Vorworte

Leseprobe zu Tess Gunty: Der Kaninchenstall

Über Bücher, die kommen.
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Pearl

Am Morgen des Mittwochs, des siebzehnten Juli, fünfzehn Stunden, bevor sie ihren Körper verlässt, geht Blandine zu Fuß von La Lapinière zum Valley. Sie konnte in der Nacht nicht schlafen. Jetzt bricht der Tag an, um sie herum erwacht die Stadt zum Leben, und auf dem Weg erinnert sich Blandine an einen Artikel über eine Frau namens Pearl, den sie kürzlich gelesen hat. Pearls Organe befanden sich spiegelverkehrt auf der anderen Seite des Körpers, nur ihr Herz war am richtigen Fleck. Situs inversus mit Lävokardie - eine Diagnose, die Pearl nie erhielt. Niemand entdeckte die besondere Beschaffenheit ihrer Anatomie, bis eine Gruppe von Medizinstudentinnen und -studenten Pearls Leiche öffnete, um ihre Brusthöhle zu studieren. Weil sie Schwierigkeiten hatten, ein wichtiges Blutgefäß zu orten, kamen sie dem Rätsel ihres biologischen Designs auf die Spur.

Eins von 22.000 Babys kommt mit dieser anatomischen Besonderheit zur Welt. Davon lebt eins von fünfzig Millionen bis ins Erwachsenenalter. Pearl war nach einem relativ gesunden Leben im Alter von neunundneunzig Jahren gestorben. Altersschwäche, hieß es in dem Artikel. Sie war Inhaberin einer Tierhandlung. Sie hatte drei erwachsene Kinder und fünf Enkel. Auf einem Porträt von Pearl aus den Fünfzigerjahren ist ihr Gesicht symmetrisch, die Wangen rosa, von einer Wolke kastanienbrauner Locken umrahmt, mit einem freundlichen Lächeln und einer botanischen Smaragdbrosche am Kragen. Alles an ihr täuschte über die Wahrheit ihres Körpers hinweg, eines Körpers, der das Spektakel, die Störung, die Unmöglichkeit seiner Existenz vor der Welt verbarg. Sogar vor seiner Besitzerin.

Auf dem Weg zum Park kommt Blandine durch das südliche Ende der Innenstadt von Vacca Vale, wo sich geschlossene Läden und verbarrikadierte Häuser aneinanderreihen. Die Geschäfte, die noch laufen, sind eine Sports-Bar, die Filiale einer Fast-Food-Kette, ein Solarium, ein Secondhandladen, ein Schnapsladen, eine marode Kirche und ein Vape-Shop. Ein mit Blech verkleideter Laden zwischen zwei leeren Grundstücken ist mit Sperrholz zugenagelt. Die Tür ist verrostet. Das gemauerte Fundament mit Ranken zugewachsen. Auf dem Schild steht: LIL DADDY'S FASHION & ACCESSORIES. Handgemalt mit zarten Buchstaben und Rosen. Ein Stück weiter ist noch ein frei stehender Laden, mit buttergelb gestrichener Fassade, der auf die Straße zu kippen scheint. Keine Fenster, keine Tür. Auf dem leeren Parkplatz dahinter nur ein Kinderwagen. WENN SIE EIN BETT SUCHEN ----- RUFEN SIE JEDERZEIT AN, steht auf dem Brett an der Ladenfront, aber die Telefonnummer ist von einem gelben Streifen verdeckt. Über der Kreuzung wacht eine riesige Informationstafel mit austauschbaren schwarzen Buchstaben, die von den Zeilen baumeln wie Menschen, die an einer Klippe hängen. Viele Buchstaben fehlen bereits. Jetzt steht da: S.  T  A  A  E              O          P           R             N          @     ALL    C        S  T. Gegenüber kommt Blandine an der katholischen Hedwigskirche vorbei. Ein neogotisches Wunderwerk aus Naturstein und Backstein, das fünfzig polnische und deutsche Familien im neunzehnten Jahrhundert erbaut haben. Nach dem Vorbild einer französischen Basilika flankieren zwei Türme eine Fensterrose. Aus jeder Turmspitze ragt ein goldenes Kreuz, und die Fenster sehen aus wie mit Zuckerguss verziert. Insgesamt sieht die Kirche aus wie eine riesige Lebkuchenkonstruktion. Über der Rosette steht mit ausgebreiteten Armen eine Statue der heiligen Hedwig, der ersten weiblichen Herrscherin Polens. Ein ausgedruckter Zettel in Papyrus-Schrift hängt an der Tür: Willkommen, Geflüchtete, Gefangene, Prostituierte und Verstoßene. Willkommen, Kranke, Menschen mit Behinderungen, Menschen ohne Wohnung. Frische Tomaten. Kühle Betten. Diese Woche Brot Brot Brot.

Vögel zwitschern rebellisch in ihrem industriellen Lebensraum. Ein paar frühe Pendler fahren schläfrig durch die Straßen. Es ist noch zu früh für den Geruch nach Auto, also dankt Blandine der Luft für ihre unverschmutzte Pracht, inhaliert den Duft von Sommergras und frischem Regen. Ein lavendelblauer Himmel leuchtet auf, zeigt träge in die Zukunft. Auf ihrem Spaziergang durch die warme Morgenbrise stellt sie sich vor, jemand würde ihr den Artikel über Pearl mailen. Jemand würde schreiben: Hat mich an dich erinnert. In ihrer Fantasie kennt die Person Blandine besser als sie sich selbst, und Blandine nimmt die Nachricht durch die Haut auf wie ein Gedicht, das auf seine Wahrheit beharrt, bevor es seine Bedeutung preisgibt. Es ist keine normale Fantasie, das ist ihr klar. Aber wer will noch "normal" sein? Wer denkt noch so?

Blandine hat den Verdacht, wenn Medizinstudenten ihren Körper öffnen würden, fänden sie darin ein Miniatur-Vacca-Vale. Keine Organe. Ein Netz aus Highways, Einwegversuche menschlichen Aufstiegs, ein geplünderter Ort, der trotz seiner Nichtexistenz-Haltung existiert.

Ihr Inneres würde vom Vacca Vale River geteilt, der sich in ihr nach oben windet, bis er aus ihrem Kopf in den Lake Michigan fließt. Er ist 340 Kilometer lang. Tritt jedes Jahr stärker über die Ufer. In Vacca Vale gibt es viele Brücken über den Fluss, die das urbane Gewebe zusammenflicken, den Fluss zum Gleichmacher machen: Egal wer du bist, egal was du hast oder wo du wohnst, du lebst nahe am Fluss. Erstaunlicherweise - unglaublicherweise - hat eine örtliche Fischaktivistengruppe in der Nähe des Gerichts eine Lachstreppe durchgesetzt. Sie zählen und identifizieren die Fische, die jedes Jahr hier vorbeiwandern, dokumentieren ihre schrumpfenden Zahlen. Jeden Herbst stehen die Ergebnisse in der Vacca Vale Gazette.

Entlang des Flussufers im Norden der Innenstadt steht ein historisches Viertel. Villen an minzbewachsenen Hängen in verschiedenen Stadien der Pracht und des Verfalls, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts mit Zorn-Geld erbaut. Ein paar sind inzwischen Museen. Eine ist ein Bed and Breakfast. Eine gehört - oder gehörte - Blandines Theatergruppenlehrer, einem Mann, an den sie nicht zu denken versucht. Eine Zeitlang war er alles. Wenn sie es nicht schafft, die Gedanken an ihn zu verdrängen, kneift sie sich in den Schenkel, bis ihre Nägel rote Klammern in der Haut hinterlassen.

Westlich der Villen sind noch ein paar trübe Geschäfte verteilt: das Vacca-Vale-Kino, eine Ladenzeile, das Wooden-Lady-Motel und das Zorn-Museum. Die Straßen im Zentrum sind ringförmig um ein paar öffentliche Gebäude angelegt, die inzwischen bröckeln wie alte Torten. Dem Gericht gegenüber ist Ampersand, das Café, in dem Blandine seit zwei Jahren arbeitet. Nach dem Frauenhaus führt die Straße zu einer Reihe von alten Mietskasernen, die im Jahr 1919 für die unterbezahlten Fabrikarbeiter errichtet wurden. Manche waren nur vorübergehend da und lebten allein. Manche teilten sich die Wohnung mit anderen Arbeitern. Wieder andere lebten mit ihren Familien dort. Die Wohnungen zeichnen sich durch einen Mangel an Fenstern und Stauraum aus, kleine Zimmer, schlechte Rohrleitungen, nachträglich eingebaute Elektrik und Heizung. Ein Drittel der Anlage wurde zum La Lapinière Affordable Housing Complex umgebaut, Blandine kennt das Gebäude also gut.

Im Norden der alten Villen erstreckt sich auf beiden Seiten des Vacca Vale River intensiv bewirtschaftetes Farmland, von Westen nach Osten. Mais und Sojabohnen, in übertriebenem, unbegreiflichem Maßstab. Im Sommer verwandeln sie sich in einen Anschlag chemischen Grüns und breiten sich Hunderte von Kilometern aus wie kultische Oden an die Geometrie. Eine strotzende Patina, die verzweifelt eine staubige Zukunft verbirgt und besiegelt. Dürre. Lebloser Boden, den keine Maschine, keine Chemie, kein Unternehmen und kein Mensch defibrillieren kann. Diese Zukunft materialisiert sich bereits, und wo heute sonst nichts mehr sprießen kann, sprießen Vororte. Bauunternehmen stürzen sich auf die Gelegenheit, versprechen Sicherheit, künstliche Rückhaltebecken, Gated Communities. Ein Überfluss an Beige. Zwei konkurrierende Mega-Kirchen. Jetzt können die Bewohner der Vororte ihre Kleidung in einer Erlebnis-Shoppingmall kaufen, ihre Lebensmittel in nach importiertem Kurkuma und frischer Farbe riechenden Supermärkten. Immer wieder stolpern Rehe in Vorgärten, hungrig, verwirrt. Trinken von den Rasensprengern.

Von diesem brutalen Schicksal einhundert Jahre lang verschont liegt im Süden der Innenstadt der beste Teil von Vacca Vale: Chastity Valley. Das Valley ist über zweihundert Hektar groß und hat die Form eines Pfeils, der nach Osten zeigt. Der Landschaftspark wurde während der Grippe von 1918 angelegt, um für die aufstrebende Stadt einen sicheren Erholungsort in Pandemiezeiten bereitzustellen. Von üppiger Vegetation gesäumt mäandert das Gelände zwischen gepflegten öffentlichen Wiesen und ungestörtem Gesträuch. Im Westen liegt ein kleiner See, der inzwischen an Algenblüte erstickt ist. Ein Bootshaus grüßt am Ufer und lenkt die Fußgängerin auf einen Pfad, der über den Festplatz führt, vorbei an den Grillplätzen, dem Flieder-Gedenkhain, den von Unkraut überwucherten Fußball- und Baseballfeldern, über eine friedliche Lichtung um einen ovalen Brunnen, an einem unheimlichen Karussell vorbei, bis der Weg die Fußgängerin schließlich auf die größte Wiese des Parks entlässt - das eigentliche Valley. Es ist natürlich kein echtes Tal, denn es gibt keine echten Berge, aber der Schöpfer des Parks war der Meinung, die schönsten Wörter der Natur sollten allen Menschen in allen Regionen gehören. Der Mittlere Westen, fand er, musste nicht so flach klingen wie seine Topografie. Auf der großen Wiese wird die Fußgängerin Picknickdecken und Babys sehen, Frisbees und Streit, Wein und Gelächter. Zunehmend: Drohnen. Zunehmend: ihre mörderische Wut darauf.

Aus:  Tess Gunty "Der Kaninchenstall", © 2023, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Titel der Originalausgabe: The Rabbit Hutch © 2022 by Tess Gunty
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