Vorgeblättert

Edith Templeton: Gordon, Teil 3

26.01.2004.
Ich sah ihn ungläubig an. "Das ist ja entsetzlich!", sagte ich.
"Mumpitz", sagte er, "und es hat Ihnen Spaß gemacht, sich das anzuhören."
"Ich will nichts mehr trinken", sagte ich. "Ich habe genug."
"Dann können Sie mir dabei zusehen, wie ich trinke", sagte er.
"Ich will nicht", sagte ich. "Ich will gehen. Ich habe keine Lust, mit Ihnen zusammen zu sein. Ich weiß, dass es nicht sehr nett ist, das zu sagen, aber mir ist überhaupt nicht danach, nett zu Ihnen zu sein."
"Das brauchen Sie auch nicht", sagte er mit einem hintergründigen Lächeln. "Es spielt gar keine Rolle, was Sie sagen."
Während des Sprechens hatte ich mir erstaunt zugehört. Ich hatte noch nie zuvor mit jemandem so geredet; und für meine Unhöflichkeit hatte ich nicht einmal die Entschuldigung, betrunken zu sein.
Ich hatte schon meine Handtasche an mich genommen, bereit, ihn - zweifellos empört - sitzen zu lassen. Als ich jetzt seine Belustigung sah, fühlte ich mich hilflos. Es war mir also doch nicht gelungen, ihn vor den Kopf zu stoßen. Und so beschloss ich zu bleiben und sagte mir, dass ich es meinem Stolz schuldig sei, nicht eher zu gehen, als bis es mir gelungen sein würde, ihn aus der Fassung zu bringen.
Eine Zeit lang schwiegen wir uns an.
Dann sagte er: "Sehen Sie da drüben. Die zwei an der Bar. Neben der Tür."
Die zwei Männer, auf die er deutete, kehrten uns den Rücken zu. Sie waren beide mittleren Alters und beleibt. Sie saßen einander zugewandt und unterhielten sich angeregt, und währenddessen streckte einer von beiden langsam und in aller Ruhe die Hand aus, zog dem anderen den Geldbeutel aus der Manteltasche, hielt ihn sich hinter den Rücken, zog den Inhalt heraus, verstaute ihn in seiner Hosentasche und steckte dann den Geldbeutel ohne jede Eile wieder dahin, wo er hergekommen war - und das alles, ohne den Blick vom Gesicht des anderen zu wenden oder das Gespräch zu unterbrechen. 
"O Gott!", rief ich aus. "So was habe ich ja noch nie gesehen!"
"Nicht?", sagte mein Begleiter.
"Sie müssen hingehen und es ihm sagen", sagte ich. "Das ist schockierend!"
"Überhaupt nicht", sagte er. "Das ist sehr komisch."
Ich sah ihn entgeistert an. Er war sichtlich äußerst amüsiert.
"Jetzt wollen wir gehen", sagte er.
"Oh, gut", sagte ich und stand schnell auf.
"Freuen Sie sich nicht zu früh", sagte er. "Noch lasse ich Sie nicht laufen. Sie finden mich sehr seltsam, nicht wahr?"
"Ja", sagte ich.
Ich war froh, die grünen Plüschstufen hinunterzugehen und wieder auf der Straße zu stehen, im vollen klaren Tageslicht und dem blassen Sonnenschein.
"Jetzt werde ich Ihnen meinen Garten zeigen", sagte er. "Zufällig wohne ich in einem Haus mit einem sehr hübschen Garten. Ich weiß, dass er Ihnen gefallen wird." Und dann fügte er, wieder mit seiner salbungsvoll deklamierenden Stimme, hinzu: "Etwas saubere Luft nach diesem Pfuhl der Verkommenheit!"
Ich lachte, um mein Unbehagen zu überspielen. Der Garten des Hauses, in dem er wohnte? Erst der Garten und dann das Haus und dann sein Zimmer und dann sein Bett. Aber das ist lächerlich, dachte ich. Er ist kein Major Carter.
Als habe er meine Gedanken erraten, fügte er hinzu: "Wir werden uns allerdings ein wenig beeilen müssen. Später werde ich zum Essen erwartet."
"Das ist mir ganz recht", sagte ich hastig. "Ich möchte auch früh nach Haus."
Wir gingen in Richtung Park Lane, und meine letzten Bedenken verflogen, als wir an einer Bushaltestelle stehen blieben. Wenn er kein Taxi nahm, dachte ich bei mir, konnte ihm nicht allzu viel an mir liegen - ihm ging?s nur darum, die Zeit bis zum Abendessen irgendwie totzuschlagen.
Im Bus setzte er sich neben mich, ohne mich zu berühren. Wir schwiegen während der ganzen Fahrt. Ich schaute dabei aus dem Fenster, und er beobachtete mich.
Wir stiegen in South Kensington aus, und nach einem kurzen Fußweg erreichten wir ein hohes graues gusseisernes Tor, dessen einer Flügel angelehnt stand, und traten in einen Garten, der mich hellauf entzückte.
Er war alt und altmodisch, verfallen und staubig, mit kreisrunden Blumenbeeten, die exakt in die Mitte jedes Rasenstücks gesetzt und mit weiß getünchten Bruchsteinen eingefasst waren. Die geschwungenen Wege waren dürftig bekiest, die Blumen welk, die Sträucher zerzaust, die hohen Bäume mit jämmerlich schütterem Laub bekrönt; selbst das Unkraut, das an den Rändern der Wege spross, sah matt aus.
Die tief stehende Sonne war hinter einer kleinen Wolkenbank versteckt. Die Luft war schwer und regungslos. Der Himmel hatte sich zugezogen. 
"Er ist schön", sagte ich. "Hell und gepflegt wäre er schauderhaft. Diese Art von Garten braucht einfach eine gewisse nostalgische Verwahrlosung."
"Ich wusste, dass er Ihnen gefallen würde", sagte er.
Wir schlugen einen der Wege ein und gingen langsam nebeneinanderher. Er sah mich nicht an, er redete, und ich hörte nicht zu. Er wirkte langweilig und gewöhnlich, und ich fing auch schon an, mich zu langweilen, und konnte nicht begreifen, wie er es noch vor weniger als einer halben Stunde geschafft haben mochte, mich zu Unhöflichkeit und Wut zu reizen.
Die nächsten paar Schritte lang versuchte ich, mich auf seine Worte zu konzentrieren. Es ging irgendwie darum, dass er einmal während des Krieges zu einer Offiziers-Auswahlkommission gehört hatte. Er blieb stehen und wendete sich zu mir hin, und auch ich blieb stehen und sah ihn an. "Er hat wirklich seltsame Augen", dachte ich.
Er sagte gerade: "Es war die reinste Farce. Es gab einfach nicht mehr genügend geeignetes Offiziersmaterial. Die Befragungen wurden -" Er warf mich nicht hin, und er stieß mich nicht um. Er fasste mich um die Taille und an die Schultern und bog mich zurück. Ich hatte eine schreckliche Angst zu fallen, aber als ich eine kalte steinerne Oberfläche unter mir spürte, verscheuchte die überraschende Begegnung mit dem Stein meine Angst. Er legte mich hin; eine harte Kante schnitt mir in die Kniekehlen, während meine Füße noch immer den Boden berührten, und sobald ich vollkommen ausgestreckt war, war er in mir. Das Ganze hatte vielleicht vier Sekunden in Anspruch genommen. Es geschah rasch und beiläufig und mühelos und wirkte gleichzeitig schier unmöglich, wie jede virtuose Leistung. Und natürlich hätte das niemand eine Vergewaltigung nennen können; es fand kein Kampf und keine Gewaltanwendung statt, keine Bedrohung und keine Überwindung eines Widerstands. Ich war weder einverstanden noch abgeneigt. Ich war überhaupt nichts. Man hatte mir nicht die Wahl gelassen, eines von beiden zu sein. Als wir stehen geblieben waren, hatte ich nicht einmal gemerkt, dass hinter mir eine Steinbank war, und er hatte mitten im Satz aufgehört zu sprechen.
So hingestreckt auf der kalten harten Oberfläche fühlte ich mich vollkommen hilflos. Ich hatte mich in meinem ganzen Leben noch nicht so hilflos gefühlt.

Mit freundlicher Genehmigung des Claassen-Verlages

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