Vorgeblättert

Peter Mathews: Harro Harring - Rebell der Freiheit, Leseprobe Teil 2

09.08.2017.
Peter Mathews: Harro Harring. Leseprobe 2: Gründung des jungen Europa

Dem folgenden Abschnitt ging ein militärisches Abenteuer Harrings und Mazzinis in Savoyen voraus, das den beiden gründlich misslang (D.Red.)

Die "Feuerseelen" Mazzini und Harring waren eben keine Soldaten, sondern Wortkrieger. Mazzini wurde von nun an von der Schweizer Polizei gesucht, konnte sich aber verstecken. Er ging über Genf nach Bern und machte sich daran, sich über etwas viel Größeres als den Sturz des Hauses Savoyen Gedanken zu machen. Warum sollte das, was sie in der Schweiz unter den Flüchtlingen erlebten, nicht ein Modell für die Welt oder zumindest für Europa sein? Die Polen kämpften für die Einheit Italiens, die Italiener gegen die Restauration in Deutschland, die Deutschen für die Revolution in Frankreich. Und die Schweizer zeigten doch, dass ein Volk sehr gut ohne Fürsten leben konnte. Die Wasser der Aare schossen wie jeden Tag in einer wilden Schleife um Bern herum. Der Fluss führte viel vom grauen kalten Wasser des Winters von den Gletschern ins Tal. Aber die Luft war zur Freude aller schon warm, und niemand ahnte, dass der Sommer 1834 der heißeste seit Menschengedenken werden sollte. Bern, die Stadt der Handwerker und Händler, schien eine Insel im tobenden Meer - und die Schweiz wie der ruhige Mittelpunkt eines Europas in Aufruhr. Zwar befand sich auch die Eidgenossenschaft in Aufregung, aber es herrschte kein Fürst und kein Despot in den Kantonen, sondern Räthe und Versammlungen bestimmten die Gesetze.

Es war der 15. April 1834, der Tag, an dem in Lyon der König der Franzosen den zweiten Aufstand der Seidenweber endgültig niederschlug und nach einer blutigen Woche über 600 Tote hinterließ. Im großen Rath von Bern zerbrachen sich seit mehreren Wochen Eidgenossen den Kopf, ob die 223 Polen, Italiener und Deutschen, die in der Schweiz Asyl bekommen hatten, mit Gewalt ausgewiesen werden sollte. Noch hatte man sich dagegen entschieden, wollte sich vom Ausland, vor allem von Österreich, nicht vorschreiben lassen, wer in ihrem Land zu Gast war. Doch in der Stille der Gassen der Berner Altstadt herrschte eine nervöse Stimmung unter den Flüchtlingen, denn einerseits wusste man, dass das klägliche Ende des Feldzugs gegen den König von Piemont Folgen haben würde. Andererseits gab es überall in Europa Aufstände und Menschen, die bereit waren, für die Freiheit zu sterben.

"Ihr werdet nicht an einem Tage siegen", hatte ihnen der französische Priester Lamennais zugerufen. Er war der heimliche Prophet der neuen Religion der Freiheit, der die Aufständischen verfallen waren. Und so trafen sich an jenem Dienstag an einem geheimen Ort in Bern 17 Männer, um einen Bund zu schmieden, der nichts weniger wollte, als die Zukunft des modernen Europas zu begründen.

Man wusste, dass überall Spione lauerten, deshalb hatte man ein Erkennungszeichen verabredet, mit dem jeder sich beim Eintreten in den Versammlungsraum zu erkennen geben musste. Der Eintretende legte den Zeigefinger aufs Herz, den anderen auf den geschlossenen Mund - Parole: "Martyrium" - Antwort: "Wiederauferstehung!"

Die Männer kannten sich mit richtigem Namen, führten aber einen Nom de guerre, um es den Spitzeln etwas schwerer zu machen. Sie nannten sich "Strozzi", "Maurer" und "Bogumił". Bogumił war wiederum kein Deckname, sondern schlicht Polnisch, und der Inhaber des Namens hieß mit erstem Vornamen Karol und mit Nachnamen Stolzman. Er war der Sprecher der polnischen Fraktion, die aus Soldaten der "heiligen Schar" bestand. Sie waren nach dem Warschauer Aufstand 1830 und der Niederlage im Kampf gegen die russische Besetzung geflohen. Sieben Italiener, fünf Deutsche und fünf Polen unter der Leitung Mazzinis gründeten die Geheimorganisation "Junges Europa". Die "Verbrüderungsacte" stand unter der Überschrift: "Junges Europa - Freiheit, Gleichheit, Humanität" und begann mit einem Glaubensbekenntnis: "Wir unterzeichneten Männer des Fortschritts und der Freiheit, wir glauben: an die Freiheit und die Verbrüderung der Menschen. An die Gleichheit und Verbrüderung der Völker. Wir glauben: dass die Menschheit die hohe Bestimmung hat, ohne Aufhalt vorwärtszuschreiten zu einer freien und harmonischen Entwicklung ihrer Kräfte und Anlagen und so die Bestimmung zu erfüllen, welche dem Menschen im Universum zu seiner nie stillstehenden Bildung angewiesen ist. (...) Haben wir uns zu freien, unabhängigen Verbindungen constituiert, wir legen mit diesem Acte die Grundsteine zu einem jungen Deutschland, einem jungen Polen und einem jungen Italien; wir haben uns einmüthig verbrüdert. Im Interesse des gesamten Europas, den 15. des Monats April 1934."

In einer Satzung definierten sie den Bund als die Zukunft Europas. Es war die erste Internationale, "eine Verbindung der Unterdrückten aller Länder gegen die Unterdrücker aller Länder". Ein Manifest, das 14 Jahre vor dem "Kommunistischen Manifest" erschien und historisch, wie wir heute wissen, ebenso nachhaltig wirkte wie der die Welt verändernde marxsche Text von 1848. "Der neuen Zeit ist bestimmt, den Sozialismus zu schaffen", schrieb Mazzini, 29 der aber trotz aller sozialistischen Ideen doch nicht nur den Menschen, sondern auch auf Gott vertraute. Die der Satzung vorangestellten Prinzipien lauteten: "Ein einziger Gott; ein einziger Herr, sein Gesetz; ein einziger Interpret dieses Gesetzes, die Menschheit." Das klang doch sehr nach dem französischen Priester Lamennais, der im Jahr 1834 mit seinen "Paroles des croyant" eine Art christliche Befreiungstheologie definierte und damit den Zeitgeist traf.

Diese Versammlung von Italienern, Polen und Deutschen in Bern war - auch wenn sie politisch ihrer Zeit um mindestens hundert Jahre voraus waren und zu ihrer Zeit als Utopisten, wenn nicht Spinner galten - die Saat des vereinten modernen Europas. Die Gründer der Europäischen Union haben die Gründungsakte des "Jungen Europa" bis heute ignoriert. In keinem Dokument, in keiner Beschreibung der politischen Geschichte des Kontinents findet sich ein Hinweis auf die mutigen Demokraten, die für Europa ihre Freiheit riskierten. Vielleicht wirkt dort immer noch Metternichs Furcht vor den Demagogen oder Marx' Denunziation, der Mazzinis für einen "Narren" hielt, nach. Es ist an der Zeit, dies zu korrigieren.

An dem Gründungstreffen nahmen teil: die Polen Franciszek Gordaszewski, Hauptmann der polnischen, später der belgischen Armee; Karol Bogumił Stolzman, Artillerieoffizier, Teilnehmer am Aufstand in Warschau und dem Frankfurter Wachensturm, Leiter der polnischen Emigrantenarmee, später Exil in London; J. K. Dybowski, Teilnehmer am Frankfurter Wachensturm und am Einmarsch nach Savoyen; Feliks Nowosielski, als Offizier leitete er den Sturm auf das Warschauer Arsenal, Teilnehmer am Frankfurter Wachensturm, später mit Harring in London und auf Jersey. Aus Italien: Gaspare Ordono de Rosales, ein lombardischer Adeliger; der Jurist Luigi Amedeo Melegari; die Brüder Agostino und Dr. iur. Giovanni Ruffini sowie der Initiator Giuseppe Mazzini. Aus Deutschland als Sprecher der Militärarzt Dr. August Breidenstein und sein Bruder Friedrich Breidenstein, Teilnehmer am Frankfurter Wachensturm; Franz Joseph Stromeyer, der wegen einer Rede auf dem Hambacher Fest zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war und später in London Konfident des metternichschen Geheimdienstes wurde; Mazzinis Sekretär Dr. Heinrich Nast aus Schwäbisch Gmünd und der Burschenschafter Georg Peters aus Berlin.

Sie formulierten im April 1834 die Grundlegung des modernen Europas. Jede Nationalverbindung sollte einen Abgesandten in das Zentralkomitee entsenden, die Mitglieder sich bewaffnen und einen halben Franc Beitrag zahlen. Sie forderten Gleichheit vor dem Gesetz, Schutz des Eigentums, die Freiheit der Person, des Gewissens sowie Rede-, Presse-, Versammlungs- und Gewerbefreiheit.

Peter Mathews

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