Vorgeblättert

Alia Mamduch: Die Leidenschaft. Teil 1

10.09.2004.
1
Die Vororte des Zorns

Liebe Buthaina,

"Vergessen wir nie, dass die Zukunft das Wichtigste ist, nicht die Vergangenheit." Man muss Dinge finden, zu denen man gehört, ein Refugium, wo man sich geborgen fühlt. Jetzt zum Beispiel, während ich hier warte, um Herrn Mussaab, meinen noch rechtmässigen Ehemann, und seine vierte Gattin, Frau Widad, zu empfangen.
Natürlich handelt es sich weder um ihre Hochzeitsreise noch um die Flitterwochen. Sie besuchen England bereits zum zweitenmal, das erste Mal war nach dem Krieg. Wir sind Freunde geworden. Ich müsste lügen, wenn ich behauptete, diese Situation wäre uns unangenehm. Von allen Entscheidungen, die wir, ich meine, jeder einzelne für sich allein, an seinem Platz, zu treffen hatte, war es so am besten. Du siehst doch, wie frei wir mit Ort und Zeit umgehen. Und was die Schmerzen betrifft - wir bedürfen ihrer. Sie helfen uns bei der Anpassung ans Dasein, an das Universum, die Welt und andere Menschen.
Ob diese Frau für ihn die Richtige ist? Wie ist sie? Oder vielmehr, wer ist sie? Ich weiss gar nichts, meine liebe Freundin.
Ich schreibe Dir vom Flughafen Heathrow. Das habe ich mir auf dem Weg hierher vorgenommen, um nicht den Verstand zu verlieren, um nicht verrückt oder krank zu werden.
Vorher dachte ich gar nicht an so etwas. Plötzlich sagte ich mir: Buthaina! Es war wirklich wie eine Eingebung. Meinst Du nicht auch, dass am Ende nur ein paar kostbare, seltene Gespräche bleiben? Besonders Selbstgespräche, in denen man vor sich hin grübelt: Was kann mir dieser Mann schon bedeuten? Er ist nichts weiter als eine flüchtige Episode in meinem Leben. Buthaina hingegen ist seit den sechziger Jahren meine Freundin. Was für eine lange Zeit! Wir müssen jetzt nicht all die Jahre Revue passieren lassen. Ich schreibe Dir, als nähme ich ein Stück Stoff zur Hand, um es grob mit der Elle auszumessen. Der einsame Weg, der noch vor mir liegt, wird sehr viel kürzer sein als eine Elle.
Wenn ich mich heute an unsere Streitereien erinnere, scheinen sie mir fast wichtiger als unsere Leidenschaft. Letztlich waren sie das einzige, was uns spontan miteinander verband. Wir brauchten keine lange Übung. Höchstwahrscheinlich waren sie die einzige uns mögliche Form von Liebe.
Sogar die Hündin Biki bot täglichen Zündstoff für eine Konfrontation, denn ich vergass nie, ihr Futter zu kochen, während ich sein Essen anbrennen liess. Darüber hat er sich öfter bei meinen Bekannten und Freundinnen beschwert. Dass unsere Beziehung trotzdem weiterbestand, war weder ein Missverständnis noch die Perversion des Schreckens, der zwischen uns herrschte. Nein, meine Liebe. Wir konnten einfach nicht ohne einander auskommen, und sei es nur wegen der Skandale, die wir auslösten. Nicht immer hatte er welche im Sinn, aber irgendwann spürte man plötzlich, dass es wieder in ihm rumorte. Offensichtlich lagen sie ihm, die Skandale. Anstatt ihn herabzusetzen, verliehen sie ihm Grösse, und am Ende bestätigten sie sogar seinen guten Ruf. O ja, sie waren genau das, was ihn so richtig zufrieden stimmte. Dann konnte er sich zurückziehen und hemmungslos in sein lautes, gellendes Lachen ausbrechen. Ach, Buthaina! Mussaab war so begabt für zweideutige, bisweilen sogar vulgär anmutende Gesten. Einmal hatte er eine seiner jungen Verehrerinnen zu uns nach Hause eingeladen. Mit der rechten Hand klingelte sie, in der linken hielt sie ein Dossier. Er mochte sie nicht empfangen, mürrisch und ärgerlich, wie er sich gerade fühlte. Mit einem Stoss schubste er mich ihr entgegen, obwohl ich im Hauskleid war und mit verzerrtem Gesicht auf ein gutes Wort wartete, das niemals ausgesprochen wurde. Ach, ich wartete und wartete. Dies war mein Zuhause, meine Türschwelle! In meinem angestammten Bereich stand ich ihr gegenüber und wusste nicht, wen ich mehr verurteilen sollte, diese Kleine, die mir meinen Mann im Vorübergehen, ja, in meiner Wohnung, streitig machte, oder Mussaab, der erbarmungslos und verschlagen im Hintergrund lauerte. In solchen Augenblicken konnte mich jedes Wort in unheilbare Verzweiflung stürzen. Wem sollte ich mich zuwenden - ihm oder ihr, meinem eigenen Körper oder dem meines Mannes, dieser Kreatur, die uns hinter der Scheibe mit leisem Kichern beobachtete, bevor sie ein schadenfrohes Gelächter anstimmte? Schliesslich drängte er sich zwischen uns und überschüttete mich und dieses junge Mädchen, dessen Namen ich noch nicht kannte, mit einem Schwall sinnloser Worte. Wir plauderten miteinander, als sei sie gekommen, um die ausstehende Miete zu zahlen. Nach ihrem Verhalten zu urteilen, hätte man das jedenfalls meinen können. Es war klar, dass sie nichts von seinen Plänen ahnte.
Gesund und reizend stand sie vor mir und nestelte an sich herum. Ich musste mich an die Wand stützen, um nicht umzufallen. Sie fasste nach meinem Arm. "Geht?s wieder?" Ja doch, ja. Mit grossen Augen betrachtete ich dieses Mädchen, unsere Hände streckten sich aus, wir berührten einander und lächelten schwach. Aber leider würde ich die Kleine schliesslich doch provozieren müssen. Ich würde ihr den Herrn Mussaab ausspannen. Ich brauchte mich nur taub und stumm zu stellen, ja, so wäre es am besten. An einem normalen Wochentag passierte es, vor den Nachbarn. Ich bat sie nicht herein, sie bestand darauf. "Ich muss ihn sofort sehen, es ist wichtig."
"Er ist aber nicht hier."
"O doch! Da steht ja sein Wagen. Sie lügen."

Teil 2