Reinhard Jirgl

Genealogie des Tötens

Trilogie: Klitaemnestra Hermafrodit & 'Mamma Pappa Tsombi'. MER - Insel der Ordnung. Kaffer, Nachrichten aus dem zerstörten=Leben
Cover: Genealogie des Tötens
Carl Hanser Verlag, München 2002
ISBN 9783446201712
Paperback, 835 Seiten, 50,00 EUR

Klappentext

Reinhard Jirgls Trilogie aus dem Untergrund der letzten Jahre der Deutschen Demokratischen Republik.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 14.11.2002

Helmut Böttiger begrüßt es nachdrücklich, dass nun das Typoskript von Jirgls Roman-Trilogie aus den achtziger Jahren auch in erschwinglicher Taschenbuchform vorliegt. Da Jirgl in der DDR als undruckbar galt und erst 1995 einer breiteren Leserschaft zugänglich wurde, sei es um so erfreulicher, dass nun auch die literarischen Voraussetzungen Jirgls mit diesen Bänden nachvollziehbar seien, so der Rezensent zustimmend. Er weist darauf hin, dass der Autor durchaus schwierig ist und jede Menge "Barrikaden" in Form von eigenwilliger Orthographie und Syntax zwischen seine Texte und die Leser stellt. Böttiger charakterisiert die Trilogie als "unbändige Materialsammlung", die alle gängigen Genregrenzen sprengt, indem sie Sprechtexte mit Prosa abwechseln lässt. Im Druckbild erscheinen mitunter simultane Stimmen, womit die Bände auch optisch von üblichen linearen Texten abweichen, beschreibt der Rezensent seine Leseeindrücke. Als das einigende Band, das diese disparaten Texte zu einer Trilogie zusammenbindet, macht Böttiger, wie schon im Titel angezeigt, das "Töten als Konsequenz" aus, das der Autor sowohl in familiären wie in gesellschaftlichen Zusammenhängen diagnostiziert. Er preist die Texte als "radikalste Tabula rasa" der DDR-Literatur und betont, dass die "Sprengkraft" dieser Texte bis heute ungebrochen ist.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 19.09.2002

Sie ist noch da, eine "anspruchsvolle, experimentelle" und "kompromisslose" Literatur, ist Martin Luchsinger erleichert. Die Werke des gelernten Elektroingenieurs Reinhard Jirgl zählt der Rezensent "ohne Zweifel" zu dieser Kategorie. Seine Trilogie "Genealogie des Tötens", die Jirgl in den achtziger Jahren in der DDR verfasst hat, ist bisher unveröffentlicht geblieben. Der Rezensent lobt daher den Hanser Verlag, dass er dieses "voluminöse Konvolut" nun verlegt, allerdings, wundert sich Luchsinger, in einer auf 300 Exemplare limitierten und "unhandlichen" Auflage - als ob sich der Verlag nicht sicher sei, ob eine Veröffentlichung "richtig" sei, mutmaßt der Rezensent. Sowohl Inhalt, als auch Form und Stil dieser Trilogie seien für den Leser etwas gewöhnungsbedürftig, warnt Luchsinger. Denn Jirgls Werk sei "vieslschichtig" und "vielgestaltig" und erinnere manchmal an Arno Schmidt, findet der Rezensent, auch wenn der Autor eine Nähe zu Schmidt immer von sich gewiesen habe. Trotzdem aber lohne sich der Aufwand, sich auf die abseitigen Pfade des Autors zu begeben und sich auf seine "Suggestivität" einzulassen. Der Inhalt, folgt man den Ausführugen des Rezensenten, verlangt dem Leser allerdings starke Nerven ab. In Teil eins wird vergewaltigt und ein Elternmord begangen, in Teil zwei verwandelt die DDR-Regierung Hiddensee in eine Art Konzentrationslager und in Teil drei schließlich vegetiert ein "verstörter alter Mann" in einer leeren Wohnung in Ostberlin vor sich hin und artikuliert seine Unzufriedenheit über die Verhältnisse in obszönen Schreianfällen, berichtet Luchsinger

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 18.06.2002

Dieses Buch, liebe Leser, werden Sie wahrscheinlich kaum lesen, weiß Burkhard Müller. Zum einen, weil es zunehmend unverdaulich wird, so dass nur der tapfere Rezensent sich bis zum Ende durchgekaut hat, und zum anderen, weil es in einer einmaligen, auf 300 Exemplaren beschränkten Auflage erscheint und in einer Aufmachung als Typoskript, die den Rezensenten in unschöner Weise an eine akademische Qualifikationsschrift der achtziger Jahre erinnert. In Teil 1 und 2 wechselten Prosa und die dramatische Form ab, erklärt der Rezensent, allerdings traue der Autor dem Theater nicht allzu viel zu, da er einem potenziellen Regisseur "kleinteilige Vorschriften" mache und die prosaischen Einsprengsel bald überwögen. Als Gewährsleute Jirgls führt der Kritiker Heiner Müller (die antiken Stoffe), Gottfried Benn (die Wortkaskaden und die Schnoddrigkeit) und Arno Schmidt (die zwanghaft sexualisierende Sprache) an, dennoch dürfe man ihn nicht als Epigonen abtun, behauptet Müller. Ihm imponiert, dass Jirgl unbeirrt von der DDR-Zensur und den Regeln des westlichen Literaturmarkts an seiner negativen Weltsicht festhält: rücksichtslos den Lesern gegenüber, aber so intensiv und hartnäckig in der Sache, dass dies bei Jirgl bald den "Rang eines Stilprinzips, ja einer literarischer Qualität" erreicht, so Müller.
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 20.04.2002

Rezensent Roman Bucheli zeigt sich von Reinhard Jirgls ebenso schwierigem wie eindringlichem Roman "Genealogie des Tötens" tief beeindruckt. Die zwischen 1985 und 1990 entstandene Trilogie, die Jirgl in der DDR nicht veröffentlichen konnte, erzählt nach Auskunft des Rezensenten vom alltäglichen Elend in der DDR, "das den Menschen unter den Bedingungen des real existierenden Sozialismus das Gesicht zur Fratze entstellte." Die großformatige, sperrige Typoskript-Ausgabe der "Genealogie" zeigt nach Ansicht des Rezensenten den Werkstattcharakter des Textes. Bucheli hebt hervor, dass die "Genealogie" ein nur "unter größter Anstrengung" zu lesendes Werk ist, das dem Leser nicht nur wegen seiner "widerständigen Syntax" hohen intellektuellen Einsatz abverlangt. Zentrales Thema ist laut Bucheli die private wie gesellschaftliche und politische Gewalt in der DDR, die Jirgl ungeschminkt und drastisch zur Sprache zu bringt. Insbesondere das Mittelstück "MER- Insel der Ordnung" kündet nach Ansicht des Rezensenten vom "Kollaps alles Humanen". Bucheli sieht in Jirgls "Genealogie" insgesamt einen "Totentanz", den der Autor dem Leser für die Dauer eines quälend langen Augenblicks vorführe, ehe die Landschaft wieder von der Finsternis geschluckt werde. "Das Niemandsland hat sich dann nicht verwandelt", resümiert Bucheli, "das Bewusstsein davon indes sehr wohl."
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