Vorgeblättert

Lajos Parti Nagy: Meines Helden Platz. Teil 4

03.02.2005.
Später, als in den Nebenstraßen die Sirenen aufheulten, horchten die drei auf der Bank auf, sehr überrascht waren sie aber nicht. Sie zogen nur den Kanister mit dem Wein näher an sich heran, und der eine, der jüngere Mann, fing an, auf etwas zu zeigen, vielleicht auf das Parlament, vielleicht zu den Blinklichtern der Polizeiwagen. Schließlich und endlich blieben alle drei sitzen und steckten sich im Schneefall eine Zigarette an. Es schien, sie unterhielten sich, aber man konnte nicht hören, worüber, obwohl Stille über dem Freiheitsplatz lag. Große Stille und der Rauch der Sophiane- Zigaretten.

Bis zum Nachmittag waren die Augen der zivilisierten Welt auf Ungarn gerichtet, die Fernsehgesellschaften hatten die Häuserdächer belagert, und der Innenminister war mit einem Heer an Begleitern am Ort des Geschehens eingetroffen. Man meldete ihm, daß außer dem Vorkommnis selbst keine außergewöhnlichen Vorkommnisse zu vermelden seien, lediglich ein kleinerer Schaden sei entstanden, als während des Legitimierungsvorgangs ein Personaldokument der Hand der Zielperson entglitt und wegen seines proportional großen Gewichts einen bösen Blechschaden an einem Mitsubishi Pajero verursachte, zum Glück handelte es sich nicht um ein Botschaftsfahrzeug.

Es war der übereinstimmende Wunsch des ungarischen Ministerpräsidenten und des amerikanischen Präsidenten, daß Verhandlungen aufgenommen und die betroffenen Bürger friedlich, jedoch um jeden Preis vom ominösen Ort entfernt würden. Ersteren erreichte die Nachricht in Hajduhadhaz während eines Helikopterstarts, letzteren in Washington, und ihre Verblüffung wurde nur noch von ihrer Umsichtigkeit und ihrer Fähigkeit, den Überblick zu wahren, übertroffen.

Als sich der Korb des Kranwagens in die Höhe hob, konnte man jede einzelne Schneeflocke fallen hören.

"Was in Dreigottes Namen haben Sie denn zu sich genommen, daß Sie so groß geworden sind?" fragte der Oberstleutnant und Psychologe, um erst einmal den richtigen Ton anzuschlagen.

"Na ja, Kekse und Maltesersemmeln."

"Und was noch?"

"Und, na ja, den geschenkten Wein", sagten die Angesprochenen zögerlich.

"Was soll das heißen, geschenkt? Wer hat ihn wem geschenkt und wie?" fragte der Oberstleutnant.

Das könnten sie nicht so genau sagen, trugen die Obdachlosen vor. Im Grunde haben ihn am Morgen vier kleine Bengel vorbeigebracht, Tauben, zumindest so dem Aussehen nach. Sie hatten Adleranoraks an, hübsche Bomberjacken, und weiße Schnürstiefel, aber sie haben sich nicht offensiv geprügelt, sondern gaben ihnen den Wein, unter Brüdern, absolut als Geschenk. Im Kanister zwar und fast bis unten rosarot, aber einwandfrei halbtrocken.

"Und davon sind sie dann angesprungen, was, die Gene?" Der Experte versuchte sich in Ironie. "Gewachsen sind sie. Die bufti Gene, was?"

"Sieht so aus", sagten die Obdachlosen. Was das anbelangt, seien sie keine Experten, sie haben bloß ein wenig am Rose genippt, so lange, bis es auf einmal passiert ist. Sie sind gewachsen. Oder das Land ist geschrumpft. Aber egal, ist eh nur das Delirium, gleich vorbei.

"Na, Ihr Wort in Gottes Gehörgang", sagte der Oberstleutnant. "Können Sie aufstehen?"

"Die Hildi kann", sagten sie, und eine von ihnen, eine Frau im Skianzug, hievte sich reichlich wackelig hoch. Es war ein Moment der Anspannung, im Schutze der Wolken spannte sich auf den Wangen der Scharfschützen die Haut. Sie spannte und entspannte sich. Das mittelalte, beschwipste Geschöpf hickste. Sie war etwa so groß wie das Gebäude der Nationalbank, vielleicht um ein Mnü größer. Sie machte zwei Schritte nach links, zwei nach rechts und sang folgendes Lied:

"Ja, so ein Mädel, ungarisches Mädel, geht mir nicht aus dem Schädel, geht mir nicht aus dem Sinn."

Sie drehte sich ein paarmal vorsichtig im Kreis, winkte mit einem imaginären Taschentuch und ließ sich mit einem Kracher wieder auf die Bank plumpsen. Darüber lachten sie minutenlang, ihre betrunkenen Mäusestimmen piepsten durcheinander in den staubigen, raschelnden Baumkronen. Die Gefährten schlugen Hildi auf die Schulter, drückten ihr ungeschickte Küßchen auf die Mütze. Als Gegenleistung ließ sie den Kanister herumgehen, sie selbst trank auch, schnalzte, nahm schließlich den Kanister in den Schoß und umarmte ihn. Daß der Kanister bleibt, war Bedingung, sonst könne von Verhandlungen und von Sichruhigverhalten keine Rede sein.

Gegen drei Uhr teilte einer der Männer mit, er müsse austreten, und entweder rufe man den Dr. Czeizel her, um ihm die Gene wieder rückgängig zu machen, oder man lasse ihn hinter das Fernsehen gehen, damit er sein Geschäft erledigen könne.

"Das fehlte noch", schnarzten die Zuständigen, die die Ereignisse über Funk verfolgten.

"Wieso nicht gleich auf den Kossuth-Platz", murmelte jemand und schwitzte schon beim bloßen Gedanken.

Der Helikopter des Ministerpräsidenten war gerade gelandet. Letzterer nahm nach einem kurzen, konstruktiven Gespräch Abstand von seinem Plan, Gefahr hin oder her, mit Hilfe eines Kranwagens und eines Helms den großgewachsenen Bürgern die Hand zu schütteln.

Kurz vor Einbruch der Dämmerung teilte die Person namens Hilda dem stellvertretenden Staatssekretär, der die Verhandlungen führte, mit, wenn der Berci jetzt nicht sein kleines Geschäft machen könne, würde sie das sowjetische Kriegsdenkmal packen und zerbrechen. Und geb s Gott nicht, daß sie s anschließend irgend jemandem vor den Latz knallt. Oder rein zufällig über dem TV fallen läßt. Man habe die Wahl.

Sie tranken kontinuierlich, ein wenig bitter vor sich hin, der Inhalt des Kanisters nahm rasant ab, trotz der Risiken mußte gehandelt werden, bevor die Verdächtigen endgültig betrunken wurden. Bis zur Nacht hatte der Krisenstab unter Hinzuziehung amerikanischer Experten einen konkreten Plan ausgearbeitet.

"Muß der Berci sehr nötig?" rief der Oberstleutnant und Psychologe ins Megaphon.

"Sehr", klang die dünne, windverwehte Stimme aus der Höhe.

"Himmelarschundzwirn", sagte der Experte aufmunternd. "Na dann packen wir s jetzt und trotten hübsch artig und kollektiv an einen abgelegenen Ort", setzte er fort und erklärte geduldig, zuerst auf Ungarisch, dann auf Englisch, was zu tun sei. Nach kurzem Zögern und Mißtrauen zeigten sich die Betroffenen schließlich bereit, unter ausreichender polizeilicher Sicherung langsam und in Ruhe, immer hübsch vor die Füße schauend, es jagt uns ja keiner, zum Nepstadion, dem für sie bestimmten Aufenthaltsort, zu spazieren.

"Dort sehen wir dann weiter, Freunde."

Der Sprecher des Innenministeriums sagte in den Frühabendnachrichten, man habe sich im Verlaufe der Aktionskonsultation unter allen optional zu Verfügung stehenden Standorten deswegen für das Objekt 'Volksstadion und angeschlossene Einrichtungen' entschieden, weil dort all jenes Minimum gewährleistbar sei, auf das sowohl die unter Bewachung Stehenden als auch die Ordnungshüter angewiesen seien, erklärte er, im Klartext: Beleuchtung, warmer Tee und Wasserwerfer. Er freue sich, der öffentlichen Meinung des Landes mitteilen zu können, daß alles flott und ohne außerordentliche Vorkommnisse vonstatten gegangen sei, lediglich die weibliche Delinquentin habe sich in Höhe des Ostbahnhofs plötzlich trotzig gestellt, wollte unbedingt nach Hajduszoboszlo reisen, aber nach einem neuerlichen Gespräch habe sie von diesem Plan Abstand genommen.

Sogar auf den hektischen, unterbelichteten Fernsehaufnahmen konnte man sehen, daß die Sensationen des Tages ziemlich erschrocken ob des großen Rummels waren. Stumm trotteten sie im dichten Schneefall über die abgesperrten Straßen, ihre opalfarbenen Tüten und der Kanister wurden ihnen von einem Feuerwehrauto mit Blaulicht hinterhergefahren.

Die Nacht verlief ruhig, man ruhte sich aus. Im Schlaf, wann, das weiß keiner so genau, irgendwann gegen Morgen, schrumpelten sie zusammen, wie eine verlassene Quetschkommode. Der Riesenwuchs ging vorbei, wie er gekommen war, oder das Land war größer geworden, jedenfalls erwachten die Betroffenen nur schwer, streckten die pelzigen Zungen und verstanden nicht, was das Einsatzkommando, die bereiften, stummen Polizeiwagen sollten. Seitdem sitzen sie aneinandergeschmiegt an der Mittellinie und sind nicht größer als jeder andere auch.


Mit freundlicher Genehmigung des Luchterhand Literatur-Verlages

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