Vorgeblättert

Don und Petie Kladstrup: Wein und Krieg, Teil 3

Zum Beispiel Jean-Michel Cazes, Eigentümer von Chateau Lynch-Bages und Chateau Pichon Longueville Baron im Bordelais. Durch ihn erfuhren wir, daß der Krieg nicht nur auf den Schlachtfeldern, sondern gelegentlich sogar schon auf den Kinderspielplätzen tobte. Im Herbst 1940, so der damals achtjährige Cazes, wollten nach den Sommerferien alle "Deutsche" spielen. "Die Deutschen kamen uns damals alle so stark und klug vor", erinnerte er sich. Zwei Jahre später, als die Besatzung auch im Alltagsleben der Franzosen deutliche Spuren hinterlassen hatte, änderte sich das. "Spätestens damals wollten alle in den Untergrund, sich der Resistance anschließen und gegen die Deutschen kämpfen. Das war so viel romantischer." Und schließlich, als der Druck der Besatzungsarmee immer stärker wurde, wich die Romantik dem Realismus. "Wir beobachteten die Deutschen immer beim Marschieren, und da kamen sie uns nicht mehr nur einfach stark, sondern richtig furchteinflößend vor." Und je mehr sich das Kriegsglück gegen die Deutschen wendete, veränderten sich auch die Spiele der Kinder auf der Straße: "Irgendwann wollten wir dann alle nur noch Amerikaner sein", erinnerte sich Cazes. Am Ende des Krieges hatten sich alle völlig umorientiert: Überall spielte man nun "Cowboy und Indianer". 
Viele unserer Gesprächspartner stammten aus Familien mit langer Weinbautradition. Sie verstanden nicht nur viel vom Wein, sondern hatten auch einen oder sogar zwei Kriege miterlebt. Sie wußten also, was Überleben heißt. Für die Rothschilds von Chateau Lafite-Rothschild im Bordelais bedeutete dies, das Land zu verlassen, bevor die Deutschen ihren Besitz beschlagnahmten. Für Henri Jayer aus Vosne-Romanee im Burgund hieß es, Wein gegen Lebensmittel zu tauschen, um seine Familie zu ernähren. Für Prinz Philippe Poniatowski aus Vouvray bedeutete es, seine besten Weine auf seinem Hof zu vergraben, um nach dem Krieg damit wieder sein Geschäft aufnehmen zu können. 
Zum Überleben waren jedoch nicht immer Verzweiflungstaten notwendig; manchmal hatten Menschen auch einfach Glück. So wurde Rene Couly aus Chinon durch eine Reifenpanne gerettet. "Mein Vater war gerade als Lastwagenfahrer eingezogen worden, denn das konnte er", erzählte uns sein Sohn. "Er folgte mit dem LKW seiner Kompanie, als ihn plötzlich eine Reifenpanne zum Stehen brachte. Er mußte den Reifen reparieren, während der Rest seiner Einheit in einen Hinterhalt geriet. Alle wurden gefangengenommen - außer ihm. Anschließend wendete mein Vater kurzerhand und fuhr zurück zu seinem Hof." 
Obwohl wir die meisten Informationen unseren Gesprächspartnern verdanken, kam es gelegentlich doch auch vor, daß der Wein selbst uns etwas "erzählte". So sprach der 1940er La Tache, den wir mit Robert Drouhin verkosteten, einem der renommiertesten Winzer und Weinhändler Burgunds, Bände über die Schwierigkeiten, die in jenem Kriegsjahr überwunden werden mußten, um einen guten Wein herzustellen. So waren 1940 die meisten Burgunderreben von Mehltau befallen, weil die Deutschen alle Metalle für ihre Kriegsmaschinerie konfisziert hatten, darunter auch Kupfer. Damit gab es für die Winzer aber auch kein Kupfersulfat, das als Mittel gegen Pilzerkrankungen der Reben eingesetzt wurde. Doch die Reben von La Tache auf dem Weingut der Romanee-Conti hatten die Seuche damals überlebt, und der Wein war ein passender Höhepunkt unseres wundervollen Essens mit Drouhin. Zu dem Wein notierten wir später: "Schöne Farbe, würziges Bouquet, ein wenig verblaßt, aber immer noch elegant und charmant." 
Eine Flasche, die wir bei einer weiteren Gelegenheit zusammen mit Drouhin leerten, erzählte eine ganz andere Geschichte. Es war ein Weißwein, ein 1940er Clos des Mouches, ein sehr seltener Tropfen und einer der ersten weißen Clos de Mouches, den Roberts Vater je hergestellt hatte. Leider war der Wein ungenießbar geworden. Er war bräunlich und völlig maderisiert. "Der ist nicht mehr gut", meinte Madame Françoise Drouhin, runzelte leicht die Stirn und stellte ihr Glas ab. "Interessant", meinte dagegen ihr Gatte. Und er hatte recht. Wir konnten die Probleme praktisch schmecken, die die Drouhins bei der Herstellung dieses Weins gehabt haben mußten. Wir rochen eine Spur Pilz und hatten einen Hauch des Todes in der Nase. 
Und noch etwas fiel uns auf: Die Flasche, in die der Wein abgefüllt war, war blaßblau anstatt des sonst üblichen Grünbraun, einer Farbe, die die Burgunder als feuilles mortes, also als "tote Blätter" oder "Herbstlaub" bezeichnen. "Dieser Wein könnte 1942 abgefüllt worden sein", überlegte Monsieur Drouhin, "als jeder die alten Flaschen wiederverwenden mußte oder alles nehmen mußte, was es gerade gab. Daher auch die ungewöhnlichen Glasfarben." 
Doch wohin auch immer wir kamen, mit wem wir auch sprachen, eines wurde immer wieder betont, das Eine war unüberhörbar: wie wichtig Wein für Frankreich ist. Wein ist nicht nur einfach ein Getränk oder eine Handelsware, die man aus einer Flasche serviert. Wein ist viel mehr. Wie die französische Flagge, die Trikolore, bewegt der Wein Herz und Seele des Landes. "Der Wein läßt uns stolz auf unsere Vergangenheit sein", meinte ein Regierungsvertreter, "er macht uns Mut und Hoffnung". Wie sonst auch könnte man erklären, warum die vignerons, die Winzer der Champagne, sich 1915 noch an die Lese machten, obwohl bereits die ersten Granatsplitter die Weinberge durchpflügten. Oder warum König Karl VII. nach der Eroberung Burgunds 1477 als ersten Herrschaftsakt die gesamten Weinbestände von Volnay für sich selbst beschlagnahmen ließ. Oder warum ein Priester in einem kleinen Champagnedorf noch vor nicht allzu langer Zeit seinen Schäfchen predigte: "Unser Champagner ist nicht nur dazu da, um damit Geld zu verdienen. Er soll die Menschen auch froh machen." 
Vielleicht hat der französische Wein auch etwas Spirituelles. "Unser Wein reift langsam und edel; er trägt die Hoffnung auf ein langes Leben in sich", erklärte mir ein Winzer. "Wir wissen, daß unser Land vor uns da war und auch noch da sein wird, wenn wir längst nicht mehr sind. Mit unserem Wein haben wir Kriege überstanden, die Revolution und die Reblaus. Jede Lese erfüllt aufs neue die Versprechen des Frühlings. Wir leben in einem ständigen Kreislauf. Das gibt uns einen Hauch von Ewigkeit." 
Vor einiger Zeit gab die französische Regierung eine Studie in Auftrag um herauszufinden, was die Franzosen zu dem macht, was sie sind, oder genauer, wie es einer der Forscher ausdrückte, "die Grundlagen des französischen Geschichtsbewußtseins und der historischen Identität zu ergründen". Am Ende der Untersuchung stand ein Bericht in sieben Bänden. Unter anderem waren die Franzosen befragt worden, was sie selbst an sich als "typisch französisch" empfanden. Auf den Plätzen eins bis drei der Antworten gab es wenig Überraschungen: Hier wurde genannt, in Frankreich geboren zu sein, die Freiheit verteidigen zu wollen sowie die französische Sprache. Doch gleich danach auf Platz vier kam - der Wein: insbesondere das Wissen um "guten" Wein und die Fähigkeit, einen solchen zu schätzen zu wissen. Für die Forscher freilich handelte es sich hierbei nicht um eine Überraschung. Sie kamen zu dem Schluß: "Wein ist ein Teil unserer Geschichte. Er ist das, was uns als Franzosen ausmacht."(8)
Im Jahre 1932, ein Jahr vor der Machtergreifung Hitlers in Deutschland, hielt Hubert de Mirepoix, Präsident der französischen Winzervereinigung, auf der Jahrestagung der Organisation eine Rede darüber, "wie Wein zur französischen Rasse beigetragen hat, indem er ihr Fröhlichkeit und guten Geschmack gegeben hat, Qualitäten, die sie zutiefst unterscheidet von Leuten, die eine Menge Bier trinken".(9)
Obwohl dieses Buch von Wein und Krieg handelt, ist es eigentlich kein Weinbuch, aber auch kein Buch über den Krieg. Es handelt von Menschen, Leuten, die Witz, Fröhlichkeit und guten Geschmack versprühen, und deren Liebe zur Rebe und Hingabe an einen Lebensweg ihnen beim Überleben half und bei ihrem Triumph über eines der dunkelsten und schwierigsten Kapitel der französischen Geschichte.

Mit freundlicher Genehmigung des Klett-Cotta Verlages

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