die Juden die arabischen Ölfelder gekauft und jetzt das russische Gas im Auge hätten, also würde sich in ein, zwei Jahren gar nichts mehr lohnen, auch das Rumstehen in der Sonne und im Staub würde sich nicht mehr lohnen, nichts, nie mehr, in Ewigkeit amen. Das war der Refrain dieser Stadt: "Es lohnt sich nicht." Außer Stehen und Warten versuchten sie gar nichts, es hätte sich schließlich nicht gelohnt. Ja, diese Angst des Bauern, daß er wie ein Idiot dasteht, daß man ihn anpißt, daß die Wirklichkeit ihn nach Strich und Faden verarscht, hing über der Stadt wie eine Dunstglocke. Nur regloses Abwarten gab den Leuten das Gefühl von Sicherheit. Sie standen neben ihren Kutschen, klopften ihnen aufs Dach und öffneten die Türen, um die Fürze rauszulassen. Sie waren mir ein Trost. Verächtlich betrachteten sie den rostenden Ducato, wenn ich vorsichtig zwischen ihre herausgeputzten Mercedes rollte, die sie aus dem Reich angeschleppt hatten und mit denen sie in fünf Jahren fünftausend Kilometer fuhren. Ich glitt mit meiner nie gewaschenen Spaghettikiste an den fetten, auf Hochglanz polierten Hintern der deutschen Schrottwagen vorbei, und an der Ecke beim Tabakladen, wo wir uns gewöhnlich verabredeten, hielt ich Ausschau nach meinem Partner. Dort gab es die billigsten Zigaretten in der Stadt, dort deckte er sich ein. Ich fuhr ganz langsam, er lief mit und sprang herein, fiel auf den Sitz, holte Luft und fragte:
     "Hast du getankt?"
     "Halb", erwiderte ich. "Für mehr hat?s nicht gereicht."
     "Das heißt?"
     "Für circa vierhundert Kilometer, knapp die Hälfte." "In Mariafalva ist heute große Kirchweih."
     "Wo?"
     "Etwa hundertfünfzig Kilometer von hier, aber die ganze Veranstaltung fängt erst nachmittags richtig an."
     "Na, ich weiß nicht so recht", sagte ich.
     "Das lohnt sich. Da kommt das ganze Dorf zusammen, wir haben ein paar Ledersachen, Jacken und zwei Jacketts. So was geht immer. Wir können auch ein bißchen Süßkram mitnehmen und in der Slowakei loswerden, das bringt immer noch or- dentlich Gewinn, und auf dem Rückweg laden wir ein bißchen Bier ein, und die Sache kommt hin." Er klopfte sich auf die Taschen seiner Jacke. "Ich hab ein bißchen was zum Ankurbeln."
     Ich fuhr vom Marktplatz hinunter Richtung Brücke. Es war kurz vor zehn. Vor dem Laden an der Ecke standen die Kollegen, die immer dort stehen. Ich sah sie zu jeder Tageszeit. Sogar nachts standen sie da, obwohl der Laden geschlossen war und ringsum keine Menschenseele, die sie mit ein bißchen Klein- geld gerettet hätte. Sie standen zu zweit, zu dritt und reichten sich die Zigarette weiter. Das Delirium trieb sie aus dem Haus, wenn sie überhaupt ein Zuhause hatten, und sie mußten reden, um nicht all die Stimmen zu hören, die sie im Dunkeln zum Bösen überreden wollten. Er winkte ihnen mit der Hand. Dann sagte er, ich solle zum Bahngleis und zu den Baracken fahren, in denen die Großhändler saßen. Dort kaufte er Süßigkeiten, runde gefüllte oder mit Zucker bestreute Kekse, Bonbons und ein gutes Dutzend Tafeln gefüllte Schokolade. In den gleichen Sack legte er zwei Flaschen eisiges Mineralwasser und wickelte alles in Lappen ein.
     "So wird es vielleicht nicht schmelzen", sagte er.
 
Denn es war heiß. Wir hatten die Scheiben heruntergelassen. Der Sommer ging zu Ende. Wir verdienten nichts, aber wir verbrachten unsere Zeit unterwegs, das war allemal besser, als dazusitzen und zu glotzen, wie die Autos zur Tankstelle fuhren. Der Lieferwagen jagte mit letzter Kraft dahin. Ich betete, daß er bis zum Winter durchhalten, daß er erst Ende November zusammenbrechen möge, dann könnte ich ihn verkaufen und bis zum Frühjahr überleben. Wir verdienten gerade so viel, daß es fürs Benzin und einmal in der Woche für ein ruhiges Besäufnis reichte. Aber wir waren in Bewegung. Ich horchte auf die Geräusche des Motors und wartete nur darauf, daß der Bolzen der Pleuelstange bricht, es die Lagerpfanne raushaut, die Zylinderkopfdichtung wegfliegt oder die Kontrollampe für den Öldruck aufleuchtet und nicht mehr ausgeht. Doch es geschah nichts. Nur daß er immer mehr verbrannte und immer mehr rußte. Es sah nach einer langen und kostspieligen Agonie aus.
     Wir kamen an Zlobiska vorbei. Auf dem leeren Marktplatz stand ein großer Geländewagen. Er war so verdreckt, daß ich die Marke nicht erkennen konnte. Um ihn herum wuselten zwei Grünschnäbel in Kleidern wie für einen Film: grünes Drillichzeug mit Dutzenden von Taschen, geschnürte Springerstiefel bis zur Wade, Spiegelbrillen und Hüte wie in Vietnam, im Irak oder sonstwo, jedenfalls sahen sie aus wie Anhänger aktiver Freizeitgestaltung. Und sie fühlten sich wohl in diesem Dreck und waren zufrieden, nur der Mangel an Publikum schien das Vergnügen etwas zu trüben, denn Zlobiska lugte, wie es seine Art war, hinter den Gardinen hervor. Eine Promenadenmischung kam angetrabt und pißte ihnen ans Rad. Soviel sah ich in zehn Sekunden.
 
Nur wir hatten solche Waren. Alle anderen verkauften neue Sachen. Diesen Müll aus China. Auf Plastikfolie lag er direkt auf der Erde. Wind wehte und bestreute alles mit Sand. Gleich hinter dem Dorf begann eine ausgedörrte Ebene. Der chinesische Fake heizte sich in der Sonne auf und stank nach Gummi und Klebstoff. Alles lag in Stapeln von zehn, fünfzehn Stück, und wenn jemand etwas wollte, mußte er sich selbst die richtige Größe suchen. Aber es gab keine Interessenten. Die Händler standen mit auf der Brust verschränkten Armen unbewegt da und sahen aus wie in Gedanken versunkene Indianer. Auf Bügeln schaukelten Jacken. Mein Gott, sie hatten hier immer noch Klappbetten, auf denen sie die Sachen ausbreiteten, die man schlecht auf die Erde legen konnte. Zum Beispiel Pullover und Trainingsanzüge. Aber nur wir hatten diesen ausgesuchten Schrott: Paris - London - New York, nur wir waren die Könige des Plunders. Das Karussell drehte sich. Sie hatten auch Salami und Tokajer, religiöse Literatur in einem windigen Zelt, Süßigkeiten in verglasten Vitrinen auf Fahrradreifen, Hähne aus Lehm und rote Paprikaschnüre, Eis und einen Schießstand, aber nur wir hatten schwarze Lederjacken, in denen noch der Duft von Parfüm für hundert Dollar die Flasche glomm.
     Auf dem Parkplatz steckten Reisebusse im Sand. Die Leute hatten es sich im Schatten bequem gemacht und aßen hartgekochte Eier. Ein Stück weiter standen in langen Reihen Autos, und am Ende, in einer Gruppe für sich, zehn oder fünfzehn alte Dacias. Sie waren so alt, daß nicht auszumachen war, welche Farbe sie ursprünglich gehabt hatten.
     "Maramures", sagte er. "Siehst du die Nummernschilder?" Auf den Schildern standen die Buchstaben SM.
"     Satu Mare, Mensch. Da war ich zweimal. Da gibt?s nichts. Die Stadt ist schlagartig zu Ende, und man muß auf Esel und Hammel achtgeben."
     Was hast du da gemacht?"
     "Nichts. Durchgefahren."
     Wir stellten uns ganz am Ende hin, das heißt eigentlich irgendwo dazwischen. Nicht mehr bei den Ständen, aber auch noch nicht auf freiem Feld, sondern auf dem Parkplatz hinter den armen Verwandten der Firma Renault. Der letzte in der Reihe hatte vorne einen Platten. Wir zogen ein paar Bretter aus dem Auto, legten sie zu einer Art Tisch zusammen, darauf kamen die Kisten mit dem Kleinkram, daneben stellten wir einen Ständer mit fünf Teilen aus feinem schwarzem Leder. Der Wind trug Sand heran, alle rieben sich die Augen. Wir hatten über hundert Kilometer zurückgelegt, um diesen Plunder zu verkaufen. Niemand würdigte uns auch nur eines Blickes. Aus der Ferne erklang der Gesang von Mönchen. Hier trafen sich alle: Katholiken, Unierte, Orthodoxe und Calvinisten. Einmal im Jahr kamen sie, mit dem Auto oder aus den umliegenden Dörfern zu Fuß durch die Felder, oder sie traten die Reise aus den Karpaten und der Großen Ungarischen Tiefebene an. Ih- nen folgten all die Geier mit ihren Ständen - und auch wir.
     Niemand wollte etwas von uns. Wir rauchten Zigaretten, und der Wind riß die winzigen glühenden Papierfetzen fort. Da tauchten sie auf. Sie traten zwischen die Buden und Zelte. Langsam gingen sie über den sandigen Boden und schauten nach beiden Seiten. Zuerst die Männer, dahinter die Frauen. Die Typen waren ganz in Schwarz. Auf der Brust hatten sie silberne Ketten, sie trugen Cowboystiefel mit silbernen Beschlägen und steife schwarze Hüte mit breiten Krempen. Vier Typen und fünf Frauen, dunkelhäutige Gesichter, schwere, schläfrige Lider. Sie schauten sich nicht um, aber sie sahen alles - durch ihre Adern floß zur Hälfte Wachsamkeit, zur Hälfte Blut. Sie gingen wie im Film, in Zeitlupe, als würden sie Kräfte sparen. Auf den Cowboystiefeln lag der Staub der Ebene. Die Lackschuhe der Frauen hatten ihren Glanz völlig verloren und versanken im Sand. Aber diese Frauen, schwarzhaarig, aufrecht und gleichgültig, waren aus einer anderen Welt. Wie in einem wachsamen Traum, so gingen sie.
     Sie kauften alles. Das ganze schwarze Leder. Sie hoben die Sachen hoch, breiteten sie aus, fragten die Frauen, und die nickten. "Zece mii forint prea unu", sagte Wladek, darauf nannten sie ihren Preis, und es wurde laut, denn plötzlich war
die Schläfrigkeit weg, die Zahlen brachten sie in die Wirklichkeit zurück. Die Männer holten Bündel von Geldscheinen hervor, die Frauen kamen näher, befühlten die Ware, verzogen angewidert das Gesicht und schüttelten den Kopf. "Zece mii", "Nu zece mii", "Wieso verdammt nicht zece mii! Die sind doch fast neu, was Besseres habt ihr in eurem Draculand noch nie gesehen! Bei uns ist so was locker douazeci mii wert! Versteht ihr, Brüder und Schwestern?" Er nahm ihnen die schwarzen Lederjacken weg, riß sie ihnen einfach aus den Händen, legte sie auf einen Haufen und gab zu verstehen, daß sie sich verpissen sollten. Sie zogen ab, fuchtelten mit blauen Tausend-Forint-Scheinen herum, legten sie zu Bündeln zusammen, spuckten darauf, glätteten sie, und es sah aus, als würde es gleich eine Schlägerei geben. Sie brüllten sich in zwei oder drei Sprachen an und nannten Summen, die ich nicht mehr verstehen konnte, und schließlich ging ihnen wohl die Luft aus, sie wurden still und wirkten geschafft, als hätten sie sich wirklich geprügelt. Wladek warf das schwarze Lederzeug auf die Bretter, und einer von denen, offensichtlich der Wichtigste, sammelte von den anderen das Geld ein und legte das Bündel neben das Leder. Wladek rechnete blitzschnell um, machte ein resigniertes Gesicht und sagte: "Bine. Wohl bekomm?s, am besten zieht ihr sie nachts gar nicht aus." Er gab dem Wichtigsten die Hand, und die Typen sanken wieder in ihre Schläfrigkeit zurück. Von weitem schauten sie zu uns herüber, unter schweren Lidern hervor, aus einer anderen Welt, und gingen langsam davon.
     Er schüttelte den Kopf, schenkte sich ein Gläschen ein, und wir packten langsam zusammen. Sie hatten uns zweiundvierzigtausend in blauen Banknoten hiergelassen. Wir räumten die Kisten mit dem Kleinkram weg und bauten den Stand ab. Die mit dem chinesischen Ramsch standen da wie angewurzelt.
     Ich schloß die hintere Tür, und wir waren fertig.
     "Früher hätte ich dafür schwarze, glänzende Damenpullis gekauft, mit Goldfaden durchwirkt, und wäre über Zahony und Cop nach Hause gefahren.
     "Durch die Ukraine?"
     "Ja. Das heißt durch die Iwanunion, durch Transkarpatien, mein Gott! Die achtziger Jahre ? Diese Pullis, Mensch ? Man ist extra durch die Käffer gefahren, durch Strumykivki, Dubrynyc, durch Velykyi Bereznyj, durchs Gebirge, durch die Dörfer an der einen und der anderen Grenze, weil es da ruhiger war, weniger Miliz, und nur in U?ok, vor und hinter dem Paß, standen Wachposten, Schlagbäume, und die Grenzschützer von denen schauten sich unser Vaterland von oben an, denn von dort kann man bei gutem Wetter hundert Kilometer weit sehen, die langweilten sich und waren keine solchen Arschlöcher wie die anderen Bullen, die Einsamkeit und die Schönheit der Natur machten da viel aus. Und obwohl man irgendwelche Papiere und eine Erlaubnis brauchte, ließen sie uns durch. Für einen oder zwei von den Pullis, verstehst du? Transkarpatien war damals ganz verrückt danach. Man hat in Rozluc oder so angehalten und mußte die Sachen nicht mal rausholen, zeigen, nichts, es reichte, daß man was durch die Scheibe sah, und schon tauchte eine von den Weibern auf, dann die zweite, ältere, jüngere, und schon stand der ganze weibliche Teil von Rozluc um die Kutsche herum. Das war Ramsch, totaler Schrott, aus Indien oder so, und nach dreimal Waschen konnte man sich damit höchstens noch den Rotz abwischen ... Aber Goldfaden, Goldfaden mitten in der Kolchose ? In Ungarn hat man ganze Säcke davon gekauft, und auf der anderen Seite brachte das den fünffachen, siebenfachen Gewinn. Tja ? Zwei- oder dreimal, ich weiß nicht mehr, und kein Haar wurde uns gekrümmt. Achtundachtzig muß das gewesen sein ?"

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